Heute in den Feuilletons

Der Genuss des Übens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2011. In der NZZ erklärt Najem Wali, warum Friedenspreisträger Boualem Sansal in der arabischen Welt totgeschwiegen wird. Außerdem reist die NZZ durch das Land der Dogon. In der Welt spricht Jeffrey Eugenides über seinen neuen Roman "Die Liebeshandlung", und der Bookerprize-Träger Howard Jacobson sieht keinen Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus. Warum kann man Ebooks nicht bei den Verlagen herunterladen?, fragt Lothar Müller in der SZ. In der FAZ ruft der CDU-Politiker Peter Altmaier: Don't touch my Twitter.

NZZ, 15.10.2011

Der irakische Schriftsteller Najem Wali stellt sich in Literatur und Kunst hinter den Friedenspreisträger Boualem Sansal. In der arabischen Welt werde Sansal vor allem deshalb totgeschwiegen, erklärt Wali, weil er "das sakrosankteste Tabu" gebrochen und die "Glorie der Unabhängigkeitsbewegung" angekratzt habe: "Auch die Verbindungen der algerischen Revolutionäre zu deutschen Nationalsozialisten blieben ein Tabuthema. Wer darüber zu schreiben wagt, muss entweder ein Sympathisant der Juden sein oder nach dem Literaturnobelpreis schielen - denn gemäß der unter arabischen Intellektuellen gängigen Auffassung ziehen die Juden auch bei der Vergabe dieser Auszeichnung die Fäden. All dies ist nicht neu; neu ist lediglich, dass sich ein arabischer Autor gegen die offiziöse patriotische Heuchelei immunisiert und das Totgeschwiegene ausgesprochen hat." Auch Sansals Übersetzerin Regina Keil-Sagawe schreibt zur morgigen Verleihung des Friedenspreis an Sansal.

In einer wunderschönen Reportage erzählt Samuel Herzog, wie er in Mali durch das Land der Dogon reiste, eine der ältesten und ärmsten Kulturen der Welt. Mit schlechtem Gewissen und fünf Kindern an jeder Hand: "Neun Kinder hängen immer noch an unseren Fingern, neun Augenpaare tasten unseren Körper ab, suchen unseren Blick. Von unten sieht unser Gesicht wohl aus wie ein feuchter Brotlaib, der sich rosig leuchtend vom Blau des Himmels abhebt. Würde man uns jetzt fotografieren, müsste die Legende lauten: 'Weißer Mann mit kleinem Bauchansatz und großer Kamera, von schwarzen Kindern umringt'."

Außerrdem: Alain Claude Sulzer betrachtet in der Reihe "Bildansichten" Leonardo da Vincis Porträt der "Ginevra de' Benci". Besprochen werden ein Ausstellung zu Louise Bourgeois in der Fondation Beyeler in Riehen und Karl-Heinz Otts Roman "Wintzenried"

Im Feuilleton besichtigt Joachim Güntner das neue Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden und bescheinigt ihm ein "radikal aufklärerischen Konzept". Uwe Justus Wenzel freut sich, dass er in diesem Jahr auch auf der Buchmesse "anständig essen" konnte.

Welt, 15.10.2011

Madeleine, die Hauptfigur in Jeffrey Eugenides' neuem Roman "Die Liebeshandlung", studiert in den achtziger Jahren Literaturwissenschaft und dekonstruiert den "marriage plot" in der englischen Literatur. Zugleich verliebt sie sich. "Als Romanciers", meint Eugenides im Interview mit der Literarischen Welt, "sind wir heute in der gleichen Lage: Wir schreiben nach dem Strukturalismus und haben viele seiner Argumente angenommen, und dennoch sehe ich nicht ein, deshalb das Erzählen aufzugeben. Ich glaube einfach nicht, dass das eine das andere ausschließt."

Howard Jacobson spricht im Interview über seinen neuen Roman "Die Finkler-Frage" und erklärt, warum er keinen Unterschied zwischen Antizionismus und Antisemitismus sieht: "Ich habe eine begründete Vermutung. Der Antizionismus der linken Intellektuellen, auch der jüdischen linken Intellektuellen, ist das dunkle Loch, in das sich der Antisemitismus verkrochen hat. Eine Art Maskenball, man hat ein politisches Alibi, um seinen Antisemitismus ausleben zu können. Antizionismus ist Antisemitismus. Und das hat nichts mit Kritik an Israel zu tun. Es geht nicht um das, was Israel tut, sondern darum, dass es existiert."

Besprochen werden u.a. ein "Prachtband" mit Zeichnungen von Caspar David Friedrich, Martin Gayfords Tagebuch "Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud", Mario Vargas Llosas Roman "Der Traum des Kelten", Katharina Hackers "Dorfgeschichte", Axel Honneths Sozialkritik "Das Recht der Freiheit" und die Autobiografie von Veruschka.

