Heute in den Feuilletons

Zurschaustellung von Toms Fitness

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2011. Die taz porträtiert den Blogger Alexei Nawalny, der die russischen Proteste gegen Putin inspirierte. Die Welt staunt: Schon der Christie's-Katalog der Diamanten Elizabeth Taylors kostet 2.500 Dollar. Außerdem wünscht die Welt alternden Dirigenten Mut zum Abschied. Im Tagesspiegel spricht Regisseur David Wnendt über Frauen in der Nazi-Szene. Die NZZ wiegt den Kopf zu Pfitzner. Bei Holger Ehling erklärt der spanische Verleger Jorge Herralde, warum  die wichtigen spanischen Verlage alle in Barcelona sind.

TAZ, 12.12.2011

Auf einer Tagesthemenseite stellt Klaus-Helge Donath Alexej Nawalny vor, den Kopf der neuen russischen Opposition: "Seit fünf Jahren führt der Familienvater einen Blog, den Hunderttausende regelmäßig lesen. Darin geht es vor allem gegen Korruption und Willkür in Staat und Großbetrieben. Der Rechtsanwalt und Finanzexperte deckte nicht nur Unterschlagungen in Milliardenhöhe auf. Fast wichtiger noch ist sein Beitrag zur Entwicklung der Zivilgesellschaft: Dem Zynismus, der das russische Netz beherrschte, setzte er erfolgreich zielgerichteten Protest, Inhalte, beneidenswerten Mut und ein Schuss Moral entgegen."

Weiteres: Christian Semler berichtet von einer Tagung zu unterschiedlichen Gedenkkulturen in den USA und Deutschland. Besprochen werden eine Retrospektive des niederländischen Videokünstlers Aernout Mik im Essener Museum Folkwang, Philippe Descolas Schrift "Jenseits von Natur und Kultur" sowie die Reportagen ""Glaubensrepublik Deutschland" von Matthias Drobinski und Claudia Keller (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 12.12.2011

Holger Ehling unterhält sich für sein Blog mit dem spanischen Verleger Jorge Herralde (Editorial Anagrama), der unter anderem erklärt, warum die wichtigsten spanischen Verlage ausgerechnet in Katalonien beheimatet sind: "Barcelona liegt nahe an der französischen Grenze, hatte immer schon einen bedeutenden Hafen und ist recht weit weg von Madrid, wo ja die staatliche Macht ihren Sitz hatte. Diese staatliche Macht zeichnete sich über die Jahrhunderte hinweg vor allem durch ihre reaktionäre Haltung gegenüber neuen und eigenständigen kulturellen Ansätzen aus. Da war den Künstlern und Schriftstellern und Verlegern die Distanz schon recht willkommen."

Beim Umblätterer erinnert man sich unter Dreingabe passender YouTube-Links an das von Rainald Goetz im September 2001 initiierte TV-Experiment "Fernsehen I-III" im ZDF nachtstudio, bei dem eine feste Talkrunde dreimal, jeweils ergänzt um einen wechselnden Gast, über zuvor vereinbarte TV-Sendungen diskutierte: "Am Schluss dieses dreifolgigen 'nachtstudio'-Experiments wird noch gefragt: 'Ist das Fernsehen als Ganzes vielleicht das größte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts überhaupt?' Wenn man das damals vor 10 Jahren mit Enzensbergers 'Nullmedium'-Idee im Hinterkopf als provokant empfunden haben könnte, ist es heute eine noch berechtigtere Frage, aus historischer, aus kunsthistorischer Sicht, denn das 20. Jahrhundert ist ja genauso vorbei wie das Fernsehen as we knew it."

Anne Applebaum konstatiert in Slate, dass Londons Politik nun komplett von den Finanzmanagern der City diktiert wird: "There is a good deal of truth in the old cliches about the gap between the Anglo-Saxon mentality and the Continental mentality. At the same time, something has altered further in the London mentality, if not the British mentality, in the past decade. Britain?s recession, the worst in decades, is almost invisible in booming central London. And the London City now has more in common with an offshore hub like Dubai than it does with Paris or Berlin."

