Heute in den Feuilletons

Du bist nicht die einzige Crackhure im Laden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2011. In der FR  intoniert Baby Dee ihre Lieblingsliturgien. In der Zeit kann  Daniel Richter mit den Inneneinrichtungstendenzen der Malerei gut leben. In der Jüdischen Allgemeinen warnt Gary Shteyngart: Für das moderne Nomadentum braucht es Humor. Im Freitag erinnert Lukas Bärfuss die Ökonomen an das zweite Gesetz der Thermodynamik. Die Welt stößt auf verzerrte Geschichtsbilder in deutschen Schulbüchern. Und die FAZ berichtet vom Tod des Bloggers, Carta-Gründers und Perlentaucher-Autors Robin Meyer Lucht.

FR/Berliner, 22.09.2011

Jens Balzer unterhält sich mit der transsexuellen Musikerin Baby Dee über das Transsexuelle, das Berghain und auch den Papst, dem sie den Besuch eines ihrer Konzerte nur dringend empfehlen kann: "Wenn er zu meinem Konzert kommt, könnte er meine Lieblingsliturgien kennenlernen: 'Die Liturgie vom Sichselber-annehmen (Du bist nicht die einzige Crackhure im Laden)'; 'Die Liturgie von Gottes Großem Plan (Er wird deinen dicken Hintern in der Hölle rösten)'; und die beliebteste katholische Hymne aller Zeiten: 'Du sollst in Gottes Haus nicht pinkeln (außer wenn Du wirklich ganz dringend musst)'."

Judith von Sternburg besucht die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt und geht dabei auch einem alten Vorurteil nach: "Geht es auf der IAA 2011 eigentlich sexistisch zu? Nicht, wenn man Frauen für Pflänzchen hält, die oben auf einem Stängel stecken, wo sie - ab der schlanken Taille abwärts eine weiße Kugel - anmutig, wenngleich blöde herumwippen."

Weiteres: In einer "Times Mager" geht es mit Kant und fast ohne den Papst um die "unsterbliche Seele". Besprochen werden ein Reunion-Konzert der Ska-Band The Specials in Berlin, eine Ausstellung zu 30 Jahren "Kunst im Strafvollzug" in der JVA Butzbach, neu anlaufende Filme, nämlich Tim Fehlbaums Endzeitfilm "Hell" (mehr), John Michael McDonaghs Komödie "The Guard" (mehr) und Woo Ming Jins Menschenhandelsdrama "The Tiger Factory" (mehr).

Welt, 22.09.2011

Gideo Böss entdeckt in den Unterrichtsmaterialien der großen Schulbuchverlage ein recht verzerrtes Bild des Nahostkonflikts. Zum Beispiel in dem Buch "Horizonte 12" von Westermann: "Wie jedes andere Schulbuch auch, musste es eine mehrmonatige Prüfung durch Verlag, Ministerium, Lektoren und Gutachter durchstehen. Ohne Beanstandung blieb dabei, dass die Palästinenser systematisch als Opfer dargestellt werden. Sie greifen nie aus taktischen Gründen zum Terror, sondern immer 'unter Druck' oder wenn sie ihre Sache als 'verraten und perspektivlos erkannten'... Berechnend ist hingegen der 'jüdische Terror', der mit 'gezielten Aktionen' für die Flucht vieler Araber sorgte. Juden begehen ihre Massaker kühl kalkulierend, Araber aus der Not heraus."

Zur Begrüßung des Papstes wird ein Text von Martin Luther abgedruckt: "Dies ist allererst die allerärgste Grundsuppe aller Teufel in der Hölle, dass der Papst solche Gewalt dahin ausdehnt, dass er Macht haben will, Gesetze und Artikel des Glaubens aufzustellen, die Schrift (welche er nie gelernt, nicht kann, auch nicht wissen will) nach seinem tollen Sinn zu deuten."

Weiteres: Wolf Lepenies versucht sich in der Randglosse einen Reim darauf zu machen, dass die von unerquicklichen Skandalen gebeutelte Regierung Sarkozy an den französischen Schulen wieder den Moralunterricht einführen will. Hanns-Georg Rodek interviewt in der Hotelhalle die große Helen Mirren, die gerade den Actionfilm für sich entdeckt. Besprochen werden Tim Fehlbaums Thriller "Hell" und die Ausstellung "Wunder" in den Hamburger Deichtorhallen.

