Heute in den Feuilletons

Die Schwelle ist eine Negativität

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2012. Aktualisiert um 10 Uhr 15: Und außerdem: ein erster Blick auf das erste Heft des Merkur unter neuer Leitung. Journalisten würden natürlich nie einen Vorzugskredit annehmen, und sie lassen sich auch kein Mercedes Cabrio zu Testzwecken vor die Tür stellen, meint Wolfgang Michal in seinem Blog. Techcrunch zweifelt, dass Apple im Fernsehen groß werden kann. Im Freitag vermisst der Philosoph Byung-Chul Han Hierarchien im Netz. Die NZZ geht in China in die Oper. Für die Zeit ist Navid Kermani nach Afghanistan gefahren und hat sich positiv überraschen lassen. Die FAZ interviewt Agnes Heller zu den Protesten in Ungarn.

Weitere Medien, 05.01.2012

Das viel erwartete erste Heft des neuen Merkur unter Christian Demand und Ekkehard Knörer ist erschienen und steht in deutlicher Kontinuität zur Arbeit der Vorgänger Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel. Herausgeber Demand wirft einen sicher auch programmatisch gemeinten "Blick zurück nach vorn" auf die allerersten Jahrgänge des Merkur und stößt dort auf eine publizistische Haltung, "der die Entschiedenheit des Urteils nicht aus der Sicherheit unbefragter Wertprämissen oder aus dem Zwang zu leitartikeltauglicher Zuspitzung erwächst, sondern aus einer präzisen Fragestellung, umfassender Sachkenntnis und nicht zuletzt aus dem Willen, den Widerspruch gegen die eigene Position ernsthaft mitzureflektieren." Auf der nicht gerade internetaffinen neuen Adresse des Merkur kann man den Artikel als pdf-Dokument herunterladen.

Aus den Blogs, 05.01.2012

So ganz traut Wolfgang Michal in seinem Blog der rechtschaffenen Empörung unserer Presse über Christian Wulff nicht über den Weg: "Bild, du Schild und Schwert des deutschen Volkes! Tapfer und ohne Eigennutz sorgst du dafür, dass von deutschem Boden aus nie wieder ein Vorzugskredit aufgenommen werden kann oder Reisekosten generös von Freunden bezahlt werden (denn alle deutschen Redaktionen zahlen - wie es sich gehört - alle ihre Reisekosten selbst, sogar die Auto- und die Reisejournalisten. Da gibt es ein hohes Unrechtsbewusstsein. Und natürlich lässt sich auch kein deutscher Journalist von Rang ein Mercedes-Cabrio zu Testzwecken vors Haus stellen...)"

Street Art Utopia bringt die 106 besten Street-Art-Fotografien des vergangenen Jahres, darunter einige sehr hübsche Aufnahmen.

Davin Coldewey macht sich in Techcrunch interessante Gedanken über das annoncierte iTV, dessen Chancen er nicht so glänzend einschätzt: "The thing is that guys meeting with Apple over show licenses aren't stupid. They?ve seen what Apple has done to the music industry over ten years, and they have no intention of entering the lion?s mouth, as their friends at the labels did. In the early 2000s, of course, the labels had no idea that Apple was a lion, and really, neither did Apple."

NZZ, 05.01.2012

Falk Jaeger besichtigt die vielen neuen und prestigeträchtigen Opernhäuser, die China bauen lässt, ohne zu wissen, womit sie bespielt werden könnten: "Fragt man nach europäischen Opern, wird man auf 'Mamma Mia' von Abba und auf 'Zorro' verwiesen. [...] Dennoch sind Ballett-Galas beliebt, ebenso Kostümshows und Folklore aus den westlichen Provinzen der Volksrepublik oder die Darbietungen des Meisterzauberers Lu Chen. Der Grund für diese konsequent populistische Programmgestaltung liegt darin, dass das Musiktheater nicht subventioniert wird."

