Heute in den Feuilletons

Eine gute Theorie ist eine schöne Theorie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2011. Wolfgang Michal benennt in seinem Blog nach der Enttarnung eines "Bundestrojaners" durch den Chaos Computer Club das "Dilemma der Hackerbewegung". Auch die FAZ berichtet groß über den Bundestrojaner. Im Tagesspiegel streiten Kathrin Passig und Andreas Rötzer über Für und Wider des Ebooks. In der FR zieht Amitai Etzioni ein deprimiertes Fazit aus der Finanzkrise. In der Jungle World erklärt Laura Meritt, warum sie einen feministischen Pornopreis ins Leben rief. 

NZZ, 10.10.2011

In einem sehr schönen Text erklärt Peter Glaser noch einmal die ganze Genialität des Steve Jobs, der Apple zu einer "planetaren Weltverwandlungsmaschine" machte und den Siegeszug des Computers einläutete setzte, als dieser für genauso kurios und überflüssig gehalten wurde wie Slime: "Es muss einen Moment der Kühnheit gegeben haben, in dem ein Mann zu einem anderen etwas sagte wie: 'Lass uns ekliges Zeug in kleinen Abfalleimern verkaufen und damit reich werden.' Ähnlich müssen zwei junge Männer im kalifornischen Los Altos sich eines Tages etwas gesagt haben wie: 'Lass uns allen Menschen kleine Maschinen verkaufen, mit denen man feindliche Funksprüche entschlüsseln, Geschossflugbahnen berechnen und Verwaltungsvorgänge automatisieren kann.'"

Weiteres: Joachim Güntner stellt eine Online-Datenbank vor, die Videofilme vom Schulunterricht in der DDR versammelt. Michael Baumgartner berichtet vom amerikanische Tanglewood Festival.

Aus den Blogs, 10.10.2011

Nach der Identifizierung eines "Bundestrojaners" durch den Chaos Computer Clubs benennt Wolfgang Michal in seinem Blog das "Dilemma der Hackerbewegung": "Sie weist Konzerne, Organisationen und staatliche Behörden auf Sicherheitslücken, schlampig programmierte Software, Manipulations- und Missbrauchsmöglichkeiten hin, kann letztlich aber nicht kontrollieren, ob ihre sachdienlichen Hinweise dazu benutzt werden, Manipulation und Missbrauch abzustellen, oder dazu, Manipulation und Missbrauch zu perfektionieren." Weitere Stimmen zum "Bundestrojaner" finden sich gesammelt auf gulli, bei wortfeld finden wir eine erste Visualisierung der Vorgehensweise der Software (via).

FR/Berliner, 10.10.2011

Der Kommunitarist Amitai Etzioni zieht im Interview mit Michael Hesse ein deprimiertes Fazit aus der Finanzkrise: "Keiner hat mehr Spaß am Kapitalismus, ausgenommen China."

Außerdem: Robert Kaltenbrunner fragt sich, wieso die Stadtplanung ausgerechnet heute keine Rolle spielt, da urbane Zentren immer bedeutender werden. Peter Iden gratuliert der Kunsthalle Tübingen zum achtzigjährigen Bestehen.

Weitere Medien, 10.10.2011

(Via Wadinet) Am 15. Oktober tritt Rüdiger Safranski in der Stiftung Schloss Neuhardenberg in den Dialog der Kulturen mit dem iranischen Botschafter. Es soll um Goethe und Hafiz gehen, aber vielleicht mag Safranski auch andere kulturelle Eigenheiten des Irans würdigen. Saeed Kamali Dehghan erzählt im Guardian, dass der Oppositionelle Peyman Aref, der wegen Beleidigung Achmadinedschads ein Jahr im Gefängnis saß, zur Vervollständigung seiner Strafe jetzt noch mit 74 Peitschenhieben bedacht wurde: "A masked prison guard carried out the lashing in presence of Aref's wife and officials from Iran's judiciary. News of the lashing come only a few weeks after Somayeh Tohidlou, a female Iranian blogger and campaigner for former presidential candidate Mir Hossein Mousavi, was sentenced to a 'symbolic' lashing for the same crime."

