Heute in den Feuilletons

Die Sprache, die Sprache, die Sprache!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2011. In der FAZ fragt der Historiker Thomas Stamm-Kuhlmann: Warum darf man in der SPD offiziell fromm, aber nicht offiziell unfromm sein? Im Blog der New York Review of Books stellt Charles Rosen einige neue Stücke von Elliott Carter vor - mit Hörproben. In der Zeit mit Sachsen-Teil verabschiedet Clemens Meyer das Jahr der Neutrinos. Und Andrea Breth erklärt, was im Theater das schwierigste ist: der Handschlag. In Le Monde wird erbittert über das französische Gesetz diskutiert, das die Leugnung von Genoziden unter Strafe stellt. Der Völkermord an den Armeniern ist eine Tatsache, konstatiert die FR.

Aus den Blogs, 29.12.2011

Der große Charles Rosen, Autor von "The Classical Style", stellt im Blog der New York Review of Books einige neue Stücke von Elliott Carter vor - mit Hörproben: "In Carter's music, things happen for different instruments at different tempos-none of them dominates the other, and an idiosyncratic character is often given to the different instruments that preserves their individuality."

Cory Doctorow war Hauptredner beim Kongress des Chaos Computer Clubs und hat dabei keine kleinen Töne gespuckt: "The last 20 years of Internet policy have been dominated by the copyright war, but the war turns out only to have been a skirmish. The coming century will be dominated by war against the general purpose computer, and the stakes are the freedom, fortune and privacy of the entire human race."

Hier die Rede im großen und ganzen (und heir das Transskript):


Weitere Medien, 29.12.2011

In Frankreich wird scharf über das Gesetz diskutiert, das die Leugnung von Genoziden unter Strafe stellt. Ara Toranian von der Zeitschrift Nouvelles d'Armenie verteidigt das Gesetz gegen eine Polemik des bekannten Historikers Pierre Nora: "Das Gesetz gibt den Nachfahren der Verfolgten, die heute in Frankreich von demselben Hass verfolgt werden, dem einst ihre Eltern zum Opfer fielen, Gelegenheit, ihre Würde mit rechtlichen Mitteln zu verteidigen. Es stellt juristische Werkzeuge zur Verfügung, die es erlauben, auf einen Staatsnegationismus zu antworten, der ein Teil des genozidären Projekts ist - denn die Schuldigen versuchen stets die Leiche zu verstecken und die Spuren ihrer Schuld zu verwischen."
Stichwörter: Frankreich, Nora, Pierre, Genozide

FR/Berliner, 29.12.2011

Thomas Schmid stellt klar, dass es historisch keinen Zweifel am türkischen Völkermord an den Armeniern gibt: "Umstritten ist allenfalls noch, ob 'nur' 800.000 oder über eine Million Angehörige der ältesten christlichen Staatsreligion erschlagen, erdrosselt, gekreuzigt, erschossen oder auf die Todesmärsche in die mesopotamische Wüste geschickt wurden." Und das Deutsche Reich war tief in das Morden verstrickt: "Korvettenkapitän Hans Humann, Marineattache an der deutschen Botschaft zu Konstantinopel, meinte lapidar: 'Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.'"

In Times mager freut sich Christian Thomas, dass David Chipperfield die nächste Architektur-Biennale in Venedig leiten wird. Sylvia Staude verabschiedet den scheidenden Chef des Frankfurter Mousonturms Dieter Buroch. Sebastian Preuss schreibt den Nachruf auf James Rizzi.

Auf der Medienseite erklären Simon Hurtz und Jonas Rest die Gründung all der neuen Rechercheteams in den Zeitungen mit dem Eingeständnis der Verleger, den Stellenabbau zu weit getrieben zu haben.

Besprochen werden unter anderem die Kasseler Barock-Ausstellung "Lichtgefüge" im Schloss Wilhelmshöhe, Iciar Bollains Kolumbus-Film "Und dann der Regen" und Chris Goraks Horrorfilm "Darkest Hour".

Welt, 29.12.2011

Hannes Stein liest einige Romane des vielschreibenden Präsidentschaftskandidaten der Republikaner Newt Gingrich und findet sie gar nicht mal so übel, mit einer Einschränkung: "Die Sprache, die Sprache, die Sprache!" Paul Jandl mokiert sich über die nunmehr genderneutrale österreichische Nationalhymne. Ulrich Weinzierl gratuliert dem ehrwürdigen Wiener Musikverein zum 200. Geburtstag. Der Regisseur Sergej Moya erklärt, wie er seinen Film "Hotel Desire", eine erotische Komödie, per Crowdfunding finanzierte.

