Heute in den Feuilletons

Staublose Datei im Netz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2011. Im Umblätterer erklärt die Literaturwissenschaftlerin Constanze Reichardt, was sie an F.C. Delius so schätzt: zum Beispiel seinen Blick auf den Terrorismus in Deutschland. Im Tagesspiegel antwortet der Büchner-Preisträger auf seine Kritiker. In der Welt äußert sich Alaa al-Aswani trotz allem optimistisch über den weiteren Fortgang der ägyptischen Revolution. Ulrich Beck setzt in der taz seine Hoffnung in die Occupy-Bewegung. Die FAZ gerät in Ekstase über Lou Reed und Metallica, die SZ streichelt Vintage-Editionen von Pink Floyd und Velvet Underground.

Aus den Blogs, 29.10.2011

Marcuccio interviewt für den Umblätterer die Literaturwissenschaftlerin Constanze Reichardt, die mit den lauen Reaktionen auf den Büchner-Preis für F.C. Delius gar nicht einverstanden ist. Sie interessiert sich besonders für seinen Blick auf den Terrorismus, etwa in seinem Roman "Mogadischu": "In Delius' Roman steht zum ersten Mal die Perspektive des Opfers im Vordergrund. Die Hauptfigur beschreibt in allen Einzelheiten, was ihr während der fünf Tage, in denen sie den Geiselnehmern ausgeliefert ist, passiert. Für sie haben die Ereignisse natürlich keinerlei symbolische Bedeutung, sondern es geht allein darum, die Entführung zu überleben. Das ist eine Perspektive, die im öffentlichen RAF-Diskurs bis heute immer viel zu kurz gekommen ist. Denn der ist von der Sichtweise der Regierung, aber auch der der Täter geprägt."

FR/Berliner, 29.10.2011

Kalle Lasn von AdBuster, einer der Miterfinder der Occupy-Bewegung hat im Gespräch mit Sebastian Moll keine Berührungsängste gegenüber der Tea Party: "Ich habe die Tea Party seit langem bewundert. Nicht so sehr wegen ihrer Ideen, mit denen ich mich nicht immer identifizieren kann. Aber was wir mit ihnen gemein haben, ist die Erkenntnis, dass in der amerikanischen Gesellschaft grundsätzlich etwas faul ist. Ich hoffe, dass es in der Zukunft eine Koalition zwischen ihrer und unserer Bewegung geben kann, die vielleicht sogar in die Gründung einer dritten Partei in den USA mündet.

Welt, 29.10.2011

Annette Prosinger unterhält sich mit dem Autor Alaa al-Aswani ("Der Jakubijan-Bau") über den Stand der Revolution in Ägypten. Er bleibt optimistisch, auch über die Rolle der Muslimbrüder: "Der Einfluss der Muslimbrüderschaft ist von Mubarak jahrelang übertrieben worden, um seine Position zu stärken. Ich bin absolut gegen die Muslimbrüder, aber ich halte sie nicht für sonderlich gefährlich. Sie werden eine religiöse Rechtsaußen-Partei werden, wie es sie auch in einigen europäischen Ländern gibt."

Marco Frei beleuchtet das berühmte venezolanische Musikprojekt "El Sistema", das sich in immer größerer Nähe zum Caudillo Hugo Chavez bewegt, ausnahmsweise mal kritisch: "Welchen Einfluss die neue Präsidentennähe hat, bleibt offen. Bei 'El Sistema' gibt man sich politisch neutral und unabhängig, über Missstände im Land wird allerdings nicht offen gesprochen."

In der Literarischen Welt bespricht Tilman Krause recht missmutig einige neuere DDR-Romane (den allenthalben gefeierten Roman "In Zeiten abnehmenden Lichts" von Eugen Ruge sieht er als "schalen Aufguss Uwe Tellkamps", dafür kann er Julia Francks viel verrissenem Roman "Rücken an Rücken" einiges abgewinnen). Thomas von Steinaecker legt in einem Essay über Steven Spielbergs "Tim und Struppi"-Verfilmung dar, warum Herge seiner Meinung nach keine Digitalisierung verträgt. Ulrich Weinzierl gratuliert Ruth Klüger zum Achtzigsten.

