30.12.2011. Rückwärtsgewandt und provinziell: so sieht die Welt die Literatur in Deutschland. Und Hans Ulrich Gumbrecht stellt nichts weniger als die Überlebensfrage für die Menschheit. Die NZZ berichtet über Apartheid in Katar. In der taz spricht Najem Wali über die Zukunft des Iraks. Die FAZ begibt sich auf den Tahrir-Platz und will die Hoffnung nicht fahren lassen. Le Monde bringt ein ausführliches Gespräch mit dem Historiker Vincent Duclert über den Völkermord an den Armeniern.
Welt, 30.12.2011
Die
Welt bringt heute schon ihre Silvesterausgabe. Zu allen neuralgischen Themen der Gegenwart äußern sich jeweils ein
Optimist und ein
Pessimist.
Besonders lesenswert im Feuilleton Richard Kämmerlings' pessimistischer (und realistischer, fürchten wir)
Blick auf die Lage der
Literatur in Deutschland. Nach Lektüre der Frühjahrsvorschauen schreibt er: "Literaturfähig scheint auch in diesem Jahr nur zu sein, was bereits durch mehrere
Vollwaschgänge der Erinnerung gegangen ist und aus dem aller Schmutz der Aktualität rausgerubbelt wurde. Dass man einfach mal mit dem Schreibbesteck auf das losgeht, was vor der Haustür liegt oder die Welt alles in Echtzeit zu bieten hat, das übersteigt bei vielen den Horizont. Oh, und man könnte ja auch mal wo hinfahren, auch wenn es da gerade
keine Aufenthaltsstipendien gibt." Sehr zutreffend auch Kämmerlings' Beobachtung, dass der
Medienwandel gerade bei den jungen Autoren in Deutschland überhaupt nicht reflektiert wird. "Wie seltsam!" Den optimistischen
Ausblick auf die Literatur schreibt Elmar Krekeler.
Und dann ist da noch
Hans Ulrich Gumbrecht, der in einem
Artikel über die Lage der
Geisteswissenschaften "nichts weniger als die Überlebensfrage für die Menschheit" stellt. In ihr soll es "um die Asymmetrie von zwei
Zukunftshorizonten gehen: dem Horizont der als gewiss prognostizierten Bedrohungen (Global Warming, demografische Entwicklung, Rohstoffmangel etc.) auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Horizont der durch elektronische Technologie eröffneten Möglichkeiten (Verfügbarkeit des Wissens, neue Reichweiten des Hochrechnens, neue Formen der Soziabilität etc.)"
Außerdem im Feuilleton ein
Pro und
Kontra zu
Untergangszenarien, ein
Pro und besonders stutenbissiges
Kontra zu Madonna, ein
Pro und
Kontra zur Lage der
Kunst.
Die
Literarische Welt wird durch eine Silvester-
Erzählung Antje Ravic Strubels eröffnet. Ruth Klüger
empfiehlt in ihrer Kolumne "Bücher von Frauen" die amerikanisch-chinesische
Autorin Yiyun Li. Tilman Krause
unterhält sich mit
Hanns-Josef Ortheil über seinen Roman "Liebesnähe".
Besprochen werden unter anderem eine
Ausgabe von
Dürrenmatts Kriminalromanen, eine
Biografie über
Benjamin Disraeli und eine
Biografie über
Liz Taylor und
Richard Burton.
NZZ, 30.12.2011
Samuel Herzog ist bei seinem Besuch in
Katar glücklicherweise im falschen Quartier untergkommen und hat deswegen nicht nur
Richard Serras neue Prestige-Riesenplastik gesehen, sondern auch das Viertel der Philippinos und Sri Lanker: "Die wenigen Schritte zwischen der Baharat al-Jufairi und dem Souk Waqif sind allerdings keine Selbstverständlichkeit - an einem Freitagabend jedenfalls nicht, wenn sich die schicken Cafes und Restaurants im Souk zu füllen beginnen. Dann nämlich zieht die Polizei da und dort in der Stadt
schwarze Schnüre auf, mit denen sie die einen Menschen von den anderen Menschen zu trennen versucht."
Weiteres: Ramon Schack
schickt Impressionen aus
Prizren, der "schönsten Stadt des Kosovos" (im Aufbau). Im Interview mit Christian Gasser
spricht der
Comic-Autor Joe Sacco über seine Palästina-Comic, die "übrigens auch in jüdischen Medien in den USA" wohlwollend aufgenommen werden. Andrea Eschbach
besichtigt die Ausstellung der französischen Gestalter
Ronan und
Erwan Bouroullec im
Centre Pompidou in Metz.
