Heute in den Feuilletons

Das Wunderbare ist ganz nah

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2011. Die Welt sucht Spuren einer Formidee in den Skulpturen von Georg Baselitz. In der Jungle World schildert Boualem Sansal die dramatische Lage von Homosexuellen in Algerien. In der NYRB beschreibt Charles Simic sein Lieblingsnotebook. Die NZZ mischt sich vorsichtig unter Occupy Wall Street. Die taz erzählt, wie Assad mit Death Metal lockt. Die FAZ bewundert Walter Moers' charmant tropfenförmige unterirdische Lebewesen.

Welt, 13.10.2011

Hans-Joachim Müller geht langsam durch die Ausstellung der Skulpturen von Georg Baselitz im Pariser Musee d'Art Moderne: "'Dunklung Nachtung Amung Ding' [Bild links] - das Schwanken zwischen Lallen und Benennen kennzeichnet den bildhauerischen Impuls ganz gut. Nie soll die Form so sehr Form sein, dass ihr nicht noch die Spuren ihrer Formidee anzusehen wären. In der Malerei muss Baselitz die Widerstände, die er braucht, immer erst herstellen, inszenieren. Im harten Holz hat er seinen Gegner, der sich bezwingen lässt, wenn er die Figurenform aus dem formlosen Holzstück gewaltsam löst, befreit."

Rückkehr des Generationenromans? Abschied vom Ich? Auf welchem Einsiedlerhof haben die Kritiker von SZ und Zeit in den letzten Jahren gelebt, fragt Richard Kämmerlings. "Seit dem Welterfolg von Jonathan Franzens 'Korrekturen' vor zehn Jahren ist der über mehrere Generationen erzählte Roman über die 'FAMILLJE' (Rainald Goetz) eines der beliebtesten Literaturgenres im deutschsprachigen Raum, es seien nur mal Erfolgsautoren wie John von Düffel, Julia Franck oder Charles Lewinsky genannt."

Weitere Artikel: Hannes Stein sah die ersten Minuten von James Camerons "Titanic" in 3D. Katalin Fischer schreibt zum Tod des Schauspielers Heinz Bennent.

Besprochen werden zwei Inszenierungen in Köln: Racines "Phädra" im Schauspielhaus und die "Goldveedelsaga", die bei einem Spaziergang durch die Stadt aufgeführt wird, sowie die Filme "Wintertochter" und "Dreiviertelmond" mit Elmar Wepper und Mercan Türkoglu.

Jungle World, 13.10.2011

Im Interview mit Joel Naber und Tjark Kunstreich erklärt Friedenspreisträger Boualem Sansal, warum er in seinem jüngsten Roman "Rue Darwin" das Thema der Homosexualität aufgreift: "In unseren Ländern wird die Homosexualität als etwas Abscheuliches betrachtet. Und niemand spricht darüber. Die algerischen Homosexuellen leben in einer unglaublich dramatischen Situation. Sie leben in Angst, werden angegriffen, beleidigt, ausgeschlossen. Wenn ich mit Landsleuten rede, sogar mit alten Freunden von der Universität, die gerne etwas aufgeblasen in großen Worten von Demokratie reden - wenn ich höre, wie sie mit ihren Frauen, mit ihren Töchtern sprechen: wie ein Herr mit einem Sklaven. Und wenn sie dann über Homosexuelle sprechen: wie über einen Hund, der gerade vorbeigelaufen ist."

FR/Berliner, 13.10.2011

Im Interview mit Dirk Pilz erklärt der Berliner Intendant Armin Petras, warum er vom Berliner Gorki Theater zum Stuttgarter Staatstheater wechselt: "Es gibt Abnutzungserscheinungen mit der Politik dieser Stadt. Das ist der Kernpunkt des Problems... In den letzten acht Jahren sind 800 000 Euro Zuschüsse durch Tarifsteigerungen und zusätzliche Betriebskosten aus dem künstlerischen Etat verschwunden."

Weiteres: Nikolaus Bernau besichtigt das neue Militärhistorische Museum in Dresden, dem Daniel Libeskind einen Donnerkeil in die Neorenaissance-Fassade geschlagen hat. Von "betörender Traurigkeit" findet Daniel Kothenschultes Gus Van Sants morbide Liebesgeschichte "Restless", Christian Zübert "Dreiviertelmond". Marcus Staiger plaudert mit Sido und Bushido über ihr gemeinsames Album "23", das natürlich keinesfalls als Zeichen der Versöhnung verstanden werden darf.

Aus den Blogs, 13.10.2011

Megan Garber resümiert im Nieman Lab die Ergebnisse einer Studie zur Frage, warum Wikipedia Erfolg hatte, während andere partizipative Projekte im Netz scheiterten. Eine der Antworten: "Editing Wikipedia is easy, and instant, and virtually commitment-free." Garber folgert daraus für Medien: "There's some good food for thought for news organizations in those findings. If you want user contributions, build platforms that are familiar and easy. Lower the barriers to participation."

