Heute in den Feuilletons

Die Süße und die Ironie von Kitsch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2012. In der Welt fragt Fritz J. Raddatz (mit TM), warum kein Intellektueller die stramme Biederkeit der Neonazis attackiert. Die NZZ wiegt Feridun Zaimoglu. Die taz notiert die Scheinheiligkeit der Bild-Zeitung. In der SZ ärgert sich Kathrin Passig über das Algorithmenbashing deutscher Feuilletonisten. In der FAZ warnt Constanze Kurz vor den neuen Worterkennungsalgorithmen. Und John Burnside findet ein bisschen Zuhause in Kreuzberg.

Welt, 07.01.2012

Die Morde der Zwickauer Neonazi-Gruppe haben bei Fritz J. Raddatz die Alarmglocken läuten lassen. In der Literarischen Welt fragt er sich, warum sich heute so wenige Intellektuelle um die Demokratie sorgen, in der Weimarer Republik war das anders: "Vor diesem "orgiastischen, radikal humanitätsfeindlichen, rauschhaft dynamistischen" Hass warnte bereits - Thomas Mann. Das war in jener Rede, in der er sich eingangs dazu bekannte, ein "Kind des deutschen Bürgertums" zu sein. Er hielt sie am 17. Oktober 1930 im Beethovensaal in Berlin, den Nationalsozialismus und die "faschistischen Kerker" überdeutlich attackierend als "Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, hackenzusammenschlagenden, blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit"."

Im Interview mit Jacques Schuster erklärt sich die Autorin Judith Schalansky den Rechstextremismus in Vorpommern weniger mit dem "deutschen Hass" als mit dem Verfall der Region, besonders in den neunziger Jahren: "Es war und ist eine Gewalt der Unbehausten. Deren Angst war riesig: die Furcht vor dem Anderen, vor dem Neuen. Damals herrschte auch eine Art Wildweststimmung - mit all diesen Vertretern für Lexika und Plastikhaustüren. Es herrschte ein allgemeines Verarschtwerden."

Besprochen werden unter anderem Sherwood Andersons Roman "Winesburg, Ohio", die Werke des "lustvollen Anarchisten" Daniil Charms und Harold James" Unternehmergeschichte "Krupp".

Im Feuilleton lässt sich Maximilian Steinbeis die wachsenden Unabhängigkeitsbestrebungen der Schotten von dem Dichter und Verleger Kevin Williamson mit der wachsenden Frustration darüber erklären, dass in London nur noch Politik für die Banken gemacht werde, aber nicht für die Industrie im Norden: "Mit Nationalismus, wie ihn die Kontinentaleuropäer verstehen, hat der schottische Nationalismus nichts zu tun, versichert Williamson: "Wenn Sie hier nach einem rechten Nationalisten suchen, werden Sie es sehr schwer haben, einen zu finden." Schotte sei, wer in Schottland lebt. Es gehe nicht um Identität, sondern um Teilhabe."

Weiteres: Stefan Koldehoff meldet, dass Sammler-Sohn Nicolas Berggruen seine eigenen Kunstbestände nach Los Angeles geben wird. Mara Delius schreibt den Nachruf auf die Magnum-Fotografin Eve Arnold. Hannes Stein trifft die New Yorker Journalistin Lucette Lagnado, die aus einer Familie ägyptische Juden stammt und viel über die Vertreibung der Juden aus Ägypten geschrieben hat.

TAZ, 07.01.2012

Mit äußerster Skepsis betrachtet Ulrich Schulte das Spiel der Bild-Zeitung in der Causa Wulff, die zwar einerseits vermeintlich demütig die Transkripte von Christian Wulffs Mailboxnachrichten der Öffentlichkeit vorenthält, sie aber andererseits Journalisten am Telefon unter Vorbehalt auszugsweise vorlese: "Ob der Bundespräsident gelogen hat oder nicht, lässt sich aus den wenigen Sätzen nicht herauslesen. Was aber als bestürzende Erkenntnis bleibt, ist die wirre Hilflosigkeit, mit der das Staatsoberhaupt da einer Mailbox droht. Dies abzuhören muss ein Fest für den machtbewussten Bild-Chef gewesen sein. Und er tut alles, um dieses Gefälle aufrechtzuerhalten. Gegen die Professionalität, mit der das Blatt gerade seinen Spin der Geschichte durchsetzt, wirkt der Bundespräsident wie ein getriebener Dilettant." (Interessant dazu auch der Artikel von Stefan Niggemeier im Spiegel, der wenigstens ansatzweise beschreibt, wie Informationen der Bild zuerst in anderen Zeitungen, etwa der Sonntags-FAZ, veröffentlicht wurden.)