Besprochen werden außerdem eine neue Dürrenmatt-Biografie, Kate Atkinsons Krimi "Das vergessene Kind" (der Cora Stephan als Gesellschaftsdiagnos weit besser gefällt als "skandinavische Blubäder") und Niall Fergusons Studie "Der Westen und der Rest der Welt".

TAZ, 29.10.2011

Ulrich Beck schreibt einen langen Essay über die Occupy-Bewegung und die Finanzkrise: "Im globalen Risikobewusstsein, in der Antizipation der Katastrophe, die es in jedem Fall zu verhindern gilt, tut sich ein neues machtpolitisches Feld auf. Im Bündnis zwischen globalen Protestbewegungen und nationalstaatlicher Politik könnte jetzt langfristig durchgesetzt werden, dass nicht die Wirtschaft die Demokratie, sondern die Demokratie die Wirtschaft dominiert. Diese goldene Gelegenheit könnte die Occupy-Bewegung, die sich nach innen und außen konsensfähige Ziele setzt, greifbarer machen."

Im Gespräch gibt sich der frühzeitig scheidende Intendant des Maxim Gorki Theaters Armin Petras zuversichtlich, was Werkkontinuität in seinem neuem Arbeitsfeld in Stuttgart betrifft: So hält er "die beiden Dinge Blut und Hoden nicht für etwas Negatives. Blut und Hoden sind für mich etwas Wunderbares, sowohl privat als auch auf der Bühne."

Außerdem: Julia Gewndolyn Schneider porträtiert den Künstler Danilo Duenas, der mit gefundenem Metallschrott hantiert. 

Und Tom.

Tagesspiegel, 29.10.2011

Im Gespräch mit Gerrit Bartels antwortet Büchner-Preisträger F.C. Delius auf Artikel in der SZ und FAZ, die mit dieser Entscheidung nicht recht einverstanden waren: "'Das ist üblich', sagt er, 'das wird oft so gemacht. Ich bin seit über 40, nein, man darf es gar nicht sagen, seit fast 50 Jahren in diesem Literaturbetrieb. Ich kenne die Rituale. Da ein Kritiker im Schnitt vielleicht ein, zwei Bücher von den namhaften Autorinnen und Autoren kennt, da alle wenig oder fast nichts voneinander wirklich gelesen haben, hat dieser Betrieb börsenhafte Züge.'"

NZZ, 29.10.2011

Nur das wirkliche Buch ist ein gutes Buch, meint Open-Access-Feind Roland Reuß: "Ohne diese Materialisation keine selbstbewusste menschliche Individualität, die uns als Vorbild dienen könnte, ohne diese wiederum keine menschenwürdige Entwicklung. Der Schwarm ist dagegen ein Schmarrn, die staublose Datei im Netz ein Tiefpunkt gewonnenen Wissens: Geist, gezeichnet von Anorexie." Adipöse Einsichten!

Außerdem in Literatur und Kunst: Jean-Pierre Jenny erinnert an die Philosophin und Physikerin Laura Bassi, die vor 300 Jahren geboren wurde (die 1732 in Bologna wohl als erste Frau überhaupt eine Universitätsprofessur erhielt). Der Physiker Eduard Kaeser erklärt, was er unter "Wissenschaftskitsch" versteht. Knut Henkel unterhält sich mit dem spanischen Autor Antonio Munoz Molina über die Stadt New York, wo er einen Zweitwohnsitz bezogen hat. Und Daniel Wechlin besucht das nach Renovierung neu eröffnete Bolschoi-Theater.

Fürs Feuilleton bespricht Gabriele Detterer eine große Surrealismus-Ausstellung in der Fondation Beyeler (links Miros "Peinture: Le cheval de cirque"). Der kosovarische Autor Beqe Cufaj erinnert sich in der Kolumne "When the Music's Over" an Rock in Jugoslawien. Und Joachim Güntner stellt das von Google gegründete Alexander-von-Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft vor. Gemeldet wird, dass der tschechische Autor Jiri Grusa gestorben ist.

SZ, 29.10.2011

Pop soll immer das Neueste sein? Karl Bruckmaier winkt ab und streichelt liebevoll seine Klassiker-Neu-Editionen von Pink Floyd bis Nirvana: "So wie es keinen Grund gibt, sich über einen Bildband von Cy Twombly, die Luxusausgabe der Tagebücher Andy Warhols oder eine Neuübersetzung der 'Göttlichen Komödie' zu echauffieren, so wenig Grund gibt es, über Outtakes der 'Loaded'-Sessions von Velvet Underground zu lächeln."