TAZ, 30.12.2011
Weder sind die Amerikaner
Orest noch die Iraker das
Volk von Argos zitiert der irakische
Schriftsteller Najem Wali einen Freund in seinem Text über die Zukunft seines Landes nach dem Abzug der amerikanischen Truppen. Auf diese Aussage, die sich auf das Drama "Die Fliegen" von
Jean-Paul Sartre bezieht, kommt er am Schluss noch einmal zurück. "Am Ende des Stücks verlassen mit Orest auch die Fliegen die Stadt. Und im Irak? Die Amerikaner sind weg,
die Fliegen aber noch da und zwar nicht zu knapp! In der Grünen Zone, in der sich die Regierung verschanzt, stechen sie wie Wespen, anderswo fliegen sie zu Abermillionen fröhlich von Müllhaufen zu Müllhaufen und tun sich an den Städten gütlich, die nun seit Jahren
eine einzige riesige Müllhalde sind."
Weiteres: Als "Paradefälle kultureller Aneignung im Pop"
beschreibt Christian Werthschulte den Hype des Chicagoer Musikstils
Juke in Europa und des britischen
Dubstep in den USA und stellt Alben von DJ Rashad, Chrissy Murderbot, Patrice & Friends und einen Sampler vor. Simone Jung
freut sich über das Comeback der
Band Palais Schaumburg, die 1980 den Grundstein für die Neue Deutsche Welle legte: "Ihr Sound erzeugt
Widerstandsgeist."
Und
Tom.
Tagesspiegel, 30.12.2011
Viele Kulturinstitutionen in
Ungarn müssen mangels Förderung schließen,
schreibt der ungarische Journalist Geza Csakvari in einem sarkastischen Artikel über die ungarische Kulturpolitik. Aber es gibt auch Wirbel um ein von ganz oben angeordnetes Projekt: "15
staatlicherseits bestellte Bilder, mit denen die historische Millenniumssammlung von 1896 ergänzt werden soll. Die damaligen Künstler - unter anderem Mihaly Munkacsy und Gyula Benczur - setzten sich mit glänzenden und grausamen Ereignissen der ungarischen Geschichte auseinander. Nun sollen zeitgenössische Maler die wichtigsten Momente der vergangenen 150 Jahre veranschaulichen, mit Bildern zum Stückpreis von umgerechnet 5000 Euro."
Weitere Medien, 30.12.2011
(Via
hemartin) Gute Nachrichten
bringt James Marshall Crotty in
Forbes: "The Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) will announce on Monday that they intend to launch an online learning initiative called M.I.T.x, which will offer the online teaching of
M.I.T. courses free of charge to anyone in the world."
Jerome Gautheret
führt in
Le Monde ein sehr ausführliches Gespräch mit dem Historiker
Vincent Duclert über den Völkermord an den
Armeniern und die Frage, ob es in der Türkei einen "
Staatsnegationismus" gibt: "Seit Ende 2009 gibt es eine bedenkliche Versteifung. Intellektuelle und Historiker arbeiten unter der ständigen Drohung von Festnahmen und Prozessen. In diesem Kontext haben wir in Paris eine
internationale Arbeitsgruppe gegründet, die diese türkischen Forscher unterstützen soll, 'Liberte de recherche et d'enseignement en Turquie'."
FR/Berliner, 30.12.2011
Im Interview mit Sebastian Moll
lässt der Kulturkritiker und
n+1-Herausgeber
Mark Greif seinen Gedanken zu
Apokalypse und
Occupy: "Es gibt ein Zitat von
Ralph Waldo Emerson, wo er sagt, wenn man sich nicht traut seine Meinung zu sagen, dann wird man in die peinliche Lage kommen, seine eigene Meinung von jemand anderem serviert zu bekommen. Deshalb solle man immer das sagen, was man in seinem tiefsten Innersten empfindet. Dann wird man entdecken, dass es
für alle Menschen wahr ist. Es ist also etwas sehr Befriedigendes daran, sich nicht einfach nur
alleine und verrückt vorzukommen."
Weiteres: Als durchaus erfolgreich wertet Nikolaus Bernau das europäische Kulturhauptstadtjahr von
Turku mit seinem Motto: "Warum eigentlich
nicht provinziell sein?" Besprochen werden Stian Kristiansens
Vaterschaftsfilm "Ich reise allein" und die Ausstellung "Wasser im Spiegel der Kunst" im
Landesmuseum Mainz.