Weitere Artikel: Oliver Nachtwey fasst zwei oder drei Dinge, die wir über Slavoj Zizek wissen, zusammen. Anna Frenyo unterhält sich mit dem Budapester Schauspieler Janos Kulka über die momentane Situation in Ungarn. Eva-Christina Meier redet mit dem chilenischen Ex-Präsident Ricardo Lagos über die aufbegehrende Jugend in seinem Land. Ulrike Wiebrecht fühlt sich im Pariser Buchladen Shakespeare & Company wie im Paradies (in Paris untergekommen ist sie privat). Waltraud Schwab stellt den Schweizer Origami-Künstler Sipho Mabona vor. Petra Schellen unterhält sich mit dem Skandinavist Klaus Böldl über isländische Sagas. Den Berlinern empfiehlt Barbara Schweizerhof eine Werkschau mit Filmen von und mit Sandrine Bonnaire. Torsten Landsberg überlegt, warum sich das Format der Late-Night-Show in Deutschland nie so recht durchgesetzt hat. Robert Iwanetz spielt TwinKomplex, den neuen Hype unter den Onlinespielen. Cigdem Akyol wirft einen Blick in die Sarrazin-Reportage, die der WDR am kommenden Montag zeigt. Katharina Granzin schreibt den Nachruf auf Josef Skvorecky.

Besprochen werden viele Bücher, darunter Nicolas Mahlers Comic-Adaption von Thomas Bernhards "Alte Meister" und ein Sammelband über die "Generation Facebook" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 07.01.2012

Thomas David hat in Kiel den Schriftsteller Feridun Zaimoglu besucht und mit ihm über den Geschmack von Asche, Sehnsucht und die Schwarz-Rot-Gold-Romane "Liebesbrand", "Hinterland" und "Russ" gesprochen: "'Bei diesen Romanen handelt es sich eigentlich um Bilderbücher', sagt Zaimoglu, die Zigarette im Mundwinkel, 'um einen Spaziergang durch eine Traumlandschaft. ... Das grundlegendste, wesentlichste Moment des Deutschen ist für mich das Sehnen', sagt Zaimoglu. Er selber verzehrt sich bei der Arbeit an seinem neuen Roman, hat in den letzten Monaten acht Kilo abgenommen."

Weitere Artikel: In der Reihe "When the music's over" erinnert sich Rolf Urs Ringger an eine Offenbarung. Her. schreibt den Nachruf auf die Fotografin Eve Arnold.

Besprochen werden zwei Otto-Dix-Schauen: in der Kunstsammlung Gera und im Museum Gunzenhauser in Chemnitz, eine Ausstellung über jüdische Displaced Persons im Jüdischen Museum München und Bücher, darunter Elias Canettis Briefwechsel mit Marie-Louise von Motesiczky (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die Beilage Literatur und Kunst druckt die gekürzte Tübinger Poetikvorlesung Brigitte Kronauers über "die Gewalt der Bilder". Nach Vittorio Magnago Lampugnani (hier) und Stanislaus von Moos (hier) beteiligt sich nur auch Georg Franck an der Architekturdebatte und überlegt, wie die Idee der Allmende für die Architektur fruchtbar gemacht werden kann. Und Werner Oechslin denkt über die angebliche Geschichtslosigkeit der Moderne in der Architektur nach.

FR/Berliner, 07.01.2012

Hans Christoph Buch traut den anscheinend vertauschten Rollen von einer Bild-Zeitung, die sich zum Gralshüter der Wahrheit und Pressefreiheit und lügendem Bundespräsident nicht ganz. Doch meint er: "Das hohe Gut der Meinungsvielfalt schließt die Gefahr des Missbrauchs mit ein, wenn eine Zeitung zur Hatz auf unliebsame Politiker bläst und die Berichterstattung zur Menschenjagd wird."

Weitere Artikel: Andreas Förster schreibt über die Bemühungen einer Leipziger Bürgerinitiative zur Rettung des nach einem Silvesterbrand stark beschädigten Capa-Hauses in der Jahnallee, das am Ende des Zweiten Weltkriegs Schauplatz einer Fotoreportage von Robert Capa war (mehr bei der Leipziger Internet Zeitung). Ingeborg Ruthe stellt den neuen Generaldirektor der Dresdner Kunstsammlungen, Hartwig Fischer, vor. In China besinnt man sich wieder auf den Konfuzianismus, informiert Karl Grobe.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern von Emil Nolde in der Berliner Dependance der Nolde Stiftung und Ludvik Vaculiks laut Mathias Schnitzler wiederzuentdeckender Roman "Die Meerschweinchen" aus dem Jahr 1970 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 07.01.2012

"Das unterschiedslose Algorithmenbashing ist so unfruchtbar wie Kritik der 1980er Jahre an 'den Computern'", schreibt Kathrin Passig in Richtung zahlreicher kultur-, bzw. algorithmenkritischer Feuilletonisten, denen sie glatt den Spiegel vorhält: "Begründungsbedürftig wäre (...), warum der 'gleichförmige Fluss von Mainstreaminhalten' nicht viel eher dort entstehen soll, wo eben keine personalisierten Empfehlungen am Werk sind und wo schon aus Platzgründen nur ein winziger Bruchteil der gesamten kulturellen Produktion berücksichtigt werden kann: in Bestsellerlisten, in Buchhandlungen, im Radio und in der Presse."

