Heute in den Feuilletons

Unverfroren an den Tatsachen vorbei

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2011. Damit kann man leben, meint die Welt zum Deutschen Buchpreis für Eugen Ruge. Der taz graut es vor der Buchmesse. In der New York Review of Books findet J.M. Coetzee die deutschen Inspirationsquellen des Dichters Les Murray. In der FAZ erinnert Boualem Sansal an das blutige Ende des algerischen Frühlings 1988. Könnten deutsche Schriftsteller mal die Rockzipfel der Großeltern loslassen?, bittet die SZ.

Welt, 11.10.2011

Recht verhalten gratuliert Elmar Krekeler dem 57-jährigen Eugen Ruge, dem gestern abend für seinen Debütroman "In Zeiten abnehmenden Lichts" der Deutsche Buchpreis verliehen wurde: "Ruge zieht in vielen Farben und mit höchst lebendigen, vielschichtigen Figuren das Panorama eines (kommunistischen) deutschen Jahrhunderts auf. Mit geschliffenen Dialogen, mit ausgepichtem Humor (in beidem ist Ruge Tellkamp überlegen). Ein süffiger, soghafter, beinahe so makellos wie konservativ gebauter und erzählter Familienroman. Damit kann man leben, das kann, sollte man lesen. Das wird sich verkaufen und muss man dem Ausland nicht erklären."

Dass sich in Deutschland ausgerechnet die Mittelschicht am meisten über Griechenland aufregt, ist schon ein Witz, meinen Hans Evert und Ulrich Machold. Sie selbst ist nämlich die am stärksten subventionierte und damit auch für die Schulden verantwortliche Gruppe in Deutschland: "Nur ging der Mitte das Gefühl dafür verloren, wie sehr sie profitiert - und in welch geringem Ausmaß viele 'Leistungen' des Sozialstaats dem armen Teil der Gesellschaft zugute kamen."

Besprochen werden Jeffrey Eugenides' neuer Roman "The Marriage Plot", Martin Scorseses reichlich hagiografischer Dokumentarfilm über George Harrison, Ryan Adams' CD "Ashes & Fire", Calixto Bieitos Inszenierungen der Opern "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (in Antwerpen) und "Hanjo" (bei der Ruhrtriennale) sowie eine Ausstellung der Fotos von Roman Bezjak über die Betonbauten der sozialistischen Moderne im Hannoverschen Sprengel Museum (links ein Foto aus Constanta, Rumänien).

Weitere Medien, 11.10.2011

Als der Ammann Verlag 2004 "Fredy Neptune", den Versroman des australischen Dichters Les Murray, veröffentlichte, wurde das zwar hierzulande durchaus bemerkt, aber ein richtiges Ereignis war es irgendwie nicht. Die New York Review of Books hat jetzt einen Artikel von J.M. Coetzee über Murray aus der Ausgabe vom 29.9.2011 freigeschaltet, der wirklich sehr lesenswert ist. Coetzee beschreibt den australischen Dichter als jemanden, der die Moderne (auch in der Lyrik) ebenso verabscheut wie die Linke und die städtische Intelligentsia. Er feiert die weiße Landbevölkerung, die er als konservativ und rassistisch verunglimpft sieht, und die Aborigines. Coetzee notiert das alles mit fast heiligenmäßiger politischer Enthaltsamkeit und konzentriert sich auf den Dichter, der übrigens Germanistik studiert hat: "Paul Kane, der die beste Studie über australische Dichtung geschrieben hat, die wir haben, verfolgt Murrays Ansichten über Poesie und Religion zurück auf Rudolph Otto ((1869-1937), dessen Buch 'Das Heilige' (1917) Murray während seiner Studentenjahre gelesen hat. Und hinter Otto bis zurück zu dem Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843), der das Prinzip der 'Ahnung' verfocht, das es menschlichen Wesen erlaubt, direkte Erkenntnis des Göttlichen erlaubt. Über diesen unorthodoxen Zweig der Kantschen Philosophie, so Kane, sollte man sich Murrays Denken über die dichterische Berufung annähern."