Freitag, 22.09.2011

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss entdeckt für sich den vergessenen rumänischen Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen, der schon in den 70er auf die unhaltbaren und völlig realitätsfernen Modelle seiner Kollegen hinwies: "Etwa wenn sie erzählen, dass sich aus einem Rohstoff, Getreide, ein Produkt herstellen lasse, Brot, das man verkaufen könne, wodurch man Geld erhalte, mit dem man wiederum Getreide kaufen könne, um Brot herzustellen. Die meisten wirtschaftlichen Konzepte funktionieren wie dieser Kreislauf: der Konjunkturzyklus etwa oder die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Bruttoinlandsprodukt. Doch es gibt keinen Kreislauf. Das Perpetuum mobile ist physikalisch unmöglich. Diese äußerst unangenehme Tatsache folgt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik."
Stichwörter: Bärfuss, Lukas, Geld, 1970er

Weitere Medien, 22.09.2011

Im Interview mit Fabian Wolff plaudert Schriftsteller Gary Shteyngart in der Jüdischen Allgemeinen über rechte Russen in den USA, seinen Glauben an Tschechow, Turgenjew, Tolstoi und sein Judentum: "Die Kultur ist einfach faszinierend. Von Chagall bis 'Curb Your Enthusiasm', das ist einfach einmalig. Ich habe das Gefühl, dass die Welt langsam aufholt. Dieses moderne Nomadendasein, hier einen Dollar verdienen und da einen Euro, das haben wir irgendwie erfunden. Und jetzt merken die anderen, wie das ist. Ich frage mich nur, ob sie jetzt auch diesen Humor entwickeln, den man dafür braucht."

TAZ, 22.09.2011

Für Jenni Zylka ein großes Ereignis: Die Ska-Band The Specials, deren legendäre letzte Deutschlandtour sie Anfang der Achtziger nur aus der Ferne erlebte, ist wieder auf Tour. Alles war ziemlich großartig beim Berliner Konzert und die schlechte Laune von Frontmann Terry Hall schien auch richtig echt: "Dabei klang seine charakteristische Stimme wie früher, trotz beginnender britischer Hängebäckchen und trotz Kettenrauchen, einem seiner wenigen verbliebenen Laster: 'Ich trinke seit zehn Jahren keinen Alkohol mehr', hatte er vorher dem Deutschlandfunk erzählt und über seine Antidepressionsmedikation gesprochen, die angeblich hervorragend funktioniert. Vielleicht hatte er einfach eine Tablette vergessen?"

Weitere Artikel: Philipp Goll liest die aktuellen Ausgaben der Zeitschriften testcard und Arch+. Im zweiten Teil von Rene Hamanns Islandbücher-Kolumne geht es um einen "Bankster" als Antihelden.

Besprochen werden eine durch Deutschland ziehende Werkschau des kanadischen Films mit dem Titel "Maple Movies", Tim Fehlbaums Katastrophenfilm "Hell" und der von Udo Kittelmann und Thomas Demand herausgegebene Band "Nationalgalerie. How German Is It?".

Und Tom.

NZZ, 22.09.2011

Geri Krebs attestiert dem neuen Leiter des Filmfestivals San Sebastian, Jose Luis Rebordinos, ein solides Programm. Philipp Meier hat im Rietberg Museum in Zürich eine Ausstellung über Mystik in den Weltreligionen besucht. Das vor kurzem wiedereröffnete Basler Museum der Kulturen hat sich Axel Christoph Gampp angesehen, Christine Wolter hat das Philosophiefestvial im italienischen Modena besucht.

Besprochen werden außerdem John Maddens Film "The Debt" (mehr) sowie Mario Vargas Llosas neuer Roman "Der Traum des Kelten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages um 14 Uhr).

SZ, 22.09.2011

Der schwedische Journalist Leo Lagercrantz, Ex-Redakteur von Expressen und Mitbegründer des Online-Debattenmagazins Newsmill (mehr), berichtet von seinem Leid mit der mühseligen Moderation hartnäckiger Artikel-Kommentatoren, die man inhaltlich im "Politically Incorrect"-Milieu verorten kann (er spricht unentwegt von "Trollen", mit der üblichen Definition sind seine Beschreibungen indes schlicht nicht vereinbar). Detailliert stellt Jens Bisky die deutsch-polnische Ausstellung "Tür an Tür" im Berliner Martin-Gropius-Bau vor. Am Roten Teppich von Filmfestival in San Sebastian erliegt Rainer Gansera mit Haut und Haar Glenn Close. Susan Vahabzadeh unterhält sich mit Helen Mirren, die ab heute im Film "Eine offene Rechnung" (mehr) zu sehen ist.

