Heute in den Feuilletons

Äh ... Was? ... Nein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2011. In der taz erklärt Bertrand Tavernier, wie er sich einen historischen Film erträumt: als Blick in eine Gegenwart. Nein, die tunesischen Islamisten sind nicht mit Erdogans AKP zu vergleichen, findet Caroline Fourest in ihrem Blog. Walter Laqueur macht sich im National Interest Nachtgedanken über Europa. Nach einer Attacke gegen Open Access in der FAZ lebt die Debatte auch in den Blogs wieder auf. Elisabeth Ruge kann nicht seine Nachfolgerin werden, erklärt Hanser-Verleger Michael Krüger in der Zeit, sie hat doch Kinder.  Und: Modernes Geld verstehen mit dem Freitag.

Aus den Blogs, 27.10.2011

Nein, die tunesischen Islamisten sind nicht mit Erdogans AKP zu vergleichen, meint Caroline Fourest: "Das die türkischen Islamisten mit Demokratie zurechtkommen, liegt an zwei Gründen, der Angst vor der Armee und dem Umstand, dass sie mit dem Artikel 2 der Verfassung zurechtkommen müssen, der die Türkei als laizistischen Staat definiert. Und dann ist man natürlich Türke, und nicht Araber... Die Türkei erinnert sich ihres einstigen ottomanischen Reichs. Es ist in der Türkei schwieriger als im Maghreb, die Idee der Laizität zu denunzieren, indem man sie auf den Kolonialismus zurückführt. Die tunesische Lage ist genau umgekehrt. Die tunesischen Islamisten können mit dem Ressentiment gegen Frankeich spielen, um die Trennung vo Staat und Religion zurückzuweisen."

Die Eurokrise zeigt, dass die EU an ihre Systemgrenze gestoßen ist, schreibt Wolfgang Michal in seinem Blog. Eine weitere Integration ist nur durch Zwang und Gewalt möglich - oder durch einen revolutionären Akt: "Ein echter Verfassungskonvent müsste sich nach dem Prinzip der (europäischen) Volkssouveränität konstituieren. Die von diesem Konvent erarbeitete Verfassung würde dann dem europäischen Unionsvolk zur Abstimmung vorgelegt. Wird sie mit großer Mehrheit angenommen, wäre dies der Schlusspunkt eines revolutionären Aktes, der gleichzeitig die nationalen Verfassungen außer Kraft setzt (wie im deutschen Grundgesetz bereits in Artikel 146 geregelt)."

Die Debatte um Open Access flammt wieder auf. Gestern beschwerte sich der CDU-Politiker Günter Krings in der FAZ, dass Autoren die Freiheit genommen wird, sich Verlagen nicht mit Haut und Haar zu unterwerfen. Ben Kaden antwortet auf iuwis: "Dann fädelt (Krings) seine Argumentation auf den Haken des 'verbindlichen Zweitverwertungsrechts', das, wie er richtig erkennt, wissenschaftlichen Autoren das Recht 'nimmt, Verlagen ihr ausschließliches Nutzungsrecht zu verkaufen'. Andersherum formuliert könnte man aber sagen, es gäbe ihnen das Recht, als Urheber auch nach einer Publikation über Werke unabhängig von den Interessen der Verlage als Verwerter zu verfügen und sie z.B. für eine parallele Langzeitarchivierung auf einen nicht-kommerziellen Hochschulserver freizugeben. Aber Krings beweist ein bemerkenswertes Formulierungsgeschick, wenn er argumentiert, man zwänge die Wissenschaftler zu ihrem Recht."

Welt, 27.10.2011

Michael Pilz erzählt von seinem Versuch, ein Interview mit dem großen Beach Boy Brian Wilson zu führen, dessen Album "Smile", angeblich das beste Popalbum aller Zeiten, neu veröffentlicht wird. "Die Beatles ließen sich von 'Pet Sounds' anregen zu 'Sgt. Pepper', das Brian Wilson 1967 derart eingeschüchtert habe, dass er 'Smile' nicht mehr veröffentlichen wollte. Stimmt das? 'Äh ... Was? ... Nein.' Dann erklärt er, warum er das Album so spät veröffentlichte: "Es brauchte seine Zeit, damit die Menschheit es versteht. Wir haben auch entschieden, dass es endlich soweit ist."

