Heute in den Feuilletons

Nachhaltig ist das neue Gottgefällig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2012. Wir sind alle schuld. An allem. Klagt die Welt mit Blick auf die gerade grassierenden ökologischen, diätetischen oder demografischen Diskurse. Der Freitag will Ingo Schulze nicht auf die Zielgerade folgen. Die NZZ berichtet über einen Dresdner Architekturstreit. Die taz präsentiert zum siebzigsten Jahrestag der Wannsee-Konferenz Dokumente und Interpretationen. Die FAZ vertritt widerstreitende Standpunkte zum amerikanischen Zensurgesetz SOPA.

Welt, 20.01.2012

Egal an was. Wir sind alle schuld, konstatiert Richard Kämmerlings mit Blick auf die gerade grassierenden ökologischen, diätetischen oder demografischen Diskurse: "Während die christliche Religion (hierzulande) ihre Geltung für die alltägliche Lebensführung weitgehend verloren hat - am deutlichsten in der völlig deregulierten Sexualität, einst der sensibelste Bereich der Moral - wird eine Alltagssphäre nach der anderen unter säkularen ideologischen Vorzeichen durchmoralisiert. 'Nachhaltig' ist das neue Gottgefällig." Wir empfehlen zur weiteren Lektüre Pascal Bruckner: "Der Schuldkomplex".

Weitere Artikel: Iris Alanyali freut sich über die Namensfreiheit in den USA, die es Exzentrikern erlaubt, sich zum Beispiel in "Beezow Doo Doo Zopittybop-Bop-Bop" umzubenennen. Kai Luehrs-Kaiser schreibt den Nachruf auf Gustav Leonhardt. Marc Reichwein wartet in seiner Feuilletonkolumne auf die feuilletonistische Wiederaufarbeitung der Havarie der Costa Concordia. Und "t.s." schreibt zum Tod des Übersetzers Curt Meyer-Clason im gesegneten Alter von 101 Jahren.

Besprochen werden Pippo Delbonos Stück "Epressung" im Münchner Residenztheater, David Wnendts Film "Die Kriegerin" (mehr hier) über ein Neonazi-Mädchen und eine große David-Hockney-Ausstellung in Londons Royal Academy.

Beunruhigend die Kolumne von Maxeiner & Miersch im politischen Teil: Bei Solaranlagen lässt sich der Strom nicht abschalten. Brennt ein Haus, kann die Feuerwehr nicht mit Wasser löschen, und das Dämmmaterial geht in Flammen auf.

Freitag, 20.01.2012

Ingo Schulze geißelte neulich in der SZ den Finanzkapitalismus, der unsere Gesellschaften in Schach halte. Ulrike Baureithel stimmt ihm weitgehend zu, folgt ihm aber nicht auf die Zielgerade: "Denn der knapp 50-jährige Autor operiert mit einem Werkzeug und einem Sinnhorizont, die an eine Zeit erinnern, in der die Gebildeten ihrer eigenen Selbstaufhebung zu entgehen suchten, indem sie sich mit "Entschlossenheit" den "nackten Tatsachen" stellten, in einer Art Notstandslogik, die entweder Untergang oder apokalyptischen Übergang heraufbeschwor. Die Rede ist von der Weimarer Republik und ihren Intellektuellen."

Außerdem im Freitag: Richard Szklorz bespricht Vivien Steins umstrittenes Buch über Heinz Berggruen.

NZZ, 20.01.2012

Darf in Dresden nur barock gebaut werden? Darüber liegt man sich derzeit in den Haaren, berichtet Jürgen Tietz. "In einem offenen Brief haben sich Dresdner Prominente wie die Musiker Ludwig Güttler und Peter Schreier sowie der Schriftsteller Uwe Tellkamp gegen den Entwurf des Architekturbüros Kupferschmidt für das 'Quartier 5' gleich neben dem Kulturpalast ausgesprochen." Tietz findet das nicht nur in demokratischer Hinsicht fragwürdig: "Denn egal, ob modern oder traditionell - würde man die Fassadengewänder der neuen Dresdner Architektur lüpfen, so käme darunter die immergleiche graue Betonkonstruktion zum Vorschein."