Besprochen wird Özgür Yildirimins Film "Blutsbrüdaz" (mehr hier) mit dem Rapper Sido.

NZZ, 29.12.2011

Der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher weist nach, dass Max Frisch die Figur des James Larkin White, als den sich Stiller im gleichnamigen Roman ausgibt, nicht erfunden hat: Es gab wirklich einen Cowboy dieses Namens, Max Frisch hat die von ihm entdeckte Höhle besucht und in dem Roman beschrieben. Kristina Bergmann beleuchtet die Hintergründe des Brands des Institut d'Egypte in Kairo, bei dem rund fünfzigtausend wertvolle Schriften vernichtet wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "Am Set" in der Deutschen Kinemathek in Berlin, Marjane Satrapis und Vincent Paronnauds Filmmärchen "Poulet aux prunes", zwei Donizetti-Komödien am Opernhaus Zürich und Katharina Geisers Roman "Diese Gezeiten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 29.12.2011

Petra Schellen informiert über den endlosen Hickhack um die Hamburger Elbphilharmonie und dessen Auswirkungen auf die Hamburger Kulturpolitik. Als "Geschichtsunterricht für Elftklässler" lässt Cristina Nord den Kolumbus-Film "Und dann der Regen" durchgehen, in dem die spanische Regisseurin Iciar Bollain die Unterdrückung der Indigenas heute und vor 500 Jahren behandelt.

Außerdem besprochen werden eine Auswahl des Filmschaffens des österreichischen Schauspielers und Filmregisseurs Peter Kern auf DVD, Warwick Thorntons Debütfilm "Samson und Delilah" über eine Liebe im australischen Outback, der ziemlich "eindimensionale" Spielfilm "Blutzbrüdaz" von Özgur Yildirim mit den Rappern Sido und B-Tight und zwei Bücher, in denen sich der Syrer Rafik Schami und der Libyer Kamal Ben Hameda an ihre Kindheit in Damaskus und Tripolis erinnern (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 29.12.2011

Das doch eher fromm gestimmte Feuilleton der FAZ gibt einem Atheisten das Wort. Der SPD-Politiker und Historiker Thomas Stamm-Kuhlmann fragt, warum sich in der SPD Interessengruppen von Christen, aber nicht von Laizisten mit Erlaubnis der Parteiführung bilden dürfen: "Warum gewinnt man .. den Eindruck, als verschiebe sich der über Jahrzehnte sorgsam austarierte Status quo in Richtung Religion? Könnte nicht die SPD dem christlichen Empfinden eines Großteils ihrer Mitglieder entgegenkommen, auch wenn der Staat laizistisch wäre, das heißt die öffentlich-rechtlichen Privilegien der Kirchen samt Kirchensteuer und Konkordatslehrstühlen abgeräumt würden?"

Weitere Artikel: Mark Siemons berichtet von einer durch das Parteiblatt Global Times ausgerichteten Konferenz in Peking mit Regierungsvertretern und Intellektuellen, die sich einig waren, dass "der rechtmäßige Platz Chinas an der Spitze sei". Die Filmkritiker der FAZ steuern ihre "unvergesslichen Momente" des Kinojahres 2011 bei und erinnern an in diesem Jahr verstorbene Kinogrößen (darunter natürlich auch an den verstorbenen FAZ-Filmredakteur Michael Althen). Rose-Maria Gropp schreibt den Nachruf auf Helen Frankenthaler.

Im Medienteil schreibt Monika Griebeler über die sich langsam entfaltende, aber noch nicht zur vollen Blüte gelangte Pressefreiheit in Burma, wo zuvor jahrelang strikte Zensur herrschte.

Besprochen werden die Ausstellung "Gustav Klimt, Josef Hoffmann - Pioniere der Moderne" im Unteren Belvedere Wien ("Eine schönere und vor allem klüger konzipierte Schau wird man im Klimt-Jahr kaum mehr sehen", versichert Andreas Platthaus), Iciar Bollains Politdrama "Und dann der Regen", Robert Borgmanns auf Euripides' "Phönizierinnen" basierendes Stück "Wir Kinder von Theben" am Schauspiel Köln und Bücher, darunter das letzte von Vaclav Havel konzipierte Buch mit einer Auswahl von Briefen und Fotografien (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 29.12.2011

Der Schriftsteller Clemens Meyer resümiert das Jahr 2011 (aber nur in der Zeit-Ausgabe, die einen Sachsen-Teil hat): "Das Jahr der Neutrinos. Schneller als das Licht flitzen sie durch Raum und Zeit, lassen Gottschalks Haar über Nacht ergrauen, durchdringen Baron Guttenbergs Augen und lassen graue Zellen leuchten, wenn Udo Reiter den MDR hinter die Bühne rollt, die Leipziger hätten am liebsten Peter Sodann und Peter Degner als Doppelspitze ihres Provinztheaters, und währenddessen graben braune Zellen Stollen (DIE SINN ABER NISCH AUS DRÄSDN!!!) unters Land, wie einst die Wismut unters Erzgebirge..."