Telepolis meldet, dass nach der TV-Ausstrahlung von "Persepolis" wütende Islamisten den verantwortlichen Sender attackiert haben (hier weitere Informationen).

Stefan Krempl stellt bei Heise ein grünes Positionspapier zum Urheberrecht vor, das in Passagen recht interessant klingt: "Deutlich zu weit geht den Grünen die Urheberrechts-Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod eines Autors. Kein Investor würde jemals ein Geschäftsmodell ins Auge fassen, wenn der finanzielle Rücklauf erst nach so einer langen Zeit erfolge, moniert die Fraktion. Vernünftiger sei eine Schutzdauer von 20 Jahren nach der Veröffentlichung eines Werks."

Jungle World, 10.10.2011

Anna Goldschmidt unterhält sich mit Laura Meritt von der Kampagne "PorYes", die in diesem Jahr zum dritten Mal den "Feministischen Pornofilmpreis Europas" verleiht: " Obwohl sich der Name PorYes provokativ [auf die PorNo-Kampagne] bezieht, gibt es zwischen beiden Bewegungen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede... In Bezug auf mehr als 90 Prozent der pornografischen Produktionen betrachte ich mich durchaus als Vertreterin der PorNo-Bewegung. Mit 'PorYes' gehen wir nur einen Schritt weiter und weisen auf die wenigen Produktionen hin, deren Darstellungen respektvoll sind."
Stichwörter: Porno

Weitere Medien, 10.10.2011

Arte porträtiert den chilenischen Schriftsteller Luis Sepulveda:



Daneben befasst sich eine Doku mit der Berliner Kunstszene und ein Porträtfilm mit Juliette Binoche.
Stichwörter: Binoche, Juliette

Tagesspiegel, 10.10.2011

Dieses spannende Gespräch hatten wir am Samstag übersehen: Wie verändert sich das Wissen durch Digitalisierung? Im Tagesspiegel streiten, moderiert von von Gregor Dotzauer und Johannes Schneider Verleger Andreas Rötzer und die Publizistin Kathrin Passig über das Ebook. Rötzer empfindet die Digitalisierung als Kulturverlust: "Man kann natürlich alles permanent verfügbar haben: Ich kann auch alles googeln, was ich nicht weiß, um es dann eine Sekunde später wieder nicht zu wissen. Das trägt aber nicht zu wirklicher Bildung bei, die zusammengesetzt ist wie ein Puzzle aus latent verfügbaren Wissenspartikeln, die nichts zu tun hat mit dem Googlebaren. Das mag ein bürgerlicher Begriff sein, aber mir erscheint diese Fähigkeit wichtig." Darauf Passig: "Das menschliche Gehirn kann viel großartigere Dinge, als sich etwas zu merken."

TAZ, 10.10.2011

Der katalanische Filmproduzent Luis Minarro erklärt im Interview, wie man in Spanien eine Filmförderung bekommt. Susanne Messmer feiert Peter Kurzecks Roman "Vorabend". Besprochen werden CDs von Grace Jones und Kid Creole and the Coconuts.

Und Tom.

Welt, 10.10.2011

Der Schriftsteller Rainer Merkel nimmt am Marathon in Liberia teil und denkt dabei über die Präsidentin nach, ist aber zu müde, auch nur ihre Rede zu hören. Johnny Erling erzählt, wie die chinesische Führung den 100. Geburtstag des demokratischen Republikgründers Sun Yat-Sen feiert (verhalten). Besprochen werden zwei Inszenierungen in München: von Albert Ostermaiers "Halali" und Neil LaButes "Zur Mittagsstunde".