Weitere Artikel: Marko Martin besucht burmesische Exilanten und ihre Zeitschrift The Irrawaddy im thailändischen Chiang Mai. Wem ist heute noch was peinlich, fragt sich Joachim Güntner mit Blick auf Christian Wulff. Urs Hafner besucht die Bibliothek Werner Oechslins in Einsiedeln. Peter Hagmann hört Konzerte des Orchestre de la Suisse Romande.

Aus den Blogs, 20.01.2012

Jagoda Marinic wehrt sich in ihrem Blog gegen einen Artikel auf der Bildungsseite der FAZ, der sich über die "Lockerheit" an unseren Schulen beklagt: "Im letzten Absatz steht da tatsächlich, unvermittelt und ohne Vorwarnung, ein Seitenhieb gegen muslimische Schüler: 'Sollte dieses Experiment gelingen, würden unsere Bildungseinrichtungen verlorenes Ansehen zurückgewinnen, jenes gesellschaftliche Gesicht und jenen Respekt, den unsere muslimischen Schüler so gerne einfordern, aber selten anderen gewähren.' Das verharmlosende 'unsere' macht den diskriminierenden Seitenhieb keinen Deut besser. Hier schreibt einer von der Sehnsucht nach der Herstellung der alten Ordnung und jubelt einer religiösen Gruppe Schüler eine Unordnung unter, die diese Gruppe zu Feind eines Wertes machen, den wir gemeinhin anerkennen: Respekt."

TAZ, 20.01.2012

Zum 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz dokumentiert und erläutert die taz auf fünfzehn Seiten die Protokolle, in denen die Vernichtung der Juden beschlossen wurde. Der Historiker Peter Klein schreibt im einleitenden Essay: "Ihr einziger Tagesordnungspunkt war von historisch einmaliger Ungeheuerlichkeit: der Massenmord an Millionen Menschen - mit Frühstück und Cognac." Klaus Hillenbrand gibt Erläuterungen zu den Beteiligten und den einzelnen Passagen.

Weitere Artikel: Franz Brendle informiert über einen Appell von Abgeordneten aus 19 EU-Staaten, der sich gegen die Relativierung des Holocaust und einen vom EU-Parlament geforderten gemeinsamen europäischen Gedenktag für die Opfer von Nazi- wie sowjetischen Verbrechen wendet: Dies "verwische die Einzigartigkeit der Verbrechen und unterlaufe die historischen Lehren, die aus ihnen zu ziehen seien". Wie "eine Rolle rückwärts in die Zeit nach 1989" kommt Katrin Bettina Müller die Forderung von Bundesbauminister Peter Ramsauer vor, das Marx-Engels-Denkmal vom Marx-Engels-Forum nahe dem Alexanderplatz in Berlin verschwinden zu lassen. Enrico Ippolito berichtet von der seit Mittwoch laufenden Berliner Fashion Week, wo er die die provokative und spannende Mode eher vor dem Zelt sah als darin.

Besprochen werden das neue Album "Die meisten Irren" des Stuttgarter Duos Rocket/Freudental und das Album "Journey of the Deep Sea Dweller 1" des Detroiter Techno-Projekts Drexciya.

Und Tom.

FR/Berliner, 20.01.2012

Bernhard Honnigfort fragt sich, ob die Hamburger Elbphilharmonie eigentlich auch mal fertig wird. Angesichts der verfahrenen rechtlichen Situation, stehen die Chancen schlecht: "So begann der Streit. Auf der einen Seite Architekten und ihr hipper Entwurf, auf der anderen ein knapp kalkulierendes Bauunternehmen, das umsetzen sollte, was sich so einfach nicht bauen ließ. Die Stadt hatte mit beiden Seiten Verträge, aber es gab keine zwischen Architekten und Bauunternehmen. Ein unglaublicher Lapsus einer Stadt, die sich ihrer jahrhundertealten Kaufmannstradition rühmt."