Schreiben von Hand verschwindet, klagt Charles Simic im Blog der NY Review of Books, aber er hält daran fest und notiert sich seine Gedichte auf Papier: "The kind of notebooks I'm describing are still available in stationary stores (the ones made by an outfit called Moleskine come in a variety of sizes and colors), so someone must still be scribbling in them - unless they are bought purely out of nostalgia for another time and remain unused now that they have so much competition."
Stichwörter: Simic, Charles, Wikipedia, Thonet

NZZ, 13.10.2011

Andrea Köhler hat sich unter den bunten Trupp der Bewegung Occupy Wall Street gemischt, die seit einem Monat im New Yorker Zuccotti Park campiert: "Sie kommen von überall aus dem Land, viele sind arbeitslos, manche haben ihr Haus oder die Rente verloren. Nein, sie haben keine konkrete Agenda, die betagte Krankenschwester, die in Vietnam gedient und ihre Pension verloren hat; die alte Frau, die eine Krankenversicherung für alle fordert; die Studenten, die ihre Studiengebühren nicht zurückzahlen können, weil sie keinen Job bekommen; die Leute aus Kansas oder Ohio, die ihre Häuser an die Banken verloren haben."

(The Big Picture bringt eine Bilderstrecke von den sich nun auch auf andere Städte ausweitenden Protesten - hier erwacht die Bewegung, ganz großartig ist dieses Bild.)

Besprochen werden Alexei Fedortschenkos Film "Silent Souls", Cyril Tuschis Dokumentation über Michail Chodorkowski, Martin Kusejs Premierenreigen am Münchner Residenztheater und Aravind Adigas Roman "Letzter Mann im Turm" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 13.10.2011

Selina Rosa Nowak erzählt, wie das Assad-Regime versucht, die syrische Jugend mit regimetreuer Popmusik zu gewinnen: "In Aleppo wurde im Zuge der Propagandakampagne "Syria bi-Khayr" (Syrien geht's gut) ein Metal-Konzert veranstaltet, das implizieren sollte, die Aufständischen seien bereits geschlagen und die regimetreuen Kräfte wären wieder im Aufwind. Sechs Bands nahmen daran teil, darunter auch die Deathmetal-Band Eclipse. Wie es scheint, verfolgt das Regime die Strategie, die junge gebildete Mittelschicht mit Musik an sich zu binden, ihr die Illusion von mehr Freiraum zu geben, indem sie sich ihrer Sprache und Kultur bedient. Denn genau diese junge Generation bildet die potenzielle intellektuelle Basis eines möglichen Umsturzes."

Andreas Busche unterhält sich mit dem iranischen Regisseur Abbas Kiarostami über dessen neuen Film "Die Liebesfälscher", den er mit Juliette Binoche und William Shimell in Italien drehte. Was kann man daraus lernen? "Dass Männer und Frauen sich niemals verstehen werden. Das ist eine gewaltige Erkenntnis." (Hier die Besprechung von Busche).

Weiteres: Dirk Knipphals testete die Benutzerfreundlichkeit der Verlage auf der Frankfurter Buchmesse anhand der Gestaltung ihrer Stände. Beispiel Suhrkamp: "Während der alte Stand nach Konservierung der alten Bundesrepublik aussah, wirkt der neue eher Berlin-mittig." Auf den vorderen Seiten unterhält sich Katrin Gänsler mit der Liberianerin Leymah Gbowee, die gerade den Friedensnobelpreis bekommen hat.

Besprochen werden das Regiedebüt "Tyrannosaur - Eine Liebesgeschichte" des britischen Schauspielers Paddy Considine, die DVD "Der Diplomat Stephane Hessel - Ein Kinodokumentarfilm" von Antje Starost, Manfred Flügge und Hans Helmut Grotjahn aus dem Jahr 1995 sowie Anthony Reynolds Biografie "Leonard Cohen", der es laut Detlef Kuhlbrodt an Nähe zur Person mangelt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

SZ, 13.10.2011

Lothar Müller berichtet von den Eröffnungsreden der Buchmesse, wo etwa Buchmessenchef Juergen Boos von einer neuen digitalen Buchkultur in Form einer "Wiederkehr der Lesegesellschaften des achtzehnten Jahrhunderts in einer neuen medialen Infrastruktur" schwärmte. Und: "Einem immer ausgedehnteren, weltweiten 'Social Reading' wird zunehmend das 'Social Publishing' an die Seite treten." Alle anderen haben Angst von den Piraten. Astrid Herbold stellt im Tagesspiegel die Diskussion in einen etwas größeren Zusammenhang.

Weitere Artikel: Der isländische Schriftstellers Einar Mar Gumundsson klagt über kontinental-europäische Islandbilder zwischen "cash und ash". Kai Strittmatter hat sich die nach viel Hin und Her heute nun doch eröffnete deutsch-türkische Kulturakademie in Istanbul angesehen. Fritz Göttler wirft einen Blick auf eine heute beginnenden Reihe mit neuem Kino aus Rumänien im Filmmuseum München. Patrick Roth unterhält sich mit dem Regisseur Gus van Sant über dessen neuen Film "Restless" (mehr) und die Zusammenarbeit mit Dennis Hoppers' Sohn Henry. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des Schauspielers Heinz Bennent verfasst (online steht ein zweiter Nachruf von Michael Grill).

