01.12.2011. In der Welt versucht Andre Glucksmann, den Westen wachzurütteln. Der Tagesspiegel bringt ein unter anderem von Glucksmann unterzeichnetes Manifest für Europa. Die NZZ hält Artemisia Gentileschi zwar eher für eine feministische Ikone, widmet ihr aber trotzdem eine Seite. In der Zeit entwirft Petros Markaris ein Panorama Griechenlands in der Krise. In der FAZ fordert Evgeny Morozov ein Netz der Bürger und Anonymität beim Musikkonsum.
Welt, 01.12.2011
Nach den Morden Anders Breiviks wie auch der Zwickauer Neonazis fielen die Öffentlichkeiten
Norwegens und Deutschlands aus allen Wolken. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Böse unter uns ist. Für
Andre Glucksmann im
Interview mit Richard Herzinger lässt das tief blicken: "Man erkennt nicht mehr, dass es in der Welt Feinde gibt, verbrecherische Feinde. Dies ist seit Jahren die große Frage, die mich beschäftigt: Die westliche Welt leidet an einer Krankheit, die aus dem Glauben kommt, an
das Ende der Geschichte gelangt zu sein. Wenn man sich aber am Ende der Geschichte wähnt, hat man keinen wirklichen Feind, existiert kein wirkliches Risiko mehr. Diese rosarote Brille ist gefährlich."
Glucksmann spricht auch über
Putin, der sich gerade per Aklamation zum Zar für weitere acht Jahre hat küren lassen und über den die Grünen-Politikerin
Marieluise Beck auf der Meinungsseite
schreibt: "Das Spiel mit den schwachen Institutionen und dem starken Mann an der Spitze kann gut gehen, solange
die Kasse stimmt. Die gegenwärtige Krise gibt aber einen Ausblick auf ein Ende der fetten Jahre."
Im Feuilleton
bespricht Hanns-Georg Rodek den Science Fiction-Film "In Time" mit
Justin Timberlake. Sven Felix Kellerhoff
berichtet, dass die
Vertriebenen-Stiftung ein Gebäude auf dem Askanischen Platz in Berlin bekommt. Matthias Heine
resümiert einen Streit um die französischen Theater-Oscars, die "
Molieres".
Besprochen wird außerdem eine vom Literaturnobelpreisträger
J. M. G. Le Clezio kuratierte
Ausstellung mit viel exotischer Kunst im
Louvre.
SZ, 01.12.2011
Auf zum letzten Gefecht: Neuerlich sitzen sich in Russland die beiden Erzrivalen
Kasparow und
Karpow gegenüber, nicht an einem Schachbrett allerdings, sondern - mit Karpow auf
Putins Seite und Kasparow auf der oppositionellen - im Feld der Politik. In einem schönen Artikel umreißt Fridolin Schley nicht nur die gegenwärtige politische Lage am Vorabend der
Parlamentswahlen, sondern auch die Geschichte einer Jahrzehnte währenden Rivalität: "Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen 1984 sind die Rollen von Kasparow und Karpow schnell verteilt. Auf der einen Seite der Titelverteidiger Karpow, der
Günstling des Sowjetregimes, kantige Gesichtszüge, stechender Blick. Alles an ihm ist glatt. Er ist erst 33 Jahre alt, aber er wirkt bereits wie ein überkommenes Relikt. Auf der anderen Seite Kasparow, der kritische Rebell, mit strubbeligen Locken und kessem Bartschatten, das noch etwas runde Gesicht eines Einundzwanzigjährigen, der
eine ganze Weltordnung herausfordert."