Weiteres: Katarina Holländer schreibt zum Tod des großen tschechischen Autors und Exilverleger Josef Skvorecky. Franz Haas gratuliert Umberto Eco eher streng zum achtzigsten Geburtstag. Besprochen werden Nicolas Winding Refns Neo-Noir-Thriller "Drive", Christoph Kühns Filmporträt des Schriftstellers "Glauser" und Julien Greens Roman "Der Unbekannte" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 05.01.2012

Das Stockholm-Syndrom ereilte Ekkehard Knörer beim Regiedebüt "Utopians" von Zbigniew Bzymek über eine Vater-Tochter-Beziehung. "Angedickte Musik, Schwarzblende, Spachtelmasse, Yoga mit Hund, Rückblenden, die Zeit franst aus, der Film hat einen Rhythmus sehr viel eher als eine Struktur, fängt einen ein nicht durch Erzählen, sondern durch Stimmung, Vibes, Einschwingen auf sein sehr eigenes, diffuses, aber sehr präzise diffuses Sein ... Wer aber mitzumachen bereit ist, wird sozusagen selbst mit angedickt und durch den Spachtelmassenpürierstab püriert. Am Ende identifiziert man sich irgendwie dann doch mit diesen verlorenen Figuren."

Weiteres: Reinhard Wolf beschreibt den Wandel Dänemarks vom schwarzen Schaf zum Vorbild der EU. Sven von Reden unterhält sich mit Regisseur Todd Haynes über seine HBO-Serie "Mildred Pierce", die zur Zeit der Großen Depression spielt.

Besprochen werden Marjane Satrapis zweiter, zusammen mit Vincent Paronnaud gedrehter Film "Huhn mit Pflaumen", den Rezensentin Christina Nord im Gegensatz zum Erstling "Persepolis" "verschnörkelt" findet, und die DVD von Miklos Jancsos "Red Psalm".

Und Tom.

Freitag, 05.01.2012

"Der virtuelle Raum ist eine Hölle des Gleichen", erklärt der Philosoph Byung-Chul Han im Gespräch über soziale Netzwerke und sein Buch "Die Müdigkeitsgesellschaft". Er sieht im Netz eine Hyperkultur entstehen, die jede kulturelle Fremdheit einebnet. "Die Hyperkultur ist eine Kultur ohne Schwellen. Wir spüren heute tatsächlich keinen 'Schmerz der Schwellen' mehr. Die totale Mobilität und Promiskuität bringt auch den 'Übergang' im emphatischen Sinne zum Verschwinden. Die heutige Gesellschaft baut jede Negativität ab. Die Schwelle ist eine Negativität. Wenn alle Schwellen, Unterscheidungen und Grenzen abgebaut werden, kommt es zu einer Wucherung und Verfettung der Kreisläufe, zu einer Hyperinformation, Hyperkommunikation und Hyperproduktion. Die 'Die Müdigkeitsgesellschaft' denkt den letzten Satz der 'Hyperkulturalität' in veränderter Optik weiter."

In Sachen Guttenberg haben die Plagiatsjäger und "informationellen Aufklärer" im Netz ihrer Sache keinen guten Dienst erwiesen, meint Magnus Klaue: "Die Kampagnen der Plagiatsjäger ... haben deutlich gemacht, dass es ihren Akteuren weniger um Kritik geht, sondern mehr um die unter dem Deckmantel politisch korrekter Empörung vorgenommene Entfesselung des Ressentiments. Substantielle Aufklärung hätte sich bemühen müssen, am Beispiel des Plagiats den Begriff des geistigen Eigentums seiner tiefen, und, wie die Debatte um das Urheberrecht zeigt, noch ungelösten Widersprüchlichkeit zu überführen."

Welt, 05.01.2012

Ulf Poschardt, der es trotz bester Voraussetzungen nur zur Welt geschafft hat, identifiziert das Drama der Wulffs als ein Drama von Aufsteigern: "Dem Parvenü sieht man an, wo er herkommt. Am spürbarsten dann, wenn er es vergessen machen will. Er kann die Regeln ganz oben bestenfalls lernen, aber nur als Ausnahmebegabung sozialer Intelligenz kann er sie frei interpretieren. Lebensweltlich über seinen Verhältnissen zu agieren, macht den Alltag zur ständigen Bewährungsprobe."