Besprochen werden unter anderem die Ausstellung "Zimmer Frei" im Hotel Mariandl, eine Ausstellung mit Fotografien der Oberammergauer Passionsspiele im Bayerischen Nationalmuseum, die Ausstellung "Perugino - Raffaels Meister" in der Alten Pinakothek in München, Abbas Kiarostamis neuer Film "Die Liebesfälscher", der Film "Tyrannosaur - Eine Liebesgeschichte" und Bücher, darunter eine Studie von Rubens' kirchlichen Auftragswerken (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.10.2011

Mutig in ihrer Hinwendung zum Populären, Nichtkanonisierten und Heiklen findet Andreas Platthaus die umfassende Ausstellung mit Arbeiten von Walter Moers in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Vor allem freut sich Platthaus über einen Blick in die Illustrationen von Moers' nächstem Roman: "All die wunderbaren Zeichnungen der Buchlinge etwa, jener charmant tropfenförmigen unterirdischen Lebewesen, die mit Hilfe eines langen Halses ihr meist einziges Auge so begeistert in Bücher stecken, werden wir wohl erst im zweiten Teil wiedersehen."

Heinz Bennent wurde "nirgendwo zum Star", schreibt Gerhard Stadelmaier in seinem Nachruf auf den Schauspieler, er "hörte früh auf, irgendwo fest dazuzugehören: Er war immer ein Emerit im Theaterland. Einsam am stärksten. Ein Freier. Er gehörte keinem Haus fest an. Nur einer Haltung. Wenn er aber auftrat, wurde er zu einem Glanzpunkt, dessen Strahlkraft sich einem Paradox verdankte, das im deutschen Theater Seltenheitswert hat."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld unterhält sich auf der Buchmesse mit griechischen Verlegern über die Auswirkungen der Schuldenkrise auf die griechische Gegenwartsliteratur. Mark Siemons unterhält sich mit dem chinesischen Dichter und Tourismusunternehmer Huang Nubo, der in Island eine 0,3 Prozent der Gesamtfläche des Landes umfassende, touristische Ferienanlage errichten will (mehr dazu hier). Martin Ott fasst einige Beiträge der schottischen Historikertagung "Imperial Sites of Memory" zusammen. "Die Hiphop-Artistik steht damit besser da als lange zuvor", findet Daniel Haas in seiner Sammelbesprechung der neuen Platten von Game, Lil Wayne, Jay-Z und Kanye West. Im Unterschied zu anderen Filmfestivals zeichnet sich das in Deauville (hier) dadurch aus, dass es auch us-amerikanische Fernsehserien präsentiert, schreibt Marco Schmidt und fasst zudem einige Vorträge der eingeladenen Produzenten vor.

Besprochen werden Gus van Sants neuer Film "Restless" (mehr) und Bücher, darunter ein Band mit Loriot-Interviews (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 13.10.2011

Der schwedische Autor Lars Gustafsson erklärt, was seinen Dichterfreund, den frisch gekürten Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer so besonders macht und wovon seine Dichtung handelt: "Ich würde sagen, von dem Augenblick, in dem der Nebel sich lichtet. Wenn der Alltag einen kurzen Moment aufbricht und aufhört, Alltag zu sein. Das Wunderbare ist ganz nah. Es schimmert hindurch, das Große, das stets nur flüchtig vorbeistreift. Und wie oft weigern wir uns, es zu sehen. Die Menschen wollen schlafen."

Weitere Artikel: Katja Nicodemus trifft die Schauspielerin Charlotte Rampling, den "britischen Igel in Paris". Beim Kaffee im Dome am Montparnasse erklärt ihr Rampling, wie sie sich mit dem Leben arrangiert: "Manche nehmen Medikamente, andere haben andere Tricks. Ich zum Beispiel kaufe Immobilien, wenn ich kann." Ebenfalls in Paris waren Thomas Groß und Tobias Timm, die dort in David Lynchs neuem Edel-Kreativ-Club "Silencio" einen Hauch von Lynchville erhaschen durften (mehr dazu im Guardian und hier eine Szene im Club Silencio aus Lynchs Film "Mulholland Drive"). Marie Schmidt porträtiert die neue Chefin des Berlin Verlages, Birgit Schmidt, die nach dem Weggang der Verlagsgründerin Elisabeth Ruge sowie einiger Autoren und Lektoren dort die Stellung hält. Nach den New Yorker Demonstrationen gegen die Wall Street schätzen amerikanische Intellektuelle - von Seyla Benhabib über Eliot Weinberger bis zu Robert Darnton - ab, wie die Chancen auf eine Revolution stehen.

Besprochen werden Abbas Kiarostamis Rätselfilm "Der Liebesfälscher" mit Juliette Binoche, Martin Kusejs Inszenierungen zum Auftakt seiner Intendanz am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter Hans Joas' "Die Sakralität der Person" und Marc Eliots Paul-Simon-Biografie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Dossier erzählt Jörg Lau, wie sich Bewohner von Mönchen-Gladbach dagegen wehren, dass Salafisten dort ihr Hauptquartier errichten.