Weitere Artikel: Tobias Kniebe erzählt, wie
Steven Spielberg zum Stoff seines kommenden Films "
Gefährten" (Kinostart im Februar) kam. In der generalsanierten Neuen Galerie in Kassel sieht Till Briegleb einen irritierten Arbeiter auf einen von
Ai Weiweis "1001 chairs" Brotzeit machen. Wolfgang Jean Stock macht sich wegen des
Layout-Relaunchs der
Architekturzeitschrift "Der Baumeister" ernsthaft Sorgen um die Zukunft des Traditionsblatts. Burkhard Müller vergleicht neuere Übersetzung von
Fitzgeralds "Der Große Gatsby". Alexis Waltz stellt das zweite, sich am
Stadionrock der 70er abarbeitende Album der Band
Justice vor.
Besprochen werden die Filme "
London Boulevard" ("ein dreckiger kleiner Film",
findet Fritz Göttler), "
Kein Sex ist keine Lösung", sowie "
Jane Eyre",
Sebastian Baumgartens "wüste Verarbeitung der 'Carmen'-Klischees" an der
Komischen Oper Berlin, und Bücher, darunter
Christian Stöckers "
Nerd Attack" über die Geschichte der Hackerbewegung (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
FAZ, 01.12.2011
"
Occupy the Net",
fordert Evgeny Morozov in der neuen monatlichen Kolumne "Silicon-Demokratie" und tritt damit entschieden gegen die
Social-Media-Giganten mit ihrer
Klarnamenpflicht an. Statt dessen wünscht er sich ein "
Bürger-Internet". Und stellt Forderungen auf, die bei der deutschen Verwerterschaft wohl eher für Verlegenheit sorgen: "Kann irgendetwas mit den scheinbar unerschöpflichen Musikbibliotheken konkurrieren, die bei Streaming-Portalen wie
Spotify erhältlich sind? Nein. Aber versuchen Sie einmal, sich ohne Facebook-Konto anzumelden. Spotify verlangt, dass Neukunden über ein
Facebook-Konto verfügen, was eben nur möglich ist, wenn Sie bereit sind, sich mit Ihrem realen Namen bei Facebook anzumelden. So wird
anonymes Musikhören stigmatisiert."
Hier im übrigen das englische Original des Texts.
Demokratie-Test bestanden: Der
Schriftsteller Peter Zilahy freut sich über die
Massenproteste in Ungarn gegen die neue, hart rechtsgestrickte Regierung: "Sehr viel mehr Menschen sind heute auf den Straßen als die paar tausend, die in den späten Achtzigern demonstrierten."
Weitere Artikel: Paul Ingendaay informiert über Bestrebungen in Spanien,
Franco umzubetten und damit auch die
faschistische Bauanlage rings um das Grab neuzukonzipieren. Joseph Croitoru liest Kommentare in osteuropäischen Zeitschriften zur Arbeit des Belgrader Zentrums für Menschenrechte gegen die
nationalistische Geschichtsklitterung im öffentlichen Raum
Serbiens. Gundula Wegner besucht zu deren 50. Jubiläumstag der Wiedereröffnung die
Synagoge in
Worms. Kerstin Holm hat den kurzen Nachruf auf
Stalins einzige Tochter,
Lana Peters, verfasst.
Besprochen werden ein von
Kent Nagano dirigiertes
Dvorak-Konzert in Berlin, die
Ausstellung "Perugino - Raffaels Meister" in der
Alten Pinakothek in München eine der, Niklas Maak zufolge, "
besten Renaissance-Ausstellungen des Jahres" und viele Bücher, darunter eine persönliche Filmbiografie "zwischen Esprit und Dilettantismus" von
Fatih Akin (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
Freitag, 01.12.2011
Axel Brüggemann
möchte nach dem
Volksentscheid über Stuttgart 21 gern über Form und Zweck von Volksentscheiden debattieren. So berechtigt er den Protest fand, so wenig gefällt ihm die Art, wie Stuttgart-21-Gegner auf ihre Niederlage reagieren: "Es spricht nicht für die
demokratische Mündigkeit der Protestler, dass sie eine der wenigen deutschen Voksabstimmungen als
Krieg verstehen. Dann hätten wir uns die Stimmzettel sparen und das Bahnhofsgelände als Ausnahmezone etablieren können: Steinschleudern gegen Tränengas! Römisches Colosseum statt Griechischer Demokratie."
