Heute in den Feuilletons

Gleichsam im Zentaurenstadium

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2011. Die taz diskutiert mit dem Historiker Paul Ginsborg über die Frage, ob Italien noch zu retten ist. Die FR findet die Bill and Melinda Gates Foundation gar nicht so wohltätig. Der Guardian ist zufrieden mit dem Booker-Preis für Julian Barnes. Alle Feuilletons und viele Blogs bringen Nachrufe auf Friedrich Kittler. Die Welt bringt noch ein langes Interview, das sie einige Monate vor seinem Tod führte.

TAZ, 19.10.2011

Der englisch-italienische Historiker Paul Ginsborg, dessen Buch "Italien retten" im Frühjahr erschienen ist, erklärt im Interview, warum Silvio Berlusconi so erfolgreich ist. Das hat - nicht nur, aber auch - mit der völlig ideenlosen Opposition zu tun. Und auch die italienischen Intellektuellen pflegen lieber "Zynismus und Passivität", statt zu protestieren: "Immerhin meldete sich schon 2002 Nanni Moretti zu Wort, doch wie viele Regisseure haben es ihm gleichgetan? Gott sei Dank meldete sich auch Claudio Abbado, doch wie viele aus Musik und Theater erhoben seither ihre Stimme? Italien hat mutige Richter und Staatsanwälte. Diesen ist es zu verdanken, wenn Berlusconis Despotismus gleichsam im Zentaurenstadium verharrt und noch nicht zum galoppierenden Pferd geworden ist."

Weitere Artikel: Ingo Arend berichtet über die Pläne Carolyn Christov-Bakargievs für die kommende Documenta. Stefan Heidenreich schreibt zum Tod des Medientheoretikers Friedrich A. Kittler. Auf den vorderen Seiten unterhält sich Reiner Wandler mit drei Tunesierinnen über die bevorstehenden Wahlen und die Situation der Frauen nach dem Sturz Ben Alis.

Besprochen wird Pedro Almodovars Film "Die Haut, in der ich wohne" mit Antonio Banderas.

Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 19.10.2011

(Via Jeff Jarvis) Jeff Jarvis gehört zu den "Internet-Gurus", die im Moment scharf attackiert werden. Wortführer ist dabei der unvermeidliche (und auf allen sozialen Medien omnipräsente) Internetskeptiker Evgeny Morozov. Nathan Jurgenson fragt auf seinem Blog, ob es einen neuen Anti-Intellektualismus im Netz gebe und stimmt Morozov in seiner Kritik an Jarvis zu. "My problem is really not with Jarvis, but the fact that these 'books that should have remained a tweet', as Morozov states, have dominated the conversation about what the rise of new and social media means. I do not care that these fun little books exist, but that they are dominating the public conversation." (Wird hier wirklich über Anti-Intellektualismus oder über mangelnde Ehrfurcht vor Akademikern geklagt?)

Jussi Parikka schreibt auf Machinology zum Tod des Medientheoretikers Friedrich Kittler: "Was ich mir von seinen frischen, radikalen, anarchistischen Ideen bewahren will, ist seine eklektische Methode, ontologische Regimes über die Grenzen von Wissenschaft und Kunst hinweg miteinander zu verschalten; sein kühner historischer (manche würden sagen: 'archäologischer') Fokus, selbst wenn er in den Details nicht immer ganz korrekt ist; seine Materialbezogenheit und no-nonsense Haltung gegenüber von Theorien und Analysen beispielsweise der digitalen Medien. Dies ist viel mehr als die meisten, heutigen Schriften anzubieten haben."

Eine sehr hilfreiche Zusammenstellung zahlreicher Videos und MP3s mit Vorträgen von Kittler gibt es auf Thomas Grohs Filmtagebuch.

Und hier eine Vorlesung über die "Ontologie der Medien":

Tagesspiegel, 19.10.2011

Norbert Bolz schreibt über Friedrich Kittler: "Er war enthusiastisch, und dieser Enthusiasmus war ansteckend. Jedes Mal, wenn ich nach einer Begegnung mit ihm nach Hause kam, wollte ich mein Leben ändern - oder doch wenigstens mein Denken."

Und Christine Lemke-Matwey berichtet von den Donaueschinger Musiktagen.