Weitere Artikel: Jens-Christian Rabe unterhält sich mit Thomas Meinecke, der ab kommendem Dienstag in Frankfurt Poetik doziert und dabei unter seinen Studenten "eine Lust am Sekundären, am Nachgestellten, Nicht-Eigenen, am abhängigen Autorsubjekt" zu wecken hofft. Georg Imdahl blickt auf kommende Kunstmessen. Stefan Ulrich gratuliert dem Historiker Max Gallo zum 80. Geburtstag. Andrian Kreye schreibt den Nachruf auf die Fotografin Eve Arnold.

Von der Spiegel-Affäre bis zum Versagen im Fall der Thüringer Terror-Nazibande: Im Aufmacher der SZ am Wochenende knöpft sich Heribert Prantl den Verfassungsschutz vor und fordert: "Nach dem jüngsten Skandal, dem Neonazi-Skandal, muss der Verfassungsschutz sich selbst in den Mittelpunkt seines Berichtes stellen. Und die Frage, wer die Verfassung vor ihren Schützern schützt, ist zwar bissig, aber wichtig."

Weiteres: Bernd Herbon besucht den Komponisten Helmut Oehring, der in einer tauben Familie als einziger Hörender aufgewachsen ist. Martin Wittmann unterhält sich mit dem Krimiautor Jo Nesbo über das Thema "Karriere".

Besprochen werden neue Jazz-CDs, eine Ausstellung über mittelalterliche Kunst aus Köln im Museum Schnütgen und Bücher, darunter Wolfgang Sofskys soziologische Studie über Bilder der Gewalt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 07.01.2012

In Bilder und Zeiten erzählt der britische Schriftsteller John Burnside, wie er sich ein Zuhause schafft - mit allem, was er unterwegs, etwa in einem Kreuzberger Hotel, so findet. "Mir gefällt dieses Viertel, vielleicht weil die Leute so sehr in ihrer eigenen Zauberwelt leben, dass sie mich nicht beachten, vielleicht auch, weil mir dieses Hotelzimmer wie das Zuhause vorkommt, das ich als Kind nicht hatte, mit schwalbenförmigen Kleiderbügeln an der Wand und einem Spruch neben der Tür: 'Zuhause ist, wo deine Geschichte beginnt.' Der Innenarchitekt hatte wohl etwas übrig für die Süße und die Ironie von Kitsch, aber mich berührt es."

Weitere Artikel: Lest Hans Blumenberg, ruft Henning Ritter den FAZ-Lesern im Aufmacher zu. Wer wissen will, wie die Performance-Kunst in Osteuropa begann, muss die Akten der Staatssicherheit studieren, erklärt Kata Krasznahorkai. Und Tomas Kurianowicz unterhält sich mit dem polnischen Bariton Mariusz Kwiecien über moderne Inszenierungen.

Im Feuilleton besucht Karen Krüger Andreas Brendel, den einzigen deutschen Staatsanwalt, der noch in Kriegsverbrechen ermittelt: "Die Opfer sollen wissen, dass die Justiz sie nicht vergessen hat. Vor allem aber will Brendel eines: Kein NS-Täter soll sich sicher sein, dass die Polizei nicht doch noch eines Tages bei ihm klingelt. Siebenundsechzig Jahre nach Kriegsende gefällt das nicht jedem." Andere jedoch helfen und so wird es vielleicht doch noch einen Prozess gegen ehemalige SS-Männer geben, die bei dem Massaker in Oradour 1944 für den Tod von 642 Menschen verantwortlich waren. Mehr dazu beim WDR.

Weitere Artikel: Constanze Kurz fürchtet, die deutsche Sprache könnte dauerhaft von Worterkennungsalgorithmen entstellt werden. In der Leitglosse erklärt Swantje Karich, warum Berlin die Kunstsammlung von Nicolas Berggruen nicht braucht. Jürgen Dollase isst in Kevin Fehlings Lokal "La Belle Epoque" in Travemünde. Wolfgang Jean Stock betrachtet Thomas Herzogs Oskar von Miller Forum in München. Abgedruckt ist ein Gedicht von John Kay, "Paradise Lost". Dietmar Dath gratuliert Stephen Hawking, der am Sonntag Siebzig wird.

Besprochen werden eine Werkschau des Architekten Francisco Mangado im Architekturforum Aedes in Berlin, einige CDs, darunter eine Gesamtausgabe von Gabriel Faures Werken für Streicher und Klavier und Mahler-Paraphrasen von Uri Caine sowie Bücher, darunter Hörbücher von und mit Heiner Müller (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Heinrich Detering ein Gedicht von Ricarda Huch vor:

"Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange,
In dunkler Nacht, die um dich her erglühte.
..."