NZZ, 11.10.2011

Auf der Medienseite beschreibt Sergio Aiolfi, wie sich der Wirtschaftsjournalismus immer stärker zum Wasserträger der Unternehmer macht: "Angesichts des offensichtlichen Verlusts an Kompetenz nehmen Printmedienschaffende immer öfter Zuflucht zu einer Form von Informationsvermittlung, die journalistische Unzulänglichkeiten kaschieren soll: Sie behelfen sich mit einem Interview. Nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in den Qualitätszeitungen ist die wörtliche Wiedergabe von Gesprächen zu einem Massenphänomen geworden. "

Im Feuilleton berichtet Marco Frei enthusiastisch von den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch. Susanne Landwehr besichtigt mit gemischten Gefühlen das Ulucanlar-Gefängnis in Ankara, das in eine blitzsaubere Gedenkstätte umgewandelt wurde.

Besprochen werden eine Schau zu "Mord und Totschlag" im Historischen Museum Bern, die Ausstellung "Ich liebe Dich" in Marbach, und jede Menge Bücher, darunter Charlotte Mutsaers' Roman "Kutscher Herbst", Michael Kumpfmüllers Roman "Die Herrlichkeit des Lebens" und Jon Kalman Stefanssons "Der Schmerz der Engel" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Kumpfmüller, Michael

TAZ, 11.10.2011

Detlef Kuhlbrodt bereitet sich mental auf sein Buchmessen-Blog vor, indem er sich an frühere Buchmessenbesuche erinnert: "Letztlich war die Buchmesse aber doch eher deprimierend gewesen. Vor allem, weil es so viele Bücher gibt, kamen einem die ganzen Bücher überflüssig vor, und man selber kam sich auch überflüssig vor und war dann froh, als man wieder nach Hause fahren konnte. Vermutlich wird alles so ähnlich sein. Zum Glück muss ich nicht in der taz darüber berichten; solche Abschlussberichte waren immer der Horror. Stattdessen soll ich in einem Blog darüber schreiben. Kann gut sein, dass das auch grauenhaft werden wird, wenn ich keinen Platz zum Rauchen finde."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg schlendert über die Biennale de Lyon. Aram Lintzel nimmt den neuen Männerdiskurs aufs Korn. Torben Ibs berichtet, dass Sebastian Hartmann seinen Vertrag mit dem Centraltheater Leipzig nicht verlängern wird und die Altabonnenten darüber ganz froh sind. Thomas Groh besingt den Meister des italienischen Horrorfilms, Mario Bava, dem in Berlin eine kleine Retrospektive gewidmet wird.

Besprochen werden eine Biografie über Freddy Quinn und ein Buch übers Dicksein (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 11.10.2011

Für "unverforen an den Tatsachen vorbei argumentiert" hält Udo Vetter die Stellungnahme des Bayerischen Innenministers in der "Bundestrojaner"-Affäre und bringt weitere Hintergrundinformationen: "Selbst der Ermittlungsrichter am Amtsgericht, der die Maßnahme ursprünglich anordnete, hat die Überwachung auf die Telekommunikation beschränkt. Schon sein Beschluss ließ es ausdrücklich nicht zu, dass der Rechner selbst durchsucht oder andere Aktivitäten des Nutzers festgehalten werden. Offenbar hatten die Ermittler aber andere Wünsche. Obwohl ihnen solche Maßnahmen ausdrücklich untersagt waren, richteten sie die Screenshot-Funktion ein - wofür der von ihnen verwendete Trojaner offensichtlich geeignet war."

Dazu passend: Der Begriff "Onlinedurchsuchung" sei auch weiterhin nicht zulässig, schreibt Burkhard Schröder (Blog) bei Telepolis und benennt dabei die Systemfrage: "Die so genannte "Online-Durchsuchung" in dem Sinne, dass ein Ermittler einen privaten Rechner "fernwarten" könne - und das ohne den physischen Zugriff auf diesen Computer gehabt zu haben -, gibt es immer noch nicht. Was es gibt, und das ist nicht neu, ist ein bösartiges Programm, das Internet-Telefonie ausspioniert, in diesem Fall nur bei einer bestimmten Version des Betriebssystems Windows, und zugleich alle Türen aufstößt, damit das Schnüffelprogramm noch mehr kann - weitere Module nachladen und potenziell den Rechner komplett übernehmen. Windows und Skype kombiniert - was will man denn da erwarten?"

