Heute in den Feuilletons

Stolz und ungetröstet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2011. "Erbärmliche Versager!" In der Welt schimpft Klaus Harpprecht auf die deutschen Intellektuellen, die zu Europa nichts zu sagen haben.  Die NZZ bringt Durs Grünbeins Rede über die Büchner-Preisreden Gottfried Benns und Paul Celans: Zwei Dichter auf der Suche nach dem Nicht-Gedicht. In der taz räumt Michael Hardt mit dem Mythos vom Finanzkapital auf. Die FAZ macht sich Sorgen: Je langweiliger Jean-Claude Juncker wird, desto dramatischer steht's um Europa.

Welt, 17.12.2011

Lauthals und unter dem Titel "Erbärmliche Versager" schimpft der große alte Publizist Klaus Harpprecht auf die deutschen Intellektuellen, die sich so gut wie gar nicht zu Europa einmischen: "Sie warfen sich nicht einmal gegen die ungarische Knebelung der Medien und die aggressive 'Volkstums'-Politik (samt Roma-Verfolgung und Antisemitismus) ins Zeug, um der Kommission in Brüssel und vor allem dem Europa-Parlament Beine zu machen. Obwohl die ungarische Literatur in Deutschland ihre zweite Heimat hat, zeigte sich keine unserer Akademien alarmiert genug, in Budapest mit der gebotenen Härte zu protestieren."

Außerdem in der Literarischen Welt: Jacques Schuster liest Lothar Galls Wilhelm-von-Humboldt-Biografie als "wunderbares Buch über den frühen Liberalismus". Besprochen werden außerdem eine Valery-Biografie, Anna Reids Studie über die Blockade von Leningrad und ein wieder ausgegrabener Bericht der sowjetischen Satiriker Ilja Ilf und Jewgeni Petrow über ihre Amerika-Reise in den dreißiger Jahren.

Im Feuilleton schreibt Hannes Stein den Nachruf auf Christopher Hitchens: "Er starb stolz und ungetröstet. Kein Geistlicher hat ihn begleitet." Besprochen wird die Ausstellung "Kykladen - Lebenswelten einer frühgriechischen Kultur" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe.

NZZ, 17.12.2011

Sehr anregend liest sich Durs Grünbeins Darmstädter Rede zu sechzig Jahren Büchner-Preis, in der er sich die Büchner-Preisreden Benns und Celans vornimmt. Die beiden seien nicht mal Antipoden, sondern einander so weit entfernt wie Australien, meint er, und doch entdeckt er Gemeinsamkeiten, so etwas wie die Suche nach einem Jenseits der Metapher. Zu Celan sagt Grünbein: "Gesucht wurde ein Wahres, Sterbliches, etwas, das alle Artistik und alles Kunstpriestertum hinter sich lässt. Das Missverständnis wollte es, dass gerade ihm dann das Etikett 'hermetische Dichtung' angeklebt wurde. Man kann sich nun fragen, ob Benn nicht Ähnliches vorschwebte, als er in späteren Jahren vom Nicht-Gedicht sprach, aus einer Abneigung gegen das idealistische, erhabene, seraphische Gedicht."

Außerdem in Literatur und Kunst: Die Kunsthistorikerin Andrea Fischbacher betrachtet die Großplastiken des Schweizer Skulpteurs Silvio Mattioli. Und Daniel Fueter gedenkt des Schweizer Komponisten Paul Burkhard, von dem der Welthit "Oh mein Papa" stammt.

Im Feuilleton sucht Martin Meyer Wege durchs Niemandsland Europa. In der Kolumne "When the Music's over" erinnert sich Schriftsteller Alex Capus an seine Discobesuche im Jahre 1976 ("und schön waren sie alle, die Drogenbräute 1976, du lieber Himmel, schön und gefährlich und geheimnisvoll wie tropische Blumen"). Aldo Keel berichtet über in Norwegen kursierende gefälschte Hamsun-Dokumente, die ienen Filmregisseur in die Bredouille brachten.

Besprochen wird die Ausstellung "Geld und Schönheit - Bankiers, Botticelli und das Fegefeuer der Eitelkeiten" im Palazzo Strozzi.