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann resümiert den heute zu Ende gehenden Prozess des Kunstfälschers Walter Beltracchi, dessen Fälschungen eine ganze Branche blamierten. Ekkehard Kern liest den "Transparenz-Bericht" von Google. Hans-Georg Rodek schreibt recht positiv über Leander Haußmanns zeitgeschichtliche Komödie "Hotel Lux", ein "tödlich alberner, dramatisch unernster, unhistorisch geschichtswahrer Film". Und er unterhält sich mit dem Komiker Michael "Bully" Herbig, die die Hauptrolle in dem Film spielt.

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung über den Zauber der Mathematik in der Parieser Fondation Cartier.

Weitere Medien, 27.10.2011

Walter Laqueur macht sich im National Interest Nachtgedanken um die Europäische Union: "Perhaps the common ties and values and the mutual trust are not strong enough to serve as the basis for a real union. Perhaps with each country fending for itself they will do as well as with forces combined. And if they do not do as well, this could be compensated for by greater happiness. It is not certain that even a united Europe would have the vigor and political will to play a truly important role in international politics."

In der Jüdischen Allgemeinen unterhält sich Christian Buckard mit dem Schriftsteller Yoram Kaniuk, vor einem israelischen Gericht das Recht erstritten hat, als Israeli "ohne Religion" registriert zu werden: "Es ist ein historisches Urteil! Übrigens ist es so wunderbar formuliert, dass man fast glauben könnte, die Richter hätten schon Jahrzehnte darauf gewartet, dass endlich jemand ankommt und sein Recht einklagt."

Und ebenfalls in der Jüdischen antwortet der ewige Playboy Rolf Eden (der in seinen jungen Jahren - man glaubt es nicht in der Haganah gekämpft hat!) auf die Frage, was er nach schätzungsweise 1500 Affären über die Frauen weiß: "Diese Frage habe ich mir nie gestellt, sorry. Ich betreibe keine Charakterforschung. Mich interessiert nur der Körper."

TAZ, 27.10.2011

Bertrand Taverniers neuer Film "Die Prinzessin von Montpensier" spielt zur Zeit der Religionskriege in Frankreich. Im Gespräch mit Christoph Huber erklärt Tavernier, was er sich von einem Kostümfilm erträumt, nämlich, "dass die Kamera zur selben Zeit existiert wie die Charaktere, die ja nicht im Bewusstsein leben, der Geschichte anzugehören, sondern in ihrer Zeit: eben keinen 'historischen' Film machen, sondern eine Zeitgenossenschaft zu erzeugen. Ich filme nicht eine vergangene Ära, sondern das, was die Figuren in dieser Ära erleben, von ihr sehen: Wir wissen nie mehr als sie."

Besprochen werden Filme, darunter Sophie Fiennes Dokumentation "Over Your Cities Grass Will Grow" (mehr hier) über Anselm Kiefer und Alain Guiraudies Film "Der König der Fluchten".

Und Tom.

NZZ, 27.10.2011

In der Ausstellung "Israel bauen" im Schweizerischen Architekturmuseum Basel verfolgt Roman Hollenstein die israelische Architekturgeschichte von der zionistischen Avantgarde bis zum kommerziellen Brutalismus: "Sogar gewöhnliche Kulturtouristen bestaunen in Jerusalem nicht nur die Altstadt, sondern immer öfter auch Bauten aus den fünfziger und sechziger Jahren: jene des Givat-Ram-Campus der Hebräischen Universität ebenso wie das tempelartige Knesset-Gebäude von Josef Klarwein und Dov Karmi oder die hellen Kuben des sich wie ein mediterranes Dorf über eine Hügelkuppe ziehenden Israel-Museums von Dora Gad und Al Mansfeld."

Weiteres: Markus Bauer schickt Beobachtungen von einer Reise durch das Rumänien. Besprochen werden Steven Spielbergs "Tim-und-Struppi"-Verfilmung (die Simon Spiegel arg steril geraten findet), Marius Holsts norwegisches Pädagogik-Drama "King of Devil's Island" und zwei Lyrikbände des Tessiners Fabio Pusterla.

