Heute in den Feuilletons

Herzlos, sinnlos und ohne Trost

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2011. Die SZ stürzt mit Schostakowitsch in Zürich in eine grelle Depression - und ist begeistert. Welt und taz begrüßen Leander Haußmanns Rückkehr ans Theater. In der FR gibt Rafik Schami nicht mehr viel auf Syriens Despoten Bashar al-Assad. Die FAZ hält fest, dass Erwin Rommel ein Günstling und Emporkömmling der Nazis, kein Mann des Widerstands war. Und die NZZ trauert um die bröckelnde Schönheit Rügens

FR/Berliner, 19.09.2011

Der in Deutschland lebende und aus Syrien stammende Schriftsteller Rafik Schami hat im Gespräch mit Martina Doering eine klare Antwort auf die Frage, ob Präsident Bashar al-Assad eine politische Überlebenschance hat: "Nein, er ist völlig gescheitert. Niemals werden die Menschen einen Mörder als Präsident akzeptieren. Er hat seine Chance gehabt, aber er war zu feige, die Konsequenz zu ziehen. Er hat lieber gelogen, um Zeit zu schinden. Nein, ich werde - hoffentlich bald - zurückfahren und die Orte meiner Kindheit wiedersehen ..."

Weitere Artikel: In einer Times Mager empfiehlt Sebastian Moll mit Christopher Hitchens, mit Niedergangsszenarien für Amerika mal halblang zu machen. Peter Uehling schreibt zum Tod des Dirigenten Kurt Sanderling

Besprochen werden Enrico Lübbes Inszenierung der Schillerschen "Räuber" und Christoph Mehlers Version von Franz Molnars "Liliom" zur Eröffung der Frankfurter Schauspielsaison (Peter Michalzik sieht beide Male einen fatalen Trend zur "Schauspielführerversion"), Leander Haußmanns "Rosmersholm"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne (Ulrich Seidler diagnostiziert beim Regisseur "frühe Erschlaffung und Vergreisung") und Annett Gröschners Roman "Walpurgistag".

TAZ, 19.09.2011

Von Schwerelosigkeit weit entfernt war für Simone Kaempf das Theatercomeback Leander Haußmanns an der Volksbühne mit Ibsens "Rosmersholm": "Das schwergewichtig Dunkle umgeht Haußmanns Regie, aber Leichtigkeit schafft sie auch nicht. So bleibt die massive Holztreppe im Hintergrund auf der Drehbühne das abgründigste Element. Die schweren Stufen winden sich zentralperspektivisch nach oben ins Nichts. Und am Ende steigt das verkappte Paar Rebekka und Rosmer Hand in Hand nach oben, vielleicht in den Tod, vielleicht in die Ehe."

Weitere Artikel: Von einem Berliner Treffen der sonst auf dem Internetmarktplatz für Handgemachtes namens Etsy virtuell Versammelten berichtet Jan Scheper. Steffen Grimberg rekapituliert ziemlich ermüdet die erste volle Talkshowwoche in der ARD und wünscht sich dabei eher nach Russland, wo es noch richtig zur Sache geht: "Auf NTV hatte der Ex-KGB-Agent und Unternehmer Alexander Lebedew, dem unter anderem in London der Independent und der Evening Standard gehörten, einem anderen Finanzmagnaten in einem Polittalk zur Finanzkrise mal eben derart die Fresse poliert, dass gleich noch ein dritter Studiogast aus dem Sessel kippte.

Besprochen werden die Ausstellung "Cloud Cities" des Leichter-als-Luft-Utopisten Tomas Saraceno im Hamburger Bahnhof in Berlin und Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe".

Und Tom.

Welt, 19.09.2011

Matthias Heine begrüßt die Rückkehr Leander Haußmanns, der "Ein-Personen-Boygroup für 35-Jährige", ans Theater, allein die Wahl von Ibsens "Rosmersholm" findet heine etwas unglücklich: "Haussmann serviert es mit all der Liebe zum schönen alten Theater, zu der dieser Romantiker fähig ist. Aber man schmeckt den Staub."

Weiteres: Durchaus blamabel findet Stefan Koldehoff, dass sich das Sprengel-Museum in Hannover einen gefälschten Campendonk hat andrehen lassen, ohne dessen Provenienz auch nur ansatzweise zu prüfen. Matthias Kamann war beim Kirchen-Kultur-Kongress. Klaus Geitel schreibt den Nachruf auf den Dirigenten Kurt Sanderling. Besprochen werden das Album "A Whole Love" der Indieband Wilco und Benjamin Brittens Oper "The Turn of the Screw" in einer Inszenierung von Robert Carsen in Wien.

Weitere Medien, 19.09.2011

The Big Picture wirft einen Blick nach Nordkorea, das sich offenbar für den chinesischen Tourismus empfehlen will.
Stichwörter: Nordkorea, Tourismus

NZZ, 19.09.2011

Joachim Güntner hat die Insel Rügen besucht, deren Steilküste die Ostsee langsam verschlingt. Das steigert nicht nur die Nervosität der Anwohner und die Bemühungen des Küstenschutzes, sondern auch den ästhetischen Reiz der imposanten Kreidefelsen: "Die Abbrüche der Kreidefelsen sind unaufhaltsam. Den Verlust mag man beklagen. Ohne die Rutschungen jedoch wäre die Küste nicht so weiß, so steil und so bizarr - mit einem Wort: längst nicht so schön."