Google Translate scheint einen Narren an Angelina Jolie gefressen zu haben, meldet Gizmodo:


Welt, 12.12.2011

Dirigenten - wissen nie, wann sie aufhören müssen. In New York schiebt der kranke 67-jährige James Levine seinen Abschied hinaus, berichtet Manuel Brug, und Daniel Barenboim wird "bei Vertragsende 2022 dreißig Jahre Berliner Staatsoper abgesessen haben, von denen bisher höchstens die ersten zehn geglänzt haben". Nur Simone Young hat jetzt in Hamburg erklärt, sie wolle 2015 aufhören. Wer sich die Diamanten von Liz Taylor nicht leisten kann, kann sie für 2.500 Dollar immerhin im Deluxe-Ausstellungskatalog von Christie's bewundern, informiert Peter Dittmar in der Leitglosse. Sarah Elsing denkt über Design und Moral nach.

Besprochen werden der Tom-Cruise-Film "Mission: Impossible" ("fast jede Sequenz ... ist eine Zurschaustellung von Toms Fitness", notiert Hanns-Georg Rodek), ein Atlas der fiktiven Orte, die Aufführung von Pfitzners Oper "Palestrina" in Zürich (Ingo Metzmacher dirigiert) und ein "Kirschgarten" in der Inszenierung von Lensing/Hein in den Berliner Sophiensälen ("selten ist außerhalb des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes einem Publikum dermaßen hartnäckig etwas vorgeschrien worden wie hier", klagt Matthias Heine).

NZZ, 12.12.2011

Einfach großartig fand Peter Hagmann Ingo Metzmachers Aufführung von Hans Pfitzners "Palestrina", wenn auch politisch nicht unbedingt korrekt: "Anders als Christian Thielemann, der Pfitzner-Spezialist vom Dienst, der in jedem Fall die dunkle und betörende Seite der Partitur betont, zielt Metzmacher im ersten Akt auf ihre visionären Züge. Fast dekonstruiert wirkt die Musik hier; trocken, geradezu expressionistisch klingt sie - was die Orchesterbesetzung mit ihrem starken Bläserapparat und der im Vergleich dazu kleinen Streichergruppe noch unterstreicht. Zu animiertem, witzigem, schlagfertigem Parlando findet sie im zweiten Akt, während sie am Ende in unsagbarer Resignation versinkt. Wer das mit offenem Ohr und wachem Herzen verfolgt, wird es so rasch nicht vergessen."

Weiteres: Thomas Hermann schreibt zum Tod des britischen Autors Gilbert Adair. Marc Zitzmann empfiehlt wohl eher für den nächsten Sommer die Gärten des normannischen Varengeville. Barbara Villiger Heilig bespricht Elfriede Jelineks Bearbeitung von Oscar Wildes "Der ideale Mann" am Schauspielhaus Zürich.

Tagesspiegel, 12.12.2011

Christian Schröder interviewte für die Sonntagsausgabe den Regisseur David Wnendt, der gerade den Spielfilm "Kriegerin" über ein Neonazi-Mädchen gemacht hat. Frauen spielen eine größere Rolle als bekannt in der Szene, erzählt er: "Sie sind nicht nur dabei, weil ihr Freund Skinhead ist, nein, sie sind genauso rassistisch und gewalttätig. Einige versuchen, in NPD-Ämtern auf legal-bürgerlichem Weg für ihre Ziele zu kämpfen und machen dann etwa in Elternvertretungen, Vereinen und Verbänden mit. Andere sind in Kameradschaften." Auf der gleichen Seite gibt Lorenz Maroldt einen Überblick über Filme zum Thema (und hätte eventuell noch Roland Steiners Film "Unsere Kinder" von 1989 erwähnen können, der, noch zu DDR-Zeiten gedreht, erstmals über Neonazis in den neuen Ländern sprach.)

Weitere Medien, 12.12.2011

Oh je, immer noch keine Konkurrenz zum Ipad, berichtet David Streitfeld in der New York Times: "The Kindle Fire, Amazon's heavily promoted tablet, is less than a blazing success with many of its early users. The most disgruntled are packing the device up and firing it back to the retailer."