Die Titanic informiert unterdessen, wie man erkennt, dass sich der "Bundestrojaner" auf dem eigenen Rechner befindet: "Auf Amazon werden Ihnen ständig Werke von Homer und Heinrich Schliemann vorgeschlagen"

FAZ, 11.10.2011

Wird der arabische Frühling in Gewalt versinken? Boualem Sansal, der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, ist nicht optimistisch und erinnert an den algerischen Frühling nach 1988 - und an das, was danach kam: "Nach drei Jahren unsinniger Euphorie, die von den Islamisten genutzt wurde, um sich in einer riesigen Partei zu organisieren, der Islamischen Heilsfront, kurz FIS, einer fürchterlichen, unendlich archaischen Kriegsmaschine, die bereit war, den Staat zu zerschlagen, das Volk zu versklaven und die ganze Welt anzugreifen - was wiederum zu dem schrecklichsten Vernichtungsfeldzug führte, den die Welt Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erlebte." (Hier Hintergrund zu Algeriens blutigem Bürgerkrieg, der 200.000 Opfer forderte.)

Weitere Artikel: Andreas Platthaus liest Frank Millers Comic "Holy Terror" der sich mit dem 11. September auseinandersetzt. Oliver Tolmein zeichnet die Debatte zu einer Erklärungspflicht für Organspenden nach. In einer Serie über Gentrifizierung deutscher Städte befasst sich Hannes Hintermeier mit dem Beispiel München. Für die Medienseite hat sich Jordan Mejias an die Südspitze Manhattans begeben, wo die Occupy Wall Street-Bewegung von sich reden macht.

Besprochen wird eine Ausstellung über 200 Jahre Krupp in der Essener Villa Hügel.

SZ, 11.10.2011

Auffallend viele neue deutsche Romane befassen sich mit Herkunft und Heimat, beobachtet Christopher Schmidt im Aufmacher der heutigen Literaturbeilage. Für ihn hat das auch mit 68er-Nachwehen zu tun: "In die Freiheit einer Herkunftslosigkeit gestoßen, die sie vor allem als Beliebigkeit erleben, suchen die schreibenden Enkel Halt in verlorenen Kontinuitäten und greifen nach den Rockzipfeln der aufgekündigten Genealogie. Vor dem Horror vacui der schieren Kontingenz des eigenen Daseins flüchten sie sich zu den Großeltern, die sie anrufen als Schutzmächte und willkommene Verbündete."

Weiteres: Sehr überzeugend findet Alexander Menden Tacita Deans "Plädoyer für eine Filmwelt jenseits des Digitalen" in der Tate Modern - dazu passend: Ein Interview in der englischen Financial Times und ein Video. Für "absurd" hält der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant die Forderungen nach akzentfreiem Deutsch für In- und Ausländer und fordert im Namen der Vielfalt: "Her mit den Akzenten!" Nirgends Dan-Brown-Verschwörungsindizien oder dergleichen, nur den vorzeigefreudigen Chefarchivar Pagano hat Andrea Bachstein beim Besuch in den Vatikanarchiven erlebt, der auch klar zu benennen weiß, wer den schlechten Ruf der Einrichtung in die Welt gebracht hat: Krimiautoren und Kommunisten. Mit einem Autonomiezuwachs für Universitäten haben die "Hochschulfreiheitsgesetze" (Beispiel aus NRW) "absolut nichts" zu tun, meint der Soziologe Stefan Kuehl, vielmehr entstehen neue, interne Konfliktlinien. Renate Klett berichtet von der Goethe-Institut-Konferenz "über(W)unden - Art in Troubled Times" (mehr) in Johannesburg. Michael Stallknecht berichtet von zwei Veranstaltungen, die das Berliner Konzept "Klassik im Club" nun auch in München etablieren wollen. Alexander Menden unterhält sich mit dem britischen Museumsdirektor Neil MacGregor über dessen Buch "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten".

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung mit Altarbildern aus der Frührenaissance im Pariser Musee Jacquemart-Andre, der Film "Fright Night", Helmut Kraussers "Eyjafjallajökull-Tam-Tam" im Münchner Marstall und in der Literaturbeilage viele Bücher, darunter ein Band mit Kindergeschichten von Tim Burton.