Weitere Artikel: Judith von Sternburg berichtet ausführlich über Streitereien zwischen Intendant und GMD am Staatstheater Darmstadt. Andreas Mix erinnert an die Wannseekonferenz, bei der vor 70 Jahren die Durchführung des Holocaust planerisch perfektioniert wurde.

Besprochen werden Nuri Bilge Ceylans Film "Once upon a Time in Anatolia", eine Ausstellung über Demonstrationen im Frankfurter Kunstverein und das neue Pollesch-Stück "Kill Your Darlings" an der Volksbühne Berlin.

SZ, 20.01.2012

Dokumentiert wird György Konrads kürzlich gehaltener Vortrag an der Akademie der Künste anlässlich des 70. Jahrestags der Wannsee-Konferenz. Wenn München einen vierten Konzertsaal bekommt, sollte die Stadt auch gleich noch einen Intendanten dazugeben, der das "träg saturierte Kulturleben" der Stadt etwas befeuert, meint Reinhard Brembeck. Griechenland will künftig günstigere Konditionen für Film- und Werbedrehs in seinen antiken Bauten anbieten, berichtet Christiane Schlötzer, damit sich die Staatskasse wieder etwas füllt. Karl Bruckmaier schreibt den Nachruf auf den Musiker Johnny Otis - hier eine alte Fernsehaufnahme aus den Fünfzigern:


Besprochen werden Nuri Bilge Ceylans in Cannes ausgezeichneter Film "Once Upon a Time in Anatolia", eine Ausstellung mit französischen Stadtmodellen im Grand Palais in Paris, Rene Polleschs "Kill your Darlings" an der Berliner Volksbühne sowie dessen Ausstellung "Der Dialog ist ein unverständlicher Klassiker" in der Berliner Galerie Buchholz und Bücher, darunter Thomas Meineckes Roman "Lookalikes" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 20.01.2012

"Der Verwerter-Lobbyismus zur Gängelung der Nutzer durch Zensur- und Sperrgesetze ist so weit ausgeartet, dass er nicht nur eine Bedrohung von Rezipientenfreiheit und freier Meinungsäußerung im weltweiten Netz zu werden droht, sondern das Netz als Ganzes in Frage stellt", warnt Constanze Kurz in ihrer Maschinenraum-Kolumne zum vorgestrigen Blackout-Tag und ätzt weiter: "Die eigentlich spannende Frage bleibt daher: Wann legen die großen Internet- und Computerfirmen endlich zusammen und kaufen die nervigen Verwerterkonzerne auf?"

Den Standpunkt der nervigen Verwerterkonzerne vertritt dagegen Fridtjof Küchemann auf der Meinungsseite: "Die größte Sorge von Internet-Giganten wie Google und Facebook scheint hingegen zu sein, dass in der Diskussion um den Umgang mit geistigem Besitz im Netz ihre milliardenschweren Geschäftsmodelle in den Blick geraten, die weitgehend ohne eigene Inhalte auskommen. So lag es nahe, den Sympathieträger Wikipedia zum Vorzeigeopfer der drohenden Restriktionen zu machen."

Weiteres: Gina Thomas führt durch das britische Jubiläumsprogramm zum baldigen 200. Geburtstag von Charles Dickens. Freddy Langer referiert anlässlich der Kodak-Insolvenz die frühe, steile Erfolgsgeschichte des Fotofilmherstellers. Swantje Karich spricht mit einem "wenig konkret" werdenden Okwui Enwezor über seine Pläne für das Münchner Haus der Kunst, dessen dort offenbar selten gesehener Leiter er schon seit Herbst 2011 ist. Joseph Croitoru wirft einen Blick in die neuen Ausgaben der Zeitschriften Osteuropa und Ost-West. Felicitas von Lovenberg zeiht Simon Schama nach dessen Attacke auf die TV-Serie "Downtown Abbey" der Eitelkeit. Ulla Fölsing besichtigt das von Tadao Ando entworfene Skulpturenmuseum in Bad Stein.

Besprochen werden Nuri Bilge Ceylans Film "Once Upon A Time in Anatolia", das Spektakel "The Enchanted Island" an der New Yorker Met und Bücher, darunter die Textsammlung "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass" von Liu Xiaobo (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).