Heute in den Feuilletons

Einsamkeit, Zweifel, Verlustängste

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2011. In der FAZ möchte Sigmar Gabriel die europäischen Bürger  von der Zuschauertribüne holen. Außerdem bringt die FAZ den dritten Götz-Aly-Verriss: diesmal von Hans-Ulrich Wehler höchstpersönlich. Die SZ berichtet über die Angst  ägyptischer Intellektueller, von den Mühlsteinen des Islamismus und des Militärs aufgerieben zu werden. Die taz bringt eine Hommage auf Bob Dylans Hommage auf Hank Williams. Die NZZ sammelt Stimmen russischer Autoren zu den gefälschten Wahlen. In der New York Times protestieren Autoren gegen die Price-Check-App von Amazon.

TAZ, 13.12.2011

Ulrich Rüdenauer preist das von Bob Dylan herausgegebene Album "The Lost Notebooks", mit dem verschiedene Musiker Hank Williams und seinen bisher unveröffentlichten Songs Tribut zollen: "Die Songs von Hank Williams handeln von Gefühlszuständen, die im Nachkriegs-Amerika zwar eine ganze Generation am Wickel hatte - Einsamkeit, Zweifel, Verlustängste. Die aber kaum jemand, und schon gar kein Countrysänger, mit solch aufrichtigem Sentiment auszudrücken verstand. Mit Hank Williams hielt in der populären weißen Musik etwas Einzug, was bislang verpönt war: Verletzlichkeit zu zeigen."

Hier sein schöner Klagegesang "I'm so lonesome I could cry":



Weiteres: Lukas Foerster berichtet von einer Berliner Diskussion zum Drehbuchschreiben. Aram Lintzel rückt in seiner Kolumne der Langeweile als kulturellem Phänomen zu Leibe. Besprochen werden Eliot Weinbergers Essays "Orangen! Erdnüsse!" und Marc Engelhardts Porträt der diesjährigen drei Nobelpreisträgerinnen "Starke Frauen für den Frieden" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 13.12.2011

Könnte es sein, dass Amazon mit seiner Price-Check-App (Kunden sollen in Buchgeschäften den Barcode scannen, und die Waren dann bei Amazon kaufen, wir berichteten) ein Schrittlein zu weit gegangen ist? Der Schriftsteller Richard Russo schreibt in der New York Times: "I wondered what my writer friends made of all this, so I dashed off an e-mail to Scott Turow, the president of the Authors Guild, and cc?ed Stephen King, Dennis Lehane, Andre Dubus III, Anita Shreve, Tom Perrotta and Ann Patchett. These writers all derive considerable income from Amazon's book sales. But when the responses to my query started coming in it was clear Amazon's program would find no defenders in our ranks."

In Focus bringt eine Strecke mit Bildern von den Protesten in Moskau am vergangenen Wochenende.

Welt, 13.12.2011

Reinhard Mohr ist immer noch ganz ergriffen, wenn er sich daran erinnert, wie er vor 30 Jahren mit Kommilitonen Hilfspakete nach Polen brachte. Gerhard Gnauck stellt zwei Film und ein Buch über Solidarnosc und Lech Walesa vor. In den USA stirbt die Post, nach Walmart immerhin der größte Arbeitgeber des Landes, meldet Uwe Schmitt. Ulf Poschardt ärgert sich über die Berliner Bürokratie, die die Modernisierung des Kurfürstendamms verzögere. Wieland Freund schreibt zum Tod des Autors Gilbert Adair. Joachim Lange beschreibt die Renovierung des Thüringer Theaters samt erster Inszenierungen.

Besprochen werden eine Ausstellung im Pariser Grand Palais über Einfluss und Ehrgeiz der Steins und Katie Mitchells Inszenierung von Manfred Trojahns neuer Oper "Orest" in Amsterdamm.

Aus den Blogs, 13.12.2011

Der zweite Trailer zu dem Magaret-Thatcher-Film mit Meryl Streep ist raus. Die Stimme und den Akzent kriegt sie prima hin. Hier der Trailer:



Und hier das Original:

Stichwörter: Streep, Meryl

NZZ, 13.12.2011

Ulrich M. Schmid versammelt Stimmen von russischen Autoren, die sich gegen Putin und die Wahlfälschungen zu Wort melden, etwa der unvermeidliche Eduard Limonow oder Boris Akunin. Und Ljudmila Ulitzkaja: "Wir leben in einem Menschenfresserstaat. In diesem Jahr wurde unser Militärbudget um ein Drittel erhöht. Ich habe nicht bemerkt, dass Russland von außen bedroht wird. Das insinuiert nur die Duma, die sich in der Hand der Präsidentenadministration befindet. Der Staat ist ein unausweichliches Übel. Man muss ihn ständig kontrollieren, damit er seine Bürger nicht an der Gurgel packt.'"

Weiteres: Christoph Schmidt berichtet von einem israelischen Rabbiner, der sich gegen die Politisierung der Religion wendet. Besprochen werden eine "Kirschgarten"-Inszenierung in den Berliner Sophiensaelen, Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich" und eine Biografie des isländischen Schriftstellers und Politikers Snorri Sturluson.