Ein Bedürfnis nach Entschleunigung und Selbstvergewisserung macht Richard Kämmerlings (Forum) in der aktuellen deutschen Literatur aus. Von Finanzkrise, Wutbürgern, Digitalisierung will niemand hören (außer im Sachbuch): "Es ist gerade nicht die Zeit des literarischen Experiments, der avantgardistischen Zertrümmerung von Formen und Traditionen. Der Familienroman steht, seit einigen Jahren schon, hoch im Kurs, so auch die Kindheits- und Jugendgeschichte, der 'Coming of age'-Roman. Auffällig viele Romane widmen sich der untergegangenen DDR - oder den ebenfalls verschwundenen Lebenswelten der alten Bundesrepublik, schildern längst vergangene Kämpfe zwischen den Generationen."

Feuilleton: Elmar Krekeler sucht in Frankfurt die Zukunft des Buchs, wird aber nicht recht fündig. Manuel Brug kommentiert in der Leitglosse spitz die Tatsache, dass der siebzigjährige Daniel Barenboim neben der Leitung der Berliner Staatsoper jetzt auch die musikalische Leitung der Mailänder Scala übernimmt: "Eben hat er erklärt: 'Ich habe den Genuss des Übens entdeckt.' Vielleicht hat ja die Scala was davon." Thomas Schmid besucht das von Daniel Libeskind umgebaute (mehr hier) militärhistorische Museum in Dresden. Hannes Stein geht mit dem amerikanischen Sprachforscher John McWhorter essen. Eine kurze Meldung informiert uns, dass der Hanser Verlag eine Dependance in Berlin eröffnen will, mit Elisabeth Ruge (die den Berlin Verlag verlassen hat) als Leiterin: "Angeblich wechseln auch Ingo Schulze und Peter Esterhazy mit, von ihr betreute Autoren."

Besprochen werden Konzerte und Ausstellung von Kraftwerk im Münchner Lehnbachhaus und die Uraufführung eines Oratoriums mit Texten von Hans Küng und Musik von Jonathan Harvey in Berlin (Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker gaben sich die Ehre).

FR/Berliner, 15.10.2011

Stefan Schickhaus stellt die beiden italienischen Orchester vor, die zu den Kulturtage der Europäischen Zentralbank eingeladen wurde: Das Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi und das von Claudio Abbado gegründete Orchestra Mozart. Arno Widmann singt dem S. Fischer Verlag ein kleines Loblied zum 125. Geburtstag. Frank Nordhausen besucht die deutsche Künstlerresidenz Villa Tarabya in Istanbul.

Besprochen wird eine Foto-Ausstellung von Ai Weiwei im Berliner Martin-Gropius-Bau.

TAZ, 15.10.2011

Reiner Wandler stellt den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal vor, der vom arabischen Frühling bislang nicht allzu viel hält. Cristina Nord unterhält sich mit Chantal Akerman, der im Filmmuseum Wien eine Retrospektive gewidmet ist. Im Gespräch doziert der grüne US-Ökonom Jeremy Rifkin über ökologisches Bewusstsein Berliner Schüler und die Notwendigkeit einer dritten industriellen Revolution zur Rettung der Welt. Tim Caspar Boehme porträtiert die "mit dem ganzen Körper musizierende" Sängerin Aerea Negrot (mehr) aus Berlin, die Deutsche werden will und gerade eine neue CD veröffentlicht hat. Martin Reichert denkt über die Deutschen und ihr Fett nach. Besprochen werden neue Bücher, zum Beispiel Thomas Meineckes neuer Roman "Lookalikes" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 15.10.2011

Wirklich spannend werden könnte es, findet Lothar Müller, fast etwas angesteckt vom Ebook-Fieber, wenn in einer heraufdämmernden digitalen Lesekultur die Interessenkonflikte zwischen Verlegern und Buchhandel aufbrechen, wenn nämlich die Leser die Ebooks für ihre Lesegeräte die Ebooks direkt auf einer Verlagsseite herunterladen können: "Vor allem aber ist die Frage spannend, welchen Platz der Newcomer in der berühmten 'Verwertungskette' einnehmen wird. Denn das E-Book tritt sowohl dem Hardcover wie dem Taschenbuch als ein drittes Format an die Seite. Die Frage, welchen Ort es zwischen beiden einnehmen wird, ist die Frage nach seinem Preis."