FAZ, 10.10.2011

Nun schreibt noch David Gelernter zum Tod von Steve Jobs. Er würdigt (hier im Original aus dem WSJ) Jobs' Sinn für Schönheit, der keineswegs etwas Äußerliches sei: "Vor allem Amerikanern fällt es schwer zu glauben, dass Technologie Design ist, dass große Technologie schöne Technologie ist: innen und außen... Eine gute Theorie ist eine schöne Theorie - dasselbe gilt für ein schönes Mobiltelefon."

Weiteres: Die Seite 1 des Feuilletons ist dem vom Chaos Computer Club identifizierten "Bundestrojaner" gewidmet. Dietmar Dath knüpft kulturkritische Diagnosen an diese Entdeckung. Thomas Thiel interviewt zwei Repräsentanten der Piratenpartei zum Thema (wozu Markus Beckdahl von Netzpolitik auf Google Plus anmerkt: "Wenn man die Namen wegdenkt, kommt man nicht drauf, wer das Interview beantwortet hat. Ganz schön langweilig.") Der Historiker Thomas Weber ("Hitlers erster Krieg") polemisiert gegen Götz Alys Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"

In der FAZ am Sonntag schrieb bereits CCC-Sprecher Frank Rieger zur Dingfestmachung des "Bundestrojaners", mit dem Polizeibehörden private Computer ausspionieren können: "Es ist wohl das erste Mal, dass, entgegen dem expliziten Votum aus Karlsruhe, systematisch eine heimliche Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten in den klar illegalen Bereich vorgenommen und auch noch die Öffentlichkeit darüber irregeleitet wurde." (Mehr beim CCC)

Außerdem gab's am Sonntag ein Feuilletonspecial: Auf 24 Seiten behaupten Schriftsteller, sie hätten kein Verhältnis zum Geld, würden nicht viel verdienen und überhaupt liege ihnen nicht viel dran. Löbliche Ausnahmen sind Richard Ford, Fritz J. Raddatz und Louis Begley.

Besprochen werden neue Stücke von Albert Ostermaier und Neil LaBute im Bayerischen Staatsschauspiel und ein "Fliegender Holländer" unter Jens-Daniel Herzog in Dortmund und Bücher, darunter gesammelte Schriften des Wissenschaftstheoretikers Ludwig Fleck (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 10.10.2011

Einen Kulturschock hat Sandra Danicke bei zwei Ausstellungen mit Kunst aus Island von Gabriela Fridriksdattir (mehr) und Erro (mehr) in der Frankfurter Schirn erlebt, wo Monsterfratzen-Collagen auratische, mittelalterliche Edda-Manuskripte kontrastieren. Gerade letztere haben es Danicke angetan: "Einmal sehen wir drei Männlein um einen Kessel herumstehen. Daneben quillt einer Kuh die Milch aus dem Euter. Ein anderes Mal schlitzt ein Mann einen Fisch auf, genau wie im Film. Ehrfürchtig starrt man auf die speckig glänzenden Tierhautumschläge. Auf zerfledderte, stockfleckige, braun gewordene Blätter. Es ist die schiere Präsenz dieser enigmatisch anmutenden Zeitkapseln, die einen schließlich überzeugt, alle Skepsis fahren zu lassen."

Weiteres: "Biografien über Dichter gehen gut, ihre Werkausgaben gehen schlecht": Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer kritisiert die Auffassung, dass man von Literatur schon etwas versteht, wenn man nur das Leben ihrer Autoren kennt. Henning Klüver berichtet über ein Anti-Berlusconi-Bündnis unter Italiens Literaten. Von einem "Scheißdreck" war im Publikum nach der Premiere der Franz-Josef-Strauß-Nervenheilanstalt-Farce "Halali" am Münchner Cuvillies-Theater die Rede, berichtet Christine Dössel, für "kompletten Schmarrn" hält sie die Aufführung dennoch nicht. Egbert Tholl unterhält sich mit David Schultheiß, dem neuen Dirigenten des Bayerischen Staatsorchesters.

Besprochen wird unter anderem Robin Lane Fox' Kulturgeschichte über reisende Griechen im 8. Jahrhundert vor Christus (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).