Auf der Medienseite stellt Stephan Russ-Mohl die amerikanische Studie "Public Support for the Media" vor, die illustriere, wie "gut das Lobbying der Medienhäuser funktioniert, um sich die bestehenden staatlichen Futter- und Fördertöpfe zu erhalten".

SZ, 13.12.2011

Ina Hartwig berichtet von einer Tagung im Goethe-Institut Kairo in Sichtweite zum Tahrir-Platz über "Kultur und Politik in der Übergangszeit", die nach zwei diskussionsreichen Tagen vor allem eines verdeutlichte: "Die arabischen Intellektuellen sind sehr besorgt. Zwischen der sich bei der laufenden Wahl abzeichnenden Mehrheit der Islamisten und dem um seine Pfründe ringenden Militärrat sehen sie ihren Spielraum schrumpfen."

Fritz Göttler erwärmt sich sehr für jene Graphic Novels der Saison, die große Werke der Literatur für die eigene Form fruchtbar machen: "Die dichtesten der neuen Graphic Novels erforschen über ihre Textvorlagen das szenische Potential der Sprache, die Inszenierung, die sie betreibt, wie sie Räume und Beziehungen baut und dadurch Bedeutung schafft."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp stellt den italienischen Maler Franco Viola vor, dessen Arbeiten er "als eine Art Gegenpol zum Werk" von Cy Twombly in Stellung bringt (hier ein paar wenige Eindrücke). Florian Kessler berichtet vom Architektursymposium "Min to Max" im HAU Berlin, das sich mit architektonischen Maßnahmen für das Wohnen am Existenzminimum befasst hat. Unterdessen hat Matthias Waha in Bielefeld eine Tagung zu Gegenwart und Zeitgenossenschaft in der heutigen Literatur besucht.

Besprochen werden Hubert Schipkowskis Stück "Epic 3.0" am Theater Heidelberg ("ganz flott und mit Tendenz zur Hyperaktivität", findet Jürgen Berger), das Endzeit-Filmmelodram "Perfect Sense", das mit "sinnlicher Intimität und kühler Poesie das Innenleben der Krisen der modernen Welt" illustriert, Katie Mitchells Reinhard Brembeck ratlos hinterlassende Inszenierung von Manfred Trojahns Oper "Orest" am Amsterdamer Muziektheater und Bücher, darunter Jan Koneffkes Roman "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.12.2011

Dreispaltig versucht SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel zu erklären "was wir Europa wirklich schulden". Allenfalls im ersten und letzten Absatz macht er ein paar Konzessionen an den Kontext der Kulturseiten und nennt ein paar Namen von Intellektuellen, im wesentlichen aber greift er Angela Merkel an. Immerhin beklagt er auch das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit: "Natürlich sind Schritte zu einer echten politischen Integration als Alternative zu (Merkels) Als-ob-Politik unendlich mühselig und brauchen Zeit. Wir hätten schon die letzten zwei Jahre dafür nutzen müssen. Vor allem wäre darüber eine politische Debatte in Europa notwendig gewesen. Stattdessen sind die Bürgerinnen und Bürger Europas auf die Zuschauertribüne verbannt worden. Ihr gellendes Pfeifkonzert dauerhaft zu ignorieren wird langsam gefährlich."

Die FAZ bringt jetzt schon die dritte Negativrezension zu Götz Alys Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" (hier Patrick Bahners' Verriss, Thomas Webers Polemik vom 10. Oktober darf man für fünf Euro Mindesteinsatz im FAZ-Archiv kaufen). Hans-Ulrich Wehler höchstselbst, der große alte Mann der deutschen Geschichtswissenschaft, greift Alys These vom Sozialneid als Motiv des deutschen Antisemitismus an. Ein "Flop" sei das Buch, behauptet er, und skizziert als Idylle, was nach Aly gerade der Auslöser des Neids ist: "1914 stellten Wissenschaftler jüdischer Herkunft, wie ein berühmter Aufsatz des deutsch-amerikanischen Historikers Fritz Ringer dargetan hat, ein Fünftel der deutschen Hochschullehrer - ein Beweis für aktiven Sozialneid unter den angeblich besonders empfindsamen Akademikern?"

Weitere Artikel: Andreas Rossmann mokiert sich in der Leitglosse über ein missratenes Fundraising-Dinner a l'americaine in der Kunstsammlung NRW. Gina Thomas betrachtet eine jüngst aufgefundene Bleistiftskizze, die angeblich Jane Austen darstellt. Auf der Medienseite notiert Jürg Altwegg, dass der Schweizer Populist Christoph Blocher nun also doch als Finanzier hinter der Basler Zeitung steckt.

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung über Venedig und Ägypten im Dogenpalast, Pfitzners "Palestrina" in Zürich und Bücher, darunter Ivan Ivanjis Roman "Buchstaben vom Feuer" (mehr in unserer Büchrschau ab 14 Uhr).