SZ, 30.12.2011
Bei seinen Recherchen über die Zusammenhänge zwischen
Kunstmarkt und
Kuratorenpraxis stößt Joaki Grönesjö auf die unappetitliche Geschäftspraxis, Künstler über kunsthistorisch zweifelhaft kuratierte Ausstellungen aus finanziellem Interesse in den Rang großer Meister zu erheben. Vor allem
Jeremy Lewison, der für die im kommenden Jahr auch in Stuttgart zu sehende
Twombly-Ausstellung verantwortlich zeichnet, ist Grönesjö ein Dorn im Auge: Dieser sei "nicht einfach ein freiberuflicher Kurator, der für dieses Projekt angeheuert wurde. Er betreibt das Unternehmen 'Jeremy Lewison Ltd', dessen Geschäftsidee darauf abzielt, für reiche Sammler in Kunst zu investieren und den Preis der Werke, die sich schon in ihren Kollektionen befinden, in die Höhe zu treiben." (
Hier das schwedische Original des Textes im
Axess Magasin)
Weiteres: "Es sind gar nicht so sehr die
Hacker, die sich verändert haben",
schreibt Niklas Hofmann in einem kurzen Abriss über die Geschichte des
Chaos Computer Clubs, dessen
28. Kongress heute in Berlin zuende geht, "es ist die Gesellschaft um sie herum, die sich bewegt hat." Franziska Augstein berichtet von der Arbeit von vier Schäferhunden der Deutschen Polizei in
Bhutan. Hermann Baer gratuliert dem "legendären" Zürcher
Künstlerlokal Cafe Odeon zum hundertjährigen Bestehen. Ganzseitig blicken die Feuilletonredakteure darauf zurück, was von
2011 übrig bleibt.
Auf Seite 3 porträtiert Holger Gertz den deutschen
Autor Jan Costin Wagner, dessen Krimis mit dem finnischen Kommissar Kimmo Joentaa ein echter Exportschlager sind.
Besprochen werden
Jan Neumanns Stück "Frey!" am
Schauspiel Stuttgart und Bücher, darunter eine neue
Foucault-Biografie, die Philipp Sarasin Verlag samt Autor wutschnaubend vor die Füße knallt (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
FAZ, 30.12.2011
Karen Krüger
streift an der Seite des gerade aus der Haft entlassenen
Bloggers Alaa Abdel Fattah durch ein eher trübselig stimmendes
Kairo rund um den Tahrir-Platz, will aber von dem Gedanken, die Revolution könne womöglich
gescheitert sein, nichts wissen: "Die Ägypter haben bei dem Kampf für ihre Rechte ein neues Gefühl der Würde und Ehre entdeckt, und das ist eine Veränderung in der Mentalität, die nicht mehr rückgängig zu machen ist."
Von Unwahrscheinlichem berichtet Mark Siemons aus
China: Dort haben einige
Weihnachts-Blogpostings des populären Schriftstellers und Rennfahrers
Han Han eine öffentliche Debatte über das Für und Wider einer
Revolution angezettelt - wobei Han Han ganz ausdrücklich revolutionsskeptisch bleibt: "In einer Zeit, in der sich die Chinesen kein bisschen um die anderen kümmerten, sei eine Revolution keine Gewähr für eine funktionierende Demokratie; die Wahrscheinlichkeit sei größer, dass sich lediglich die
Skrupellosesten durchsetzen und die anderen unterdrücken."
Weitere Artikel: Gina Thomas inspiziert zufrieden das
Ashmolean Museum in Oxford, das "die zweite Phase seiner
Verjüngung mit der Umgestaltung von sechs Sälen für die ägyptischen und nubischen Altertümer abgeschlossen" hat. Michael Kleeberg war auf einer New Yorker
Tagung zum Werk von
Elizabeth Bishop, Rafael Rennicke bei der Jubiläumsfeier zum
neunzigjährigen Bestehen des
BASF-
Kulturprogramms. Paul Ingendaay wirft einen Blick in die erstmals transparente Buchhaltung der Taschengeldzahlungen an den
König Spaniens. In der Leitglosse
dringt Regina Mönch auf ein neues
Urheberrecht wider die "Freibeuter" im Netz, möglichst inklusive
Leistungsschutzrecht für die Zeitungen. Dietmar Dath
witzelt sich unterdessen einmal quer durch eine Prognose kommender Ereignisse
2012.
Besprochen werden der
Sido-Film "
Blutzbrüdaz" und Bücher, darunter
Ambrose G.H. Pratts Liebeserklärung an den
Prachtleierschwanz (mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).