Welt, 19.10.2011

Die Welt bringt nochmal einen Auszug aus Andreas Rosenfelders großem Kittler-Gespräch, das Anfang des Jahres publiziert wurde: "Als ich das Christusalter von 33 Jahren erreichte, guckte ich meinen Zettelkasten an und stellte fest, wie viele Themen ich angesammelt hatte, über die ich noch schreiben wollte. Aber dieses Leben reicht dafür nicht. Alle Farben, die der Mond in der Lyrik je bekommen hat, sind da zum Beispiel aufgeführt, auf orangenen DIN-A6-Zetteln. Ich habe das tröstliche Gefühl, dass jemand, der wissen will, wie meine ungeschriebenen Bücher aussehen könnten, das ganz gut rekonstruieren könnte, falls ich plötzlich umfalle."

Den Nachruf auf Kittler schreibt Ulf Poschardt.

Weitere Artikel: Thomas Schmid war dabei, als Siegfried Lenz im einst deutschen Städtchen Lyck, heute Elk in Polen, die Ehrenbürgerwürde erhielt. Wieland Freund gratuliert John Le Carre zum Achtzigsten. Besprochen wird Pedro Almodovars neuer Film "Die Haut, in der ich wohne" (mehr hier).

Weitere Medien, 19.10.2011

Allgemeine Zufriedenheit meldet der Guardian über den Booker Prize für Julian Barnes' Roman "The Sense of an Ending". Auch über Barnes artige Dankesrede: "Accepting the prize, Barnes thanked the judges for their wisdom and the sponsors for their cheque. He also offered some advice to publishers: 'Those of you who have seen my book, whatever you think of its contents, will probably agree it is a beautiful object. And if the physical book, as we've come to call it, is to resist the challenge of the ebook, it has to look like something worth buying, worth keeping."

Jeremy W. Peters beschreibt in einem ausführlichen Artikel für die New York Times den Knatsch zwischen Rupert Murdoch und seinem Sohn James, "leaving both men at times not even on speaking terms".

Boris Kachka hat für das New York Magazine ein langes, sehr lesenswertes Porträt Joan Didions geschrieben: "Didion has always been known for the crystal sheen of her writing - as a child she retyped pages from 'A Farewell to Arms' - and the seeming casualness of her prose has long divided readers. The critic John Lahr once condemned Didion for suffusing her writing with nothing more than her own anomie, which he memorably called 'the Brentwood Blues. She meditates on her desolation and makes it elegant,' he wrote. 'Sent to get the pulse of a people, Didion ends up taking her own temperature. Narcissism is the side show of conservatism.' And yet Didion owes her stature to more than solipsistic style. She?s also a soothsayer, always timely and often prescient. By virtue of her age - just ahead of the baby-boomers, young enough to recognize them and old enough to see them clearly - Didion has made a career as a canary in the American coal mine."

Warum wurde Gilad Schalit zuerst vom ägyptischen Fernsehen interviewt - noch bevor er irgendeinen israelischen Offiziellen oder seine Familie sehen durfte, fragt Oren Kessler in der Jerusalem Post: "The notion that Schalit agreed to give Nile TV an interview of his own free will defies belief. Forcing him to do so immediately after his release from Gaza - before seeing medical staff, much less an Israeli representative or his family - is in itself an apparent breach of journalistic ethics."

FR/Berliner, 19.10.2011

In einer Serie zur Kapitalismuskritik widmet sich Stephan Hebel der Privatisierung öffentlicher Wohlfahrt in den USA. Mäzene wie Warren Buffett - gut und schön. Aber die Bill and Melinda Gates Foundation, "inzwischen der weltweit zweitgrößte Akteur, wenn es um internationale Gesundheitsvorsorge geht", ist nicht so wohltätig, wie sie erscheint, hat er bei James Love von der Organisation Knowledge Ecology International gelesen: "Gates setzt vor allem auf Impfprogramme. Dagegen berichten WHO-Beoachter, dass viele Bemühungen, die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten in Entwicklungsländern durch eine Lockerung des Patentschutzes zu erleichtern, am Einfluss des einstigen Software-Monopolisten ihre Grenzen finden: 'Gates machte mit der Verteidigung geistiger Eigentumsrechte ein Vermögen. Nun setzt seine Stiftung auf patentierte Medizin und Impfstoffe, statt frei zugängliche Produkte zu fördern', sagt James Love." Bei Spiegel Online unterdes die Meldung, dass mit den Mitteln der Gates-Stiftung ein vielversprechender Impfstoff gegen Malaria gefunden worden sei.