Weitere Artikel: Marc Reichwein gratuliert Umberto Eco zum Achtzigsten. Alan Posener spricht sich in seiner Kolumne "J'accuse" gegen das französische Gesetz aus, das die Leugnung von Völkermorden unter Strafe stellt. Besprochen werden Filme, darunter die französische Komödie "Ziemlich beste Freunde" (mehr hier), Ereignisse eines Festivals mit Synagogalmusik in Berlin und Claus Peymanns Inszenierung von "Dantons Tod" am Berliner Ensemble.

FR/Berliner, 05.01.2012

Arno Widmann preist zu dessen achtzigsten Geburtstag Umberto Eco und seine fröhliche Wissenschaft: "Umberto Eco zeigt uns, wie schön Intelligenz sein kann. Freilich eine vagabundierende Intelligenz." Peter Uehling gratuliert Maurizio Pollini zum Siebzigsten. Die Medienseite stellt Rafael Seligmans englischsprachige Zeitung Jewish Voice from Germany vor.

Daniel Kothenschulte blickt auf das Kinojahr 2012 voraus. Besprochen werden Claus Peymanns Inszenierung von "Dantons Tod" (in der Ulrich Seidler "keinen einzigen glaubwürdigen Ton" gehört hat), Marjane Satrapis neuer Film "Huhn mit Pflaumen" sowie DVDs zu YSL und Karl Lagerfeld.

Zeit, 05.01.2012

Für das Dossier ist der Schriftsteller Navid Kermani nach Afghanistan gereist. Fünf Jahre nach seinem letzten Besuch springt ihm zwar zuerst die martialische Sicherheitsarchitektur ins Auge, aber trotzdem erkennt er viele Besserungen: "Im Stadtzentrum jedenfalls ist die Armut nicht mehr so offensichtlich, keine bettelnden Frauen in Burka mehr alle paar Meter, keine Banden von Kindern, die sich an Klebstoff berauschen, dafür unzählige Kebabstände, viel mehr Geschäfte, überhaupt so etwas wie Stadtleben, eine Müllabfuhr zum Beispiel, oh Wunder, und zwei, drei Parkanlagen. Abends die Überraschung, dass es Strom gibt, Straßenlaternen zwar noch nicht, aber in manchen Geschäften strahlen nackte weiße Leuchten, und in den Fenstern der Wohnhäuser ist das fahle Licht von Energiesparlampen zu erkennen."

Das Feuilleton eröffnet die Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag des großen Preußenkönigs. Selbst Jens Jessen erweist ihm seine Reverenz: "Friedrich war der erste, vielleicht einzige Intellektuelle auf einem europäischen Thron. Dazu gehört auch, dass es ihn zwanghaft zu taten trieb, Gewalttaten, Befreiungsschlägen in eigener Sache, weil er wie jeder moderne Intellektuelle am Ende seinen eigenen schönen Geist verachtete." Der britische Historiker Christopher Clark betrachtet, wie Friedrich der Große als Legende in der deutschen Geschichte nachwirkte. Außerdem verneigen sich unter anderem Fritz Stern, Alexandre Kluge, Heinrich August Winkler, Thea Dorn und - äh - Egon Krenz.

Weiteres: Ursula März fragt mit Blick auf zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte, warum die Menschen die Ordnung so lieben statt "die Lebendigkeit des Gewimmels und mit ihr die Freiheit, über die Ränder von Schubladen, Regeln und Systemen hinauszuwachsen". Nina May stellt den Schauspieler Matthias Brenner vor, der inzwischen das Neue Theater Halle leitet. Besprochen werden neben einem ganzen Stapel Friedrich-Bücher auch John Cheevers "Die Lichter von Bullet Park", Antonio Munoz Molinas großer Bürgerkriegsroman "Die Nacht der Erinnerungen" und Mike Nicols Südafrika-Krimi "Payback" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

"Geht's noch?", fragt Bernd Ulrich auf der Seite eins und stellt klar, dass dem Land weder eine Staatskrise noch die Abschaffung der Pressefreiheit droht. Ein wütender Politiker hat bei einem Chefredakteur angerufen, kommt vor. Außerdem "kann der Präsident dem Bild-Chef gar nicht drohen, weil er viel weniger Macht hat als dieser".