Außerdem: Der Literaturwissenschaftler
Ralf Klausnitzer denkt über Open Science nach. Und Michael Angele
fasst die Reaktionen auf Giovanni di Lorenzos
Zeit-Interview mit
Guttenberg zusammen.
Weitere Medien, 01.12.2011
Tuvia Tenenbom, durch und durch amerikanischer Jude, hat sich für die
Jüdische Allgemeine mal in Neumünster den "
Club 88"
angesehen. 88 steht natürlich für HH wie Heil Hitler. Frank, der Obernazi hinter der Theke, war echt spendabel, außerdem hat er voll den Durchblick: "Hier, zeigt er mir, ist das Bild des
jüdischen Teufels. Es ist ein Stempel. Er erklärt: 'Die Juden, die die Welt beherrschen, stempeln damit alles, was ihnen gehört. Wenn du diesen Stempel siehst, weißt du, dass du unter der
totalen Kontrolle der Juden stehst.' Ob der Stempel mich an etwas erinnere, fragt er. Nicht wirklich. Er holt seinen deutschen Personalausweis heraus, dreht ihn um, dreht auch die Abbildung auf der Rückseite um."
Tagesspiegel, 01.12.2011
Stephen Frears bekommt den europäischen Filmpreis. Der
Tagesspiegel hat Christiane Peitz nach Notting Hill geschickt, um ihn zu
interviewen. London ist duchaus multikulturell geworden, meint er, aber Notting Hill ist "
vor allem stinkreich. Haben Sie die Preise in den Auslagen gesehen? Es sind unvorstellbare Zahlen. Der Laden dort gehörte einst einem blinden indischen Schneider. Da drüben war ein Elektrogeschäft, überall gab es kleine Läden mit nützlichen Dingen, sie sind fast alle verschwunden. Der Eckladen hier ist ein Enthaarungs-Studio und im Cafe plaudern die Kellner über Victoria Beckham. Es gibt
kein Entkommen."
Außerdem bringt der
Tagesspiegel ein
Manifest europäischer Intellektueller (unterzeichnet unter anderem von
Andre Glucksmann,
Bernard-Henri Levy,
Peter Schneider und
Hans Christoph Buch): "Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa, nicht weniger, sondern mehr Demokratie. Dazu gehört größere Entscheidungsbefugnis nicht nur fürs EU-Parlament, sondern auch für Europas Bürger. Wir brauchen eine europaweite Debatte über Auswege aus der Krise. Warum hat kein Politiker den Wählern vorgerechnet, was die Rückkehr zur nationalen Währung oder die Reduzierung des Euro auf Kerneuropa kosten würde? Angesichts des drohenden Scheiterns der EU dürfen wir die Diskussion nicht länger
den Experten überlassen."
NZZ, 01.12.2011

Sergiusz Michalski
hält Artemisia Gentileschi zwar eher für eine
feministische Ikone als für eine ebenbürtige Barockmalerin, über die ihr gewidmete Ausstellung in Mailand schreibt er aber zum Glück trotzdem eine ganz Seite. Am besten gefällt ihm natürlich "Judith und Holofernes", in dem er Gentileschis Vergewaltigung durch den Maler Agostino Tassi gerächt sieht: "Es sind
die starken Hände und weniger die von der Heldin entschlossen eingesetzte Schwertklinge, die dem Assyrerfürsten sein grausames Schicksal zu bereiten scheinen. Die verzweifelte Gegenwehr des schlaftrunkenen Mannes geht im Knäuel der Körperteile und Leidenschaften unter, seine
Blutströme fließen auf dem herrlichen weißgrauen Laken nach unten. Die rohe Kraft der Szene überwältigt gleichsam, man glaubt dahinter ein persönliches Anliegen zu spüren."