Weiteres: Hans-Klaus Jungheinrich berichtet von den Donaueschinger Musiktagen. Daniel Kothenschulte berichtet über das Urteil gegen die iranische Schauspielerin Marzieh Vafamehr: 90 Peitschenhiebe und ein Jahr Gefängnis (mehr bei der BBC). Günther Grosser schreibt zum Achtzigsten von John Le Carre. Christian Schlüter schreibt zum Tod des Medientheoretikers Friedrich Kittler.

Besprochen wird Steven Soderberghs Seuchen-Thriller "Contagion" ("Wenn man den Stil benennen sollte, so hieße er wohl 'pessimistischer Realismus'", meint Daniel Kothenschulte).

NZZ, 19.10.2011

Bernd Flessner findet etliche Hinweise auf die Zukunft des Elektromobils in der Science-Fiction der Vergangenheit. Ulrich Pick annonciert eine Europatournee der iranischen Sängerlegende Mohammad-Reza Shajarian. Daniela Strigl erinnert an die vor hundert Jahren geborene österreichische Schriftstellerin Hilde Spiel. Maike Albath schreibt zum Tod des italienischen Lyrikers Andrea Zanzotto.

Besprochen werden eine Aufführung von Richard Strauss' "Salome" an der Volksoper Wien, Orlando Figes' Geschichte des Krimkriegs "Der letzte Kreuzzug" und Martino Stierlis Städtebau-Studie "Las Vegas im Rückspiegel" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 19.10.2011

Thomas Steinfeld würdigt den verstorbenen Friedrich Kittler, der schon in den achtziger Jahren erkannte, dass der Computer das Medium sein wird, "in dem alle anderen aufgehen werden." Jens Bisky begutachtet den teils auch im Netz einsehbaren Nachlass des Architekten Karl Friedrich Schinkel und plädiert für eine Bauakademie in Berlin. Rudolf Neumaier liest zwei Briefe von Heinrich Heine aus dem gerade der Staatlichen Bibliothek Regensburg übergebenen Nachlass von Eduard von Schenk (hier mehr). Wolfgang Schreiber berichtet von den Donaueschinger Musiktagen, wo er unter anderem einem in reinen Klang übersetzten Fußballspiel beiwohnte (hier das Video). Franziska Augstein gratuliert John le Carre zum 80. Geburtstag. Annett Scheffel stellt Lana del Rey vor, die als Retroqueen mit Videos in DIY-Ästhetik die Herzen der Blogosphäre höher schlagen lässt:



Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung des Renaissancekünstlers Filippino Lippi in Rom, neue CDs, Pedro Almodovars neuer Film "Die Haut in der ich wohne", eine "Phädra"-Interpretation am Schauspiel Köln, eine "Drei Schwestern"-Interpretation am Schauspielhaus Bochum und Kenneth Goldsmiths Ratgeber für unkreatives Schreiben (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 19.10.2011

Auf Seite 1 des politischen Teils deutet Frank Schirrmacher die Äußerungen des Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich zum "Bundestrojaner" als "politischen Kontrollverlust angesichts komplexer technologischer Systeme in Echtzeit". Im Feuilleton schreiben Jürgen Kaube (hier) und Rose-Maria Gropp Nachrufe auf Friedrich Kittler, der mit Büchern wie "Grammophon, Film, Typewriter" sämtliche Geisteswissenschaften in Deutschland aufstörte. Oliver Tolmein begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das die Gewinnung von Patenten aus embryonalen Stammzellen untersagt (mehr dazu in der Zeit). Lisa Zeitz berichtet, dass sich das Fürstenhaus von Waldburg zu Wolfegg weiterhin mit Verkäufen aus seiner Kunstsammlung saniert - diesmal gingen Zeichnungen der Renaissance an das Berliner Kupferstichkabinett. Volker Schlöndorff erzählt, wie ihn ein Text Ernst Jüngers über die Erschießung des jungen kommunistischen Resistant Guy Moquet zu seinem neuesten Film inspirierte (mehr über Moquet hier). Auf der Geisteswissenschaftenseite attackiert Roland Reuß, der einst durch den "Heidelberger Appell" gegen Open Access bekannt wurde, die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Besprochen werden Pedro Almodovars neuer Film "Die Haut, in der ich wohne" und Bücher, darunter Steven Pinkers Studie "Gewalt - eine neue Geschichte der Menschheit", die Herfried Münkler "große Mühe", aber auch Erkenntnisgewinne brachte (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).