(via boingboing) Amelia Hill berichtet im Guardian von einer bizarren Party einer Gruppe Briten, darunter zwei Tory-Abgeordnete, im savoischen Val Thorens. Jemand trug eine SS-Uniform und es wurden Nazi-Parolen gesungen: "The party was said to have moved on to a British-themed pub, where partygoers adopted thick German accents and chanted: 'Mein Fuhrer! Mein Fuhrer! Mein Fuhrer!', 'Himmler! Himmler! Himmler!' and 'Eichmann! Eichmann! Eichmann!'" Was uns interessiert: Wo war Prinz Harry an dem Tag?
Stichwörter: Guardian, New York, Pubs, Vals, Kindle

SZ, 12.12.2011

Tim Neshitov wirft einen Blick in die russische "Küchenliteratur", also unveröffentlichte oder nur in kleinem Kreis zirkulierende Literatur, deren Autoren sich zur formierenden Protestbewegung in Russland zählen lassen. Das unveröffentlichte Imkerbuch von Nikolaj Bodnartschuk etwa "spiegelt die Irrationalität des russischen Alltags wider, obwohl es eine sichere Distanz zur politischen Aktualität bewahrt. Dies ist nicht einfach, denn der russische Alltag ist politisch verseucht. Premier und Präsident sind allgegenwärtig, sie spielen Badminton und Klavier, fahren Mähdrescher und bezwingen sibirische Tiger im Staatsfernsehen, auf youtube, auf twitter."

Alexis Waltz würdigt "E2-E4", Manuel Göttschings vor 30 Jahren erschienenes, "beinahe monströs visionär(es)" Minimal-Electro-Album, das nur aus einem einzigen, zu den üblichen Anforderungen eines Popsongs quer stehendem Stück besteht: "An Alben wie Brian Enos 'Music for Airports' anknüpfend, brach Göttsching [das] kurzatmige Zeitregime des Pop auf. Im Everchanging-Neverchanging der sich endlos wiederholenden, aber doch modifizierten Loops verlieren die Klänge ihren Charakter als unterscheidbare musikalische Botschaften und entwickeln die Selbstverständlichkeit eines Gegenstandes im Raum." Ein Auszug:



Weitere Artikel: Vasco Boenisch schaut sich die aktuellen, auf Revolte und Krawall gebürsteten Produktionen des Essener Schauspiels genauer an, um schlicht zu resümieren: "Als Aufstands-Wauwau fehlt es dem kampfeslustigen Schauspiel aber noch an Biss." Gustav Seibt schreibt den Nachruf auf den britischen Autor Gilbert Adair, den Seibt zu den "Größten seiner Epoche" zählt.

Besprochen werden neue DVDs, ein Dokumentarfilm über den Jazzmusiker Michel Petrucciani, eine Gustav-Klimt-Ausstellung, mit der das Belvedere Wien auf das kommende Klimt-Jubeljahr gar nicht erst warten will, und Bücher, darunter zwei neuaufgelegte Romane von Wolf von Niebelschütz (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 12.12.2011

Klimafunktionär Joachim Schellnhuber äußert sich im Gespräch mit Joachim Müller-Jung recht zufrieden mit den Ergebnissen des Klimagipfels in Durban und freut sich vor allem über eine neue europäisch-afrikanische Achse. Detlef Borchers berichtet von der Versteigerung eines Papiers aus Ur-Apple-Zeiten, das dem Mitbegründer Ron Wayne 10 Prozent am Unternehmen zugesteht - schade, dass er sie nicht gehalten hat, sonst hätte er heute 30 Milliarden Dollar auf dem Konto (und nicht drei, wie Borchers ausrechnet). Kerstin Holm freut sich in der Leitglosse über die Breite der Proteste gegen die gefälschten russischen Wahlen. Matthias Hannemann verfolgte die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Tomas Tranströmer. Hannes Hintermeier schreibt zum Tod des englischen Autors Gilbert Adair.

Besprochen werden Shakespeare-Inszenierungen am renovierten Meininger Theater, eine Inszenierung "Richards II." von Michael Grandage in London, Sabine Bernardis Film "Romeos" und Bücher, darunter ein großes Händel-Handbuch in 6 Bänden (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).