Weiteres: Michael Bitala schwärmt von Dominik Grafs neuem, lose auf dem Mordfall Peggy basierenden Fernsehkrimi "Das unsichtbare Mädchen", der heute bei den Hofer Filmtagen Premiere feiert. "Marke Richter": Abgedruckt ist ein Vortrag von Günter Herzog, der die Karriere Gerhard Richters unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Mit Umweg über Bob Dylan stellt Thomas Steinfeld Heinrich Detering vor, den neuen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Volker Breidecker ist es vorbehalten, dasselbe mit den Vizepräsidenten Nike Wagner, Aris Fioretos und Gustav Seibt zu tun). Jörg Häntzschel bespricht Robert Lepages "Rheingold"-Inszenierung an der New Yorker Met. Susan Vahabzadeh berichtet von neuen österreichischen Filme auf der Viennale. Gunnar Herrmann stellt kurz den an Wikileaks und dem Projekt "Tor" beteiligten Hacker Jacob Appelbaum und seine Arbeit vor.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Holländischer Kunst aus dem 17. Jahrhundert im Berliner Kupferstichkabinett und Annett Gröschners Roman "Walpurgistag" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die SZ am Wochenende blickt anlässlich der Geburt des siebtmilliardsten Menschen in diesen Tagen auf das Bevölkerungswachstum weltweit. Arne Perras hat ein ugandisches Dorf besucht, wo acht Kinder pro Familie keine Seltenheit sind. Petra Steinberger ist sich sicher: Bis auf zehn Milliarden Menschen wird die Weltbevölkerung noch wachsen - dann stabilisiert sich die Zahl. Im Interview ist sich der Biologieprofessor Paul R. Ehrlich sicher, dass die westliche Zivilisation dieses Jahrhundert eine Chance um die 10 Prozent hat, dieses Jahrhundert zu überleben.

FAZ, 29.10.2011

"Geküsst werden" will die Platte, die Lou Reed zusammen mit Metallica gemacht hat (Titel: "Lulu"), "gehalten und geborgen", schreibt ein feierlich entfesselter Dietmar Dath, der besonders das 19 Minuten lange Stück "Junior Dad" feiert: "Es beginnt mit fühlenden Bauchfellzotteln, die aus Onkel Reeds seinsberuhigter Leibesmitte hervorbrummen: 'Mhhhmmmhh . . . would you come to me . . . if I was half drowning . . . mmhhh'. Lars Ulrichs diskreter Schlagzeugtritt, der äußerst höflich einsetzt, stampft kaum, sondern schubst den Sänger freundschaftlich ins Gitterwerk aus wasserblauen Gitarrenlinien im gefrorenen Hallraum. Der Sänger singt brav: 'Would you pull me up . . . is it unfair to ask you . . . huhuu . . . help pull me up.'"

Außerdem in Bilder und Zeiten: Uwe Ebbinghaus schreibt zwei Seiten über das Wort "ok". Cord Riechelmann erklärt, warum Zoodirektoren auch Tierschützer sein müssen. Jan Drees trifft sich mit dem Musiker Peter Licht. Und Claus Lochbihler interviewt den Jazzer Charles Lloyd.

Im Feuilleton begrüßt Felicitas von Lovenberg den Germanisten Heinrich Detering als neuen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Jürgen Dollase unterscheidet in seiner Gastro-Kolumne drei Schulen modernen Kochens. Detlef Borchers resümiert ein erstes Symposion des neuen Google-Instituts an der Humboldt-Uni. Auf der letzten Seite erinnert sich Marcus Jauer an seine erste Reise nach West-Berlin nach dem Mauerfall.

Besprochen werden eine große Ausstellung des Tilman-Riemenschneider-Vorläufers Niclaus Gerhaert im Liebieghaus und Leander Haußmanns Film "Hotel Lux".

In der Frankfurter Anthologie stellt Oliver Vogel ein Gedicht von Ilse Aichinger vor - "Heu:

Heu,
Heu in den Kinderscheuern
wo zu verbrennen
oder dich für immer zu verlieren
gleich leicht ist.
(...)"