Weitere Artikel: Jens Bisky schreibt zur Eröffnung des umgebauten Militärhistorischen Museums in Dresden. Als "New York des Südens" beschreibt Kia Vahland in einer Reportage Sao Paulo, wo die Kulturszene insbesondere der Mittelschicht öffentlichen Raum jenseits der beengten Stadtverhältnisse ermöglicht. Jörg Häntzschel hat sich von dem im Sommer aufgefundenen, unter Alfred Hitchcocks Beteiligung entstandenen Stummfilm "The White Shadow" sofort packen lassen und schildert zugleich noch die verschlungene Geschichte der Entdeckung des Filmmaterials (mehr beim Spiegel). Dorion Weickmann berichtet, dass die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker Beyonce des Plagiats beschuldigt (mehr bei der FAZ, mit den beiden Videos). Christopher Schmidt berichtet von einer Diskussion um Shakespeares Autorenschaft am Rande der Buchmesse. Laura Weissmüller wundert sich, welche Berufsverantwortung der Architekt Meinhard von Gerkan in diesem Radiogespräch wohl gemeint haben könnte.

Besprochen werden Calixto Bieitos "Voices" am Residenztheater München (Egbert Tholl fand sie "licht", aber "hart am Rand des Kitschs"), Sebastian Nüblings Inszenierung von Simon Stephens "Three Kingdoms" am Münchner Kammerspiel und Jo Lendles Roman "Alles Land" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende lässt sich Antje Wewer von Juliette Binoche erzählen, wie sie Gerard Depardieu, nach dessen unschönen Worten über sie im vergangenen Jahr, auf einem Wochenmarkt geküsst hat. Wenn sich derzeit viele Griechen von Deutschland gedemütigt werden, so liegt dies auch an den Erinnerungen an die nie aufgearbeiteten Nazi-Gräueltaten in Griechenland, schreibt Christiane Schlötzer und liefert noch eine so material- und kenntnisreiche, wie bedrückende Aufarbeitung der Nicht-Aufarbeitung nach.

FAZ, 15.10.2011

CDU-Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier hat von seinen Mitarbeitern einen Twitter-Account eingerichtet bekommen und will ihn nie wieder hergeben müssen: "Der Anschluss ans Internet ist heutzutage wesentlich wichtiger als der Anschluss ans Telefon-, Strom- oder Fernsehnetz, von größerer Bedeutung als Pkw, öffentlicher Nahverkehr oder Waschmaschine. Aus meiner Sicht hat er eine Bedeutung, die derjenigen des Zugangs zu Wasser und Grundnahrungsmitteln sehr nahe kommt."

Weiteres: Marcus Jauer trifft die großen Unbekannten des Feuilletons: Bestseller-Autoren, die als Buchhändler niemals in ihr Sortimet genommen hätten, was sie heute millionenfach verkaufen. Mit Grauen berichtet Jordan Mejias vom republikanischen Wettrennen um die Präsidentschaftskandidatur, das sich auf einen Zweikampf des Evangelikalen Rick Perry gegen den Mormonen Mitt Romney zuspitzt. Andreas Rossmann empört sich über die Schäbigkeit, mit der Kölns wieder regierende SPD den verdienten Stadtbaudezernenten Bernd Streitberger aufs Abstellgleis schiebt. Jürgen Dollase speist in Jean-Marie Dumaines Sinziger Restaurant "Vieux Sinzig". Auf der Medienseite bemerkt Johannes Warda mit Blick auf die Occupy-Wall-Street-Bewegung, dass man auf die Revolution nicht im Livestream warten kann: Man muss für sie auf die Straße gehen.

Besprochen werden ein Konzert des Lucerne Festival Orchestras in London, bei dem Claudio Abbado selbst Bruckner elegant und weltläufig klingen ließ, ein Auftritt des norwegischen Singer/Sonwriter Sondre Lerche Ryan Adams neues und offenbar recht müdes Album "Ashes and Fire", eine CD-Box mit Aufnahmen von Gidon Kremers Kammermusikfestival Lockenhaus und Bücher, darunter Katharina Hackers "Dorfgeschichte" und Haruki Murakamis Roman "1Q84" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten besucht Felicitas von Lovenberg den amerikanischen Schriftsteller Jeffrey Eugenides in Princeton, dessen Roman "Die Liebeshandlung" nächste Woche erscheint. Jochen Hieber widmet sich der Beziehung zwischen der Schriftstellerin Hilde Spiel und Heimito von Doderer. Ulrich Werner Schulz schreibt über den Dresdner Maler und Grafiker Klaus Drechsler. Marco Schmidt trifft Charlotte Rampling, die gerade in Lars von Triers "Melancholia" die Mutter aus der Hölle spielt und demnächst in Angelina Maccarones Doku "The Look" zu sehen ist: "Lassen Sie es mich folgendermaßen ausdrücken: Meine körperliche Konstitution erlaubt es mir, sexuell aktive Figuren glaubwürdig darzustellen."

In der Frankfurter Anthologie stellt Wolfgang Schneider Erich Frieds Gedicht "Tribunal der Liebe" vor:

"Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
..."