Die Theaterregisseurin Andrea Breth erzählt im Interview, was auf der Bühne am häufigsten nicht klappt: Stehen, Sprechen, "ganz oft geht das Allereinfachste schief: wenn Schauspieler sich auf der Bühne die Hand geben müssen. Ich hab das nur ein Mal gut gesehen, ein einziges Mal. Das war bei Yoshi Oida, der konnte das. Sie müssen mal drauf achten - das misslingt meistens, es wirkt weder beiläufig noch echt, es wirkt oft viel zu groß. Und es gibt ja Millionen Arten des Handgebens. Manche haben einen Händedruck, der flutscht so durch, das ist ganz schlimm. Diese 25 Millionen Möglichkeiten ahnen zu lassen, diese Vielfalt - das ist schwierig."

Weitere Artikel: 16 Redakteure erklären, was sie 2012 nicht mehr möchten, zum Beispiel "Angeberquatsch". 6 Redakteure und Autoren blicken zurück auf das Bücherjahr 2011. Pavel Kohut erzählt, wie er zur Trauerfeier für Vaclav Havel nach Prag reiste. Der CDU-Politiker Norbert Lammert fürchtet, dass Star-Architekten, Energieversorger und gierige Sammler die Museen ausplündern. Alexander Cammann möchte wissen, was Christian Demand und Ekkehard Knörer als neue Merkur-Redakteure verändern werden: "Linke Positionen werden wieder öfter zu lesen sein, um das 'momentan zu erwartbare Image' (Demand) zu korrigieren". Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis empfiehlt den jungen Aktivisten von heute, ihren Bakunin, Lenin oder Zizek mal kurz zur Seite zu legen und Franklin D. Roosevelts "Economic Bill of Rights" aus dem Jahre 1944 zu lesen: "Diese Charta der ökonomischen Grundrechte war ein Weckruf an den Sozialstaat." Ralph Geisenhanslüke schreibt den Nachruf auf Johannes Heesters.

Im Wirtschaftsteil erzählen Miriam Migliazzi und Mart Klein fünf Jahre Wirtschaftskrise auf sieben Seiten als Comic (Fortsetzung folgt.)

Besprochen werden die Ausstellung "Am Set" in der Deutschen Kinemathek in Berlin, Iciar Bollains Film "Und dann der Regen", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" in Moskau und Bücher, darunter Haruki Murakamis Roman "IQ84" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 29.12.2011

Blogger geben als Netzexperten den Ton an, YouTube-Vloggerinnen geben unterdessen einander Kosmetiktipps: Antonia Kurz zerstreut etwaige Hoffnungen auf einen Feminismus, der aus dem Netz heraus entstehen könnte. So sei auch das Web "kein Paralleluniversum, in dem die Mechanismen, die in der Gesellschaft das Zusammenleben der Geschlechter regeln, außer Kraft sind. Der Netz-User verfügt nicht über ein digitales und ein reales Ich, die sich im Online-Diskurs unterscheiden. Wer im echten Berufsleben Scheu empfindet, ein berufliches Netzwerk aufzubauen und zu nutzen, wird dabei online kaum erfolgreicher sein."

Weitere Artikel: Lukas Kubina porträtiert den Astronomen Dimitar Sasselov, der sich in seinem neuen Buch mit der Möglichkeit außerirdischen Lebens befasst. Die Filmkritiker der SZ bringen Notizen über ihre "Magic Moments" im Kinojahr 2011. Fritz Göttler spricht mit dem japanischen Regisseur Takashi Koizumi über dessen Lehrmeister Akira Kurosawa. Catrin Lorch schreibt den Nachruf auf die Malerin Helen Frankenthaler, äußerst knapp fällt der auf den Pop-Art-Künstler James Rizzi aus.

Besprochen werden der Sido-Film "Blutzbrüdaz", der Weltuntergangsfilm "The Darkest Hour", eine Ausstellung über Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, eine vom Trio Zimmermann eingespielte Beethoven-Aufnahme (die für Harald Eggebrecht "tatsächlich etwas von der Intensität, Dichte, Konzentration und Frische eines gelungenen Konzerts erreicht") und Bücher, darunter eine von von Kai Schlüter herausgegebene Dokumentation von Günter Grass' Wahlkampfreise für Willy Brandt im Jahr 1969 (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).