Besprochen werden eine neue CD des New Orleanser Jazz-Posaunisten Trombone Shorty, zwei Kleist-Adaptionen am Schauspielhaus Hannover, die Filme "Hell" (mehr) und "The Guard" (mehr), sowie Bücher, darunter Joachim Scholtysecks "Der Aufstieg der Quandts" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 22.09.2011

Auf der Medienseite schreibt Christoph Kappes den Nachruf auf den Carta-Gründer und auch Perlentaucher-Autor Robin Meyer-Lucht, der vor wenigen Tagen überraschend gestorben ist: "Carta sah man den Meister an: Intellektuell und aufgeweckt waren viele Texte, manche von frischem Nachrichtenwert, lebhaft bis streitlustig waren die Debatten - und manchmal auch ein bisschen sperrig, fast unzugänglich, doch stets getragen vom sympathischen Grundton des Herausgebers."

Mit kritischem Blick ins Wahlprogramm der Berliner Piraten macht sich Stefan Schulz Gedanken über den homo democraticus, den die Partei darin impliziere und der sich geradezu enthusiastisch ins demokratische Engagement stürze. "Wünschenswert und ebenso unrealistisch" findet Schulz das, "denn das alltägliche Auseinandersetzen mit Politik ist keine Bereicherung, sondern eine Belastung, wenn nicht Belästigung des gemeinen Bürgers."

Weitere Artikel: Timo John hat sich eine neue Stadtbibliothek in Stuttgart angesehen. Begeistert bespricht Renate Klett "Dancing with Dada", das in Johannesburg aufgeführte neue Stück von William Kentridge. Patrick Bahners rekapitualiert eine Diskussion in Berlin zwischen Peter Steinbrück und dem Historiker Heinrich August Winkler über die Geschichte des Westens und der Rolle Deutschlands darin. Antonia Schöning hat sich das 4. Fotofestival Mannheim Ludwigshafen Heidelberg angesehen. Dietmar Dath schreibt detailliert über Methode und Probleme des aktuellen Mossad-Agenten-Nazi-Film "Eine offene Rechnung" (mehr). Rüdiger Suchsland berichtet vom Filmfestival in San Sebastian, wo ihm vor allem die Lebendigkeit der Noir-Tradition im lateinamerikanischen Genrekino aufgefallen ist. Manfred Lindinger hat den Nachruf auf den Physiker Rudolf Mößbauer verfasst.

Besprochen werden die Ausstellung "Ich liebe Dich!" im Literaturmuseum Marbach, das Abschlusskonzert des Musikfests Berlin, der Film "Nach der Stille" (mehr), eine neue CD mit Chansons von Charles Aznavour, und Bücher, darunter Michael Buselmeiers Roman "Wunsiedel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 22.09.2011

Hanno Rauterberg unterhält sich mit dem Maler Daniel Richter über bornierte Tabus im Kunstbetrieb, die neohöfische Gesellschaft und Inneneinrichtungstendenzen der Malerei. Interessanter als jede Politkunst findet Richter das Malerische, selbst beim "Flaschenmaler" Giorgio Morandi: "Mich begeistert schon diese Form von malerischer Rhetorik, der Umgang mit der Farbe, am Ende also der Reiz des Sehens. Eines weiß ich jedenfalls: Das Motiv ist für mich zweitrangig. Vielleicht bin ich ja in Wahrheit ein bescheidener Mensch, auch wenn mir diese Vorstellung etwas fremd vorkommt. Aber es reicht mir, wenn ich mich nicht langweile und mich ein Bild nicht für dumm verkauft. Denn das tun die meisten Künstler: Sie langweilen mich, und sie verkaufen mich für dumm. Sie interessieren sich viel weniger für die Wahl der Mittel als für das, was ihre Kunst vermeintlich bebildert. Und natürlich für Katalogessays, wo dann von Agamben bis Zizek alles aufgeboten wird, was Eindruck schinden könnte."

Weiteres: Adam Soboczynski besucht Alexander Kluge in München und gerät in einen vorhersehbar unvorhersehbaren Gedankenstrom, der von der Finanzkrise über die Antike zur globalen Großkatastrophe führt: "Lebten wir nicht in Wahrheit im Jahr 1912?" Ijoma Mangold berichtet von neuen juristischen Querelen zwischen den Gesellschaftern des Suhrkamp Verlags. Den Geist von 68er spürt Maximilian Probst um das große Berliner Piratenschiff wehen. Friedrich von Borries besucht das Kreativzentrum von Adidas im fränkischen Herzogenaurach.

Besprochen werden die erste Staffel der, wie Georg Seeßlen versichert, jedes Kino übertreffenden Zombie-Serie "The Walking Dead" auf DVD, das Album "Metals" der Songwriterin Leslie Feist und Bücher, darunter Angelika Klüssendorfs Roman "Das Mädchen"und das Handbuch der politischen Ikonografie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Politikteil berichtet Roberto Saviano vom Wiedererstarken der Camorra in den USA. Im Wirtschaftsteil sprechen die BMW-Erben Stefan und Gabriele Quandt über die Nazi-Vergangenheit ihrer Familie.