SZ, 05.01.2012

Jürgen Trabant gratuliert Umberto Eco zum Achtzigsten. Anke Sterneborg unterhält sich mit Marjane Satrapi, deren neuer Film "Huhn mit Pflaumen" heute anläuft und von Susan Vahabzadeh besprochen wird. Vera Pache berichtet von Forschungen und Experimenten in Holland zur architektonischen Erschließung des Lebensraums auf und unter dem Wasser. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Pianisten Maurizio Pollini zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden in Kürze viele neue Taschenbücher, der lateinamerikanische Film "Chinese zum Mitnehmen", eine Ausstellung über die Geschichte des Menschenzoos im Musee du Quai Branly in Paris, Claus Peymanns Inszenierung von "Dantons Tod" am Berliner Ensemble und Drago Jancars Roman "Nordlicht" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.01.2012

Die ungarische Oppositionsbewegung gegen Victor Orban ist zwar sehr aktiv, hat aber noch kein gemeinsames Programm, sagt im Interview die ungarische Philosophin Agnes Heller. Sollte die EU mehr tun, fragt Helmut Mayer. Darauf Heller: "Es liegt meines Erachtens im Selbstinteresse der EU, dieser fatalen ungarischen Entwicklung ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite glaube ich allerdings auch, dass Ungarn sich selbst aus diesem Schlamassel herausziehen sollte. Mitglieder der Union könnten freilich direkt helfen, etwa indem sie der oppositionellen demokratischen Bewegung und Presse finanziell beispringen. Unsummen wären dafür nicht aufzuwenden, und es wäre eine aktive Unterstützung, Hilfe zur Selbsthilfe."

Weitere Artikel: Von Herzen empfiehlt Andreas Platthaus eine Reihe mit frühen Lubitsch-Stummfilmen im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Oliver Jungen marschiert durch die Gänge des Verlags Bastei Lübbe, der gerade Eichborn (ohne "Die Andere Bibliothek", die geht zum Aufbau Verlag) übernommen hat. Andreas Kilb würdigt den "Geistesfürsten" Umberto Eco zu dessen 80. Geburtstag. Dirk Schümer schreibt den Nachruf auf Josef Skvorecky. Swantje Karich freut sich über Alejandro Jodorowskys Notizbuch mit Skizzen zu dessen versuchter "Wüstenplanet"-Adaption, ein "Kleinod", das die Documenta gerade als Reproduktion herausgegeben hat. Ein Video zu diesem leider nie umgesetzten Großprojekt finden wir auf YouTube:



Auf der Medienseite unterhält sich Markus Bickel mit Aktham Suliman, dem Deutschland-Korrespondenten von Al Jazira, der die Rolle seines Senders für die Proteste im arabischen Raum hoch, die von Social Media aber recht gering einschätzt. In den Bildungswelten schreibt Heinz-Ekar Tenorth ganzseitig über die Krise des Modells der deutschen Universität und deren Ursachen.

Besprochen werden neue Platten von Kirlian Camera und Smith & Burrows, die Jubiläumsausstellung der Spanischen Nationalbibliothek in Madrid zu deren dreihundertjährigem Bestehen, Christian Ulmens neue Impro-Filmkomödie "Jonas", Claus Peymanns Interpretation von "Dantons Tod" am Berliner Ensemble ("ein Trauerspiel der besonders muffigen und uninspirierten Sorte", ärgert sich Irene Bazinger) und Bücher, darunter Winfried Menninghaus' kunsthistorischer Essay "Wozu Kunst?" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).