Weitere Medien, 17.12.2011

Ai Weiwei hat gegen die Auflagen der chinesischen Regierung verstoßen und dem Deutschlandfunk gestern morgen ein Interview gegeben. Unter anderem geht es dabei auch um seine Verhaftung wegen angeblicher Steuerhinterziehung: Die chinesischen Behörden "haben mir während meiner Haft ganz deutlich gesagt: es geht um deine Kritik an der Regierung - du sprichst mit den ausländischen Medien. Du versuchst, die Staatsgewalt zu untergraben. Dann haben sie noch andere Themen angeführt, Pornografie und Steuerhinterziehung ... aber in ihren eigenen Worten haben sie mir ganz deutlich zu verstehen gegeben: Das ist eine Strafe, eine Rache, wir wollen Dich und Deinen Ruf zerstören und wir wollen, dass die Leute Dich für einen Lügner halten. Sie waren damit sehr offen."

In Focus blickt in angsteinflößend erhabenen Bildern auf die Vulkanaktivitäten des Jahres 2011 zurück.

TAZ, 17.12.2011

Tania Martini unterhält sich mit dem Globalisierungskritiker Michael Hardt über die weltweiten Protestbewegungen. Die partikulare Kritik am Finanzkapitalismus findet Hardt dabei ziemlich illusorisch: "Diese Trennung verkennt, dass gegenwärtig die sogenannte Realökonomie bereits in großen Teilen aus immaterieller Produktion besteht. Es ist falsch zu glauben, wir könnten eine Realökonomie von einer fiktiven Ökonomie trennen und zu einem Typus der Realökonomie aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückkehren. So funktioniert Kapitalismus nicht."

Doris Akap schreibt über den verstorbenen Christopher Hitchens: "Sicher, Hitchens konnte ein arroganter, besserwisserischer Kotzbrocken sein. Doch in der Regel wusste er es einfach besser als seine Gegner. "

Weitere Artikel: Reinhard Wolff skizziert die Diskussionen um das Gutachten, das Anders Breivik eine paranoide Schizophrenie attestierte. Kai Schlieter streift im Innern der Stasi-Unterlagenbehörde an Regal-Kilometern deutscher Geschichte vorbei. Christa Stolle kritisiert den Trend zur Intimoperation unter Frauen. Ronald Berg unterhält sich mit dem Fotografen Andreas Müller-Pohle über digitale Fotografie. Jan Feddersen porträtiert den Politikwissenschaftler Franz Walter. Wladimir Kaminer schreibt über russischen Sextourismus im Ausland. Eva Behrendt feiert den HipHop-Track "212" von Azealia Banks, der auf YouTube für Furore sorgt und auf Banks' Debütlbum im kommenden Jahr hoffen lässt:



Besprochen werden einige Bücher, darunter Walter Moers' neuer Zamonien-Roman "Labyrinth der Träumenden Bücher (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 17.12.2011

In der SZ am Wochenende listet Alexandra Borchardt viele Gründe auf, warum sie einer netzgestützten "Mitmach-Demokratie" skeptisch gegenüber steht, unter anderem, weil im Netz nur gehört wird, wer im Netz ist: "Wer die Zeit, den Intellekt und die Geduld hat, sich der Flut von Informationen zu bemächtigen, wird am Netz seine Freude haben. ... Wer sich dagegen nicht äußert, sich nicht beteiligt, der kommt nicht vor."

Weiteres: Arne Perras und Nicolas Richter haben eine lange Reportage über die Schürfarbeiten in Diamantenminen in Simbabwe geschrieben, von wo, Mugabes Regime zum Trotz, wieder weltweit Edelsteine importiert werden. Joachim Käppner plädiert gegen wilde Tiere im Zirkus.

Für das Feuilleton hat Till Briegleb das Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters bei einem Gastspiel in Peking begleitet, wo er sich dann unter anderem auch Ai Weiweis Studio angesehen hat: "Bewacht von zwei Polizeiautos und einer fest installierten, auf die blaue Tür mit dem 'Fake'-Schild gerichteten Kamera, wirkt Ai Weiweis großer Studiokomplex inzwischen mehr wie eine belagerte Festung. In den zahlreichen Ateliergebäuden und -komplexen, die Ai Weiwei in Cao Chang Di für andere Galerien und Künstler im abstrakten Stil von Hutongs und Lagerhausarchitektur entworfen hat, scheint das Kunstgeschäft zwar nüchtern weiterzugehen, aber die Stimmung hinter den Mauern ist ins Beklemmende gekippt."