Besprochen werden
Roman Polanskis Verfilmung Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels", Wolfgang Murnbergers Nazi-Klamotte "Mein bester Feind", Alvis Hermanis'
Inszenierung von
Puschkins Versroman "Eugen Onegin" an der Berliner Schaubühne und
Bora Cosics Erinnerungen "Eine kurze Kindheit in Agram" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Jungle World, 01.12.2011
Alex Feuerherdt
schreibt über Antisemitismus in der "
Occupy"-Bewegung - auch in Deutschland. Häufig präsentiere er sich als eine Entstellung zur Kenntlichkeitantikapitalistischer Diskurse: "Um diese
abstrakte Macht angreifen zu können, muss sie
konkrete Gesichter bekommen, also personalisiert werden. Und um den Angriff zu rechtfertigen, bedarf es des Hinweises auf die moralische Niedertracht der Träger dieser Macht und auf die Legitimität des eigenen Handelns - das bereits durch die Behauptung,
99 Prozent der Menschen zu repräsentieren, als unhinterfragbar hingestellt wird. Im antisemitischen Weltbild wird das Abstrakte dabei in den Juden personalisiert, den angeblichen Drahtziehern und wichtigsten Profiteuren von Kapitalismus und Krise. "
Zeit, 01.12.2011
Für das
Dossier schickt der
Schriftsteller Petros Markaris einen bewegenden Text aus Griechenland, in dem er die gesellschaftlichen Gruppen beschreibt, die von dem Klientelsystem profitiert und die unter ihm gelitten haben. Neben all den Bauunternehmern, Steuerhinterziehern und Ärzten gehört zu den Gewinnern auch die
Generation des Polytechnikums, die 1973 so tapfer gegen die Militärdiktatur gekämpft hat. Später jedoch hat sie "das Land verwüstet. Sie wollte mit
linkem Jargon ein neues Griechenland aufbauen und ist daran gescheitert. Die
Anständigen unter ihnen haben sich zurückgezogen und kümmern sich um sich selbst. Die anderen gingen in die Politik, ergatterten einen lukrativen Job als Unternehmer im Klientelsystem oder einen lohnenden Posten im Staatsapparat. Anfang der achtziger Jahre war dieser linke Jargon entscheidend, wenn man unter dem Banner der Pasok in die Politik einziehen oder sich einen Platz im Staatsapparat sichern wollte. Wer den Jargon nicht draufhatte, war Teil des alten, reaktionären Systems."
Im Feuilleton findet Moritz von Uslar Allesdenker
Slavoj Zizek einfach pop: "Er bleibt ein schöner Mann." Im Interview mit Stefanie Flamm spricht
Michel Piccoli über seinen neuen Film
"Habemus Papam", in dem er, 86-jährig, einen zweifelnden Papst spielt, über seinen eigenen Atheismus und das gute Leben, das ihn "mit all seinen Komplikationen immer noch
ungeheuer amüsiert". Anna Marohn kann nach einem Besuch bei
Ken Jebsen gut verstehen, dass der
RBB seinen gefeuerten Radiomoderator nicht länger live senden lassen wollte.
Besprochen werden unter anderem eine Retrospektive des Luxemburger Popkünstlers
Michel Majerus im
Kunstmuseum Stuttgart, die beiden
Bronte-Verfilmungen
"Jane Eyre" und
"Sturmhöhe", Alvis Hermanis' Inszenierung von
Puschkins "Eugen Onegin", die Disco-CD "Arabxilla" der in Berlin lebenden venezolanischen Sängerin
Aerea Negrot (hier ihr
"Listen to the people" bei
Youtube) und Bücher, darunter
Elias Canettis Briefwechsel mit seiner Geliebten
Marie-Louise von Motesiczky und
Orlando Figes' Geschichte des Krimkriegs (mehr in unserer
Bücherschau des Tages).
Im vorderen Teil bemüht sich die
Zeit nach dem
Guttenberg-Interview offenbar um Schadensbegrenzung und druckt eine mehr als maue Erklärung Giovanni di Lorenzos sowie zwei Seiten empörte Leserbriefe.