Freitag, 27.10.2011

Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogl und dem Finanzwissenschaftler Giacomo Corneo möchte Jakob Augstein "modernes Geld verstehen". Es wird alles ganz einfach, so zeigt es Vogl, wenn man es mit der Zeichentheorie zusammenbringt: "Es ist interessant, dass Ökonomen schon sehr früh, das heißt schon in den siebziger Jahren, nach der Auflösung des Abkommens von Bretton Woods, von einer ökonomischen Postmoderne gesprochen haben, also von einem Vertrauensverlust in bedeutungsvolle, gehaltvolle, referenzielle Zeichen. Ich glaube, die Dinge gehören unmittelbar zusammen. Sie sehen gerade heutzutage - der ansteigende Goldpreis, die Spekulation in Rohstoffe, in Nahrungsmittel et cetera -, dass jede Krise sozusagen ihre eigene Ideologie der Handfestigkeit erzeugt..."

FR/Berliner, 27.10.2011

Der Soziologe Heinz Bude plädiert angesichts der nicht endenden Krise dafür, nicht länger nur auf die Politik zu setzen, sondern auf das Politische, also auf uns selbst: "All die Begriffe, mit denen wir uns vor uns selbst schützen, sei es der Westen, sei es der Wohlfahrtsstaat, sei es der Parlamentarismus oder sei es Europa, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir etwas dafür einsetzen müssen, damit die Dinge sich so entwickeln, wie wir es wollen."

Besprochen werden unter anderem die Ausstellung des mittelalterlichen Bildhauers Niclaus Gerhaert im Frankfurter Liebieghaus, Eva Inoescos Drama "I?m Not a F**king Princess", Miranda Julys Film "The Future", Walter Isaacsons autorisierte Biografie von Steve Jobs und Timothy Snyders Geschichte der "Bloodlands" (Leseprobe) (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zeit, 27.10.2011

Michael Krüger, Chef des Hanser Verlags, macht gegenüber Iris Radisch mehr als deutlich, dass Elisabeth Ruge, bisherige Chefin des Berlin Verlags und demnächst Leiterin von Hanser Berlin, niemals ein Ersatz für ihn sein könnte und deshalb auch nicht seine Nachfolgerin wird: "'Das kann man ganz deutlich sagen. Das wird sie hundertprozentig nicht.' Die Begründung: Da müsse ein ganz anderer Typus her, das könne man Elisabeth Ruge (die, wie die Reporterin im Stillen denkt, doch jahrelang einen vergleichbar großen Verlag geleitet hat) gar nicht zumuten, außerdem habe sie ja zwei Kinder."

Birgit Minichmayr hat in Wien die Rolle der Lulu abgesagt und wird dafür jetzt in München in Horvaths "Kasimir und Karoline" auftreten. Skandal in Österreich (mehr), aber Deutschland kann sich freuen, erklärt ein verzückter Peter Michalzik. Denn die Minichmayr ist "eine der aufregendsten Schauspielerinnen" ihrer Zeit: Im Stück "Weibsteufel" etwa setzte sie sich "gegen Mann und Liebhaber durch. Die Frauen sind fasziniert und denken schaudernd, so stark würden sie auch gerne sein. Und die Männer bekommen Angst, in deren Fänge will man nicht geraten, und denken gleichzeitig, in diese Fänge möchte man unbedingt geraten. Und alle, Frauen wie Männer habe das Gefühl, dass Birgit Minichmayr genauso ist, wie man sie auf der Bühne erlebt. Die Worte werden so sehr Fleisch, dass man meint, reinbeißen können."

Weitere Artikel: Ex-Oasis Liam Gallagher erklärt im Interview, warum die Riots in Manchester seinen Lokalstolz verletzt haben: "Manchester war immer eine selbstbewusste Stadt, und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein paar Idioten in Manchester den Schwachsinn aus London kopieren." In der Reihe "Kapitalismus kaputt?" behauptet der britische Professor Tim Jackson, es gebe auch Wohlstand ohne Wachstum. Maximilian Probst denkt aus gegebenem Anlass über den Tyrannenmord nach. Und Petra Kipphoff notiert vor Berninis "Die Verzückung der heiligen Theresa": "Weibliche Ekstase kennt eben extreme Varianten."