Weitere Artikel: Die Heidelberger Freiheitsforscherin Ulrike Ackermann fürchtet den staatlichen Paternalismus, der von oben nach unten regiert, anstatt auf die Eigeninitiative seiner Bürger zu vertrauen: "Individuen machen Geschichte, auch gerade mit ihrem Nonkonformismus gegenüber der sozialen Tyrannei. Uniformität und Gleichheit bedeuten hingegen Stillstand der historischen Entwicklung."

In einem Nachruf würdigt Georg-Friedrich Kühn, den im Alter von 99 Jahren verstorbenen Dirigenten Kurt Sanderling.

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Schostakowitschs "Nase", nach der Alfred Zimmerlin das Opernhaus Zürich "beglückt und bereichert" verlassen hat, sowie Werner Schwabs in Zürich aufgeführtes Stück "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos".

SZ, 19.09.2011

Mit großer Begeisterung hat Reinhard Brembeck Ingo Metzmachers und Peter Steins Inszenierung von Schostakowitschs "grell depressiver" Oper "Die Nase" in Zürich angesehen: "Kalt ist diese Welt, herzlos, sinnlos und ohne Trost. In Metzmachers frappant klarer Darstellung erscheint die 'Nase' radikaler als Alban Bergs mit Soziallarmoyanz grundierter 'Wozzeck', als Arnold Schönbergs religionsphilosophisch überhöhter 'Moses', als die linksdogmatischen Stücke Luigi Nonos. Denn Schostakowitsch hält der Groteske der Welt stand, er gießt in keinem Moment den Trost von Religion, Humanismus oder Ideologie darüber. Das ist tollkühn. Kein Komponist hat je eine derart traurig schaurige Weltsicht geliefert, und auch Schostakowitsch selbst konnte später nie wieder an diesen Meisterstreich anknüpfen. "

Gemeinsam mit Yael Armanet-Chernobroda hat sich Katrin Steinberger auf dem Filmfest in München den Dokumentarfilm "Nach der Stille" (mehr) angesehen, in dem die Israelin u.a. die Mutter des Selbstmordattentäters, der Armanet-Chernobrodas Ehemann 2002 ermordet hat, in Jenin besucht: "Sie weiß, dass eine Welle über sie hereinbrechen kann, wenn der Film im Oktober das erste Mal in Israel gezeigt wird. Es wird Kritik geben, vielleicht Hass. Aber sie weiß, dass es gut ist. Der Film ist ihr Leben."

Weiteres: Franziska Augstein berichtet vom Kongress zum Geburtstag des Historikers Ulrich Herbert. Hans-Peter Künisch räsoniert über mögliche Gründe für das mangelnde Publikumsinteresse am gerade zu Ende gegangenen Berliner Literaturfestival. Florian Kessler berichtet vom Geburtstagsfest der Berliner Literaturwerkstatt. Anlässlich der Kontroversen um die anstehende Bundestagsrede des Papstes wirft Stephan Speicher einen detaillierten Blick in die Geschichte des Kulturkampfs. Helmut Mauro hat den Nachruf auf den Dirigenten Kurt Sanderling verfasst.
 
Besprochen werden Leander Haußmanns "Rosmersholm"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne, Ingo Metzmachers und Peter Steins Inszenierung von Schostakowitschs "Die Nase" am Opernhaus Zürich, neue DVD-Veröffentlichungen, eine Ausstellung mit Bildern von Albert Sisley im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum sowie Bücher, darunter Bruno Latours Essay "Jubilieren" über die religiöse Rede (mehr in unserer aktuellen Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 19.09.2011

Frank Schirrmacher hat die aktuelle Fassung des Drehbuchs zum geplanten SWR-Fernsehfilm über Erwin Rommel durchgeschaut. Die Vorbehalte der Nachkommen, die darin ihren Vater als Günstling und Emporkömmling dargestellt sehen, kann er nicht teilen: "Was immer Rommel in seinem Herzen trug, keine seiner Handlungen macht ihn zum Protagonisten des Widerstands und man sollte ihn auch nachträglich nicht dazu stilisieren."

Weiteres: Den Saisonauftakt im Schauspiel Frankfurt hat Gerhard Stadelmaier einerseits ("Die Räuber", inszeniert von Enrico Lübbe) durchlitten, andererseits ("Liliom", inszeniert von Christoph Mehler) durchschmunzelt. "Mitunter unerwartet spaßige Momente, die aus der Trübnis des zähen Abends hervorleuchteten", erlebte Irene Bazinger bei Leander Haußmanns Inszenierung von Ibsens "Rosmersholm" an der Berliner Volksbühne. In der "Klarer Denken"-Kolumne rehabilitiert Rolf Dobelli den übel beleumundeten Schutzmechanismus "Verdrängung". Nicht unamüsiert kommt Thomas Strobl von der Hamburger Lesung des nun auch in Literatur machenden Deutschrockers Heinz Rudolf Kunze nach Hause: "Durchgehend bissig, streckenweise tiefsinnig und an einigen Stellen sogar humorvoll" (bisweilen aber auch "fäkalisch"). Jürg Altwegg glossiert das spurlose Verschwinden und anschließende Auftauchen des Michel Houellebecq in den letzten Tagen. Sandra Kegel ist recht angetan von der neuen ZDF-Literatursendung "Das Blaue Sofa" und plädiert glatt für mehr Sendetermine und längere Dauer (hier die komplette Sendung online). Jürg Altwegg berichtet vom Protest französischer Architekten, die angesichts knapper werdender Budgets den Unterhalt der Denkmäler im Land in Gefahr sehen. Wolfgang Sander hat den Nachruf auf den Dirigenten Kurt Sanderling verfasst.

Besprochen werden "Krieg und Frieden" an der Oper Köln und Bücher, darunter "Philosophie für Verdorbene", eine Essaysammlung über Pornografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).