Weitere Artikel: Leicht blümerant wird Tobias Kniebe bei den "nationalen Stereotypen", mit denen der amerikanische Reporter Michael Lewis Wirtschaftskrisen zu erklären versucht, aber spannender als Volkswirtschaftstheorien findet er sie schon. "Walter Giller war wohl der erste gutaussehende Mann des deutschen Nachkriegsfilms", meint Hararld Hordych im Nachruf auf den Schauspieler. Der Physiker und Schriftsteller Ralf Bönt schreibt anlässlich der nicht auszuschließenden Entdeckung des Higgs-Teilchen in Genf (mehr) über die Freuden der Physik im Sandkasten wie im Forschungslabor. Andrian Kreye würdigt im Nachruf Christopher Hitchens als "brillantesten Vertreter der Polemik" (online lesen darf man den Nachruf von Jannis Brühl).

Besprochen werden Alessandro Scarlattis Oper "Marco Attilio Regolo" beim Barockfestival "Winter in Schwetzingen", eine Ausstellung mit Paparazzo-Fotos von Ron Galella im C/O Berlin und Bücher, darunter eine neue, "ebenso informativ(e) wie amüsant(e)" Biografie von Queen Elizabeth II. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.12.2011

Brüssel-Korrespondent Werner Mussler denkt über die Rolle der Journalisten in der Eurokrise nach. Als Krisenzeichen nimmt er unter anderem Jean-Claude Junckers Pressekonferenzen wahr, die einst deutsch oder französisch, aber immer unterhaltsam waren und heute englisch und knapp sind: Es "blieben immer öfter Fragen offen, wie Juncker dieses und jenes gemeint habe. Bisweilen widersprachen Kollegen aus anderen Ländern tags darauf seiner Darstellung. Die Finanzmärkte reagierten immer öfter verwirrt. Nun sind Junckers Pressetermine langweiliger. Langweiligkeit als Zeichen für die Dramatik der Lage."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko schreibt zum Tod von Walter Giller. Von Lorenz Jäger ist der Nachruf auf Christopher Hitchens. Und Patrick Bahners gedenkt des ebenfalls gestorbenen Comiczeichners Joe Simon. In seiner Gastrokolumne stellt Jürgen Dollase den italienischen Avantgardisten Massimo Bottura vor, den der Michelin-Führer jetzt mit dem dritten Stern auszeichnete. Auf der Medienseite empfiehlt Karen Krüger den "Tatort", der im islamistischen Milieu spielt. Und Michael Hanfeld meldet, dass die neue GEZ-Zwangsabgabe nach der Zustimmung des Landes Schleswig-Holstein nun endgültig abgesegnet ist.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Skulpturen der Nachkriegszeit und neuester Kunst im Museum Ludwig, Laurent Chetouanes Tanzstück "Hommage an das Zaudern" in Wien und Bücher, darunter eine neue Ausgabe von Italo Svevos Roman "Zenos Gewissen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten legt Sinem Derya Kilic einen zweiseitigen Essay über das Bild des Klaviervirtuosentums in frühen Zeichentrickfilmen vor ("Kleinvieh macht auch Liszt").



Thomas Speckmann gedenkt der Niederlage der Armada vor 423 Jahren. Mechthild Wiesner erklärt, was es mit dem Phänomen des "Cosplay" (Jugendliche verkleiden sich als Mangafiguren und schocken Buchmessenbesucher) auf sich hat. Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's unter anderem um Händels Klaviersuiten, die von Lisa Smirnova eingespielt wurden (Musik), und eine CD des mehr als Filmregisseur bekannten David Lynch ("Dieses Video ist in Deutschland leider nicht verfügbar, da es möglicherweise Musik enthält..."). Auf der letzten Seite unterhält sich Hansgeorg Hermann mit dem Klimaforscher Jean Jouzel.