Besprochen werden Leander Haussmanns Film "Hotel Lux" (den Alexander Cammann "verblüffend humorlos" findet), Steven Spielbergs "Tim und Struppi", die neue CD von Peter Licht, "Quo Vadis" auf DVD, die Ausstellung "The Global Contemporary" im Karlsruher ZKM, Bücher, darunter zwei Steve-Jobs-Biografien (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr) und eine Aufnahme der Beethoven-Symphonien mit Riccardo Chailly und dem Leipziger Gewandhausorchester. Hier erklärt Chailly, wie er Beethoven sieht:



FAZ, 27.10.2011

Tobias Rüther trinkt unweit des Kollwitzplatzes Cortado mit Ralph Martin, der ein Buch über den Prenzlauer Berg mit seinen Anti-Barbie-Müttern geschrieben hat. Gerhard R. Koch hat sich im Moskauer Prachttheater Bolschoi umgesehen, das diesen Freitag nach langer Renovierphase wiedereröffnet wird. Die "Staatstrojaner"-Version jüngeren Datums weise im Vergleich zur älteren Variante lediglich kosmetische Änderungen auf, meldet der Chaos Computer Club, wie Stefan Schulz berichtet. Etwas architektonisch "Neues, Provozierendes" in dem Gebiet um die Berliner Friedrichstraße entdeckt Dieter Bartetzko in einem von Jürgen Mayer H. entworfenen Neubau. Bauklötze staunt Peter Rawert darüber, dass ein Artikel der aktuellen Ausgabe der "Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge" unter dem Begriff "Gestaltungsüberlegungen" mehr oder weniger offen unorthodoxe Ratschläge für den Umgang mit geerbtem Schwarzgeld gibt. Rafael Rennicke berichtet von einer Konferenz über den kaum besungenen Komponist und Pianist Carl Czerny. Rüdiger Suchsland unterhält sich mit Bertrand Tavernier, dessen neuer, zwei Seiten zuvor besprochener Film "Die Prinzessin von Montpensier" diese Woche anläuft.

Besprochen werden eine Ausstellung von Arbeiten von Grayson Perry im British Museum, das Split-Album von Bushido und Sido, und Bücher, darunter ein Band mit Erzählungen junger russischer Autoren (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 27.10.2011

"Was tun?", fragt Slavoj Zizek sich und die Occupy-Bewegung in Lenin'scher Manier und verteilt sogleich Ratschläge. Vor allem sei es "wichtig, sich vom pragmatischen Feld der Verhandlungen und der 'realistischen' Vorschläge fernzuhalten. Man sollte immer daran denken, dass jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben muss: Es braucht Zeit, die neuen Inhalte in Stellung zu bringen. Alles, was wir jetzt sagen, kann uns weggenommen werden - alles, nur nicht unser Schweigen. Dieses Schweigen, diese Verweigerung des Dialogs, aller Formen des Clinchens, ist unser 'Terror' - bedrohlich und gefährlich, ganz so, wie es sein muss."

Weiteres: Ira Mazzoni problematisiert Pauschalurteile im Zusammenhang mit Herausgabe von NS-Raubkunst. Niklas Hofmann berichtet von der Eröffnung des von Google spendierten "Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft" in Berlin. Fritz Göttler sendet Notizen von der 49. Viennale. Evelyn Vogel berichtet von der auf Social Media spezialisierten "Stars"-Konferenz in der Schweiz (hier die Videos der Vorträge). Mit viel Freude hat Joseph Hanimann in die Nebenräume von insgesamt vier Stücken der aktuellen Pariser Theatersaison geblickt. Gemeldet wird, dass das Literaturarchiv Monacensia den Nachlass von Monika Mann hier online gestellt hat.

Besprochen werden die Filme "I'm Not a F**king Princess", "The Future" und "poliezei" (sic!), eine Ausstellung über den Pariser Surrealismus in der Fondation Beyeler in Riehen, Hector Berlioz' Oper "Les Troyens" am Staatstheater Karlsruhe und Bücher, darunter Walter Isaacsons Steve-Jobs-Biografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).