Heute in den Feuilletons

Hunde und Katzen, Liebe und Tod

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2012. Alain de Botton hat ein Rad neu erfunden, das sich niemals richtig drehte, meint John Gray im Guardian zu Bottons Idee eines atheistischen Tempels. In der Welt verabschiedet Martin Andree den "Digital Dream" von einer Demokatisierung der Welt durch das Netz. Alle Zeitungen trauern um Wislawa Szymborska. Man darf sie zwar einen "Mozart der Poesie" nennen, aber nicht ohne ihr auch die "Wut eines Beethoven" zu bescheinigen, sagt die NZZ.

NZZ, 03.02.2012

Marta Kijowska trauert um die polnische Dichterin Wyslawa Szymborska, die man zwar den "Mozart der Poesie" nennen dürfe, aber nicht ohne ihr auch die "Wut eines Beethoven" zu bescheinigen. Und sie zitiert aus Szymborskas Gedichtband "Rufe an den Yeti": "Nichts kommt zweimal vor, / auch wenn es uns anders schiene. / Wir kommen untrainiert zur Welt / und sterben ohne Routine."

Marco Frei begrüßt sehr, dass mit der Dokumentation von Dmitri Schostakowitschs Filmmusiken nun wenigstens begonnen wird. Daniel Ender sieht sich Glenn Gould auf DVD an. Samuel Herzog schreibt einen Nachruf auf die surrealistische Malerin Dorothea Tanning.

Weitere Medien, 03.02.2012

John Gray greift im Guardian Alain de Bottons Idee eines atheistischen Tempels (mehr hier und hier) auf und erzählt, dass bereits Auguste Comte im 19. Jahrhundert diese Idee mit einigem Erfolg realiserte (bis sie wieder verfiel): Atheistische Tempel gab es in Frankreich, aber auch in Brasilien: "When he proposes building a temple for unbelievers, de Botton is reinventing a wheel that never really turned. The fad for atheist temples lasted for perhaps 60 years, while places of worship dedicated to something bigger than humanity have been around for many millennia. There is a nice irony here. For all his loony notions, Comte was more intelligent than most of the atheists who came after him. He saw clearly that religion is an enduring human need that cannot be denied."

TAZ, 03.02.2012

Ingo Arend würdigt in einem Nachruf den amerikanischen Künstler Mike Kelley, der sich am Dienstag das Leben genommen hat. Der häufige Rekurs des "Grenzgängers zwischen Kunst, Musik und Philosophie" auf die Psychoanalyse etwa sei kein Zufall gewesen. "Weil es Kelley immer um den Punkt ging, wo das Populäre, Kitschige ins Unheimliche, Brutale, Perverse umschlug. Dazu dienten auch die bunten Plüschtiere, Puppen und Häkeldecken, die immer wieder in seinem Oeuvre auftauchten."

Weiteres: Ulf Erdmann Ziegler beobachtet "einen lokalen Kolonialkrieg", auf den die Stadt Frankfurt zusteuert: Es geht um Pläne für ein unterirdisches Museum der Weltkulturen, dessen Standort auf Widerstände stößt. Reiner Wandler berichtet, dass jetzt auch Madrid eine Mona Lisa hat: Nach der Restaurierung wird eine einem flämischen Maler zugeschriebene Kopie jetzt einem der beiden Assistenten von Leonardo Da Vinci zugeschrieben. Tim Caspar Boehme informiert darüber, dass der Musiker und Softwaredesigner Markus Popp alias Oval sein Werk samt Klangarchiv und Musiksoftware zur Verfügung stellt: Seine soeben erschienene Compilation "OvalDNA" mit unveröffentlichtem und exklusivem Material von 1997 bis 2010 umfasst eine "zusätzliche DVD mit mehr als 2.000 Klangdateien, die nun jeder verwenden könne.

Und Tom.

FR/Berliner, 03.02.2012

Matthias Schnitzler verabschiedet die einzigartige Dichterin Wyslawa Szymborska, deren Lyrik so tief und so leicht zugleich war: "Der Ausgangspunkt aller ihrer Gedichte blieb immer die Verwunderung, das Staunen. Nichts ist für Szymborska selbstverständlich, alles im wahren Wortsinn merkwürdig. Individualität geht ihr dabei über alles, als Form und als Haltung: 'Die Nullen einzeln sind mir lieber/als zur Schlange an eine Ziffer gehängt.'"

Weiteres: Daniel Kothenschulte hat schon begonnen, die Mona Lisa des Prados zu lieben. Als "barocken Feinfranzosen" preist Peter Michalzik den Genremaler Claude Lorraine, dem das Frankfurter Städel eine große Schau widmet. Ralf Schenk besichtigt eine Ausstellung zu Mario Adorf in der Berliner Akademie der Künste. Stephan Hebel erklärt, warum er an Christian Wulff doch höhere Ansprüche gestellt sehen möchte als an ihn selbst. Sebastian Preuss schreibt den Nachruf auf Mike Kelley.

Welt, 03.02.2012

Ohne die üblichen kulturkritischen Töne anzuschlagen, verabschiedet der Medienforscher Martin Andree de "Digital dream" von einer Demokatisierung der Welt durch das Netz. Grund: "der rätselhafte Drang des Internets zur Monopolbildung, so dass sich am Ende immer nur eine Suchmaschine (Google), ein Videoportal (Youtube), ein Buchladen (Amazon), ein Auktionsportal (Ebay) und voraussichtlich ein Social Network (Facebook) durchsetzt, Online-Giganten, die wie Schwarze Löcher immer größere Massen an Content und Traffic in sich aufsaugen."

Gerhard Gnauck schreibt zum Tod der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska: "Umgangssprachlich kommen ihre Verse daher, ohne Reim und Metrum, dafür behandeln sie ein weites Spektrum von Stoffen. Biblische und historische Motive, Hunde und Katzen, Liebe und Tod, Gemälde, in die sie sich vertieft, nichts ist ihr fremd. Als Mini-Novellen, als Mikro-Essays hat man ihre Gedichte bezeichnet."

Weitere Artikel: Andrea Backhaus betrachtet die jüngst als solche erkannte "Mona Lisa"-Kopie aus dem Atelier Leonardos. Boris Kalnoky zitiert hämische Antworten des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auf die Paul Austers Kritik an der Meinungsfreiheit in dem Land, in dem hundert Schriftstller und Journalisten im Gefängnis sitzen (hier Austers Reaktion auf Erdogans Äußerungen). Tim Ackermann schreibt den Nachruf auf den früh verstorbenen Künstler Mike Kelley. Und Marc Reichwein untersucht für seine Feuilleton-Kolumne Wettermetaphern im Feuilleton.

Auf den Forumsseiten konstatiert Richard Herzinger, dass sich die westlichen Regierungen "mit der kommenden Wiedereroberung Afghanistans durch die Taliban bereits abgefunden haben"

SZ, 03.02.2012

Lothar Müller würdigt die am 01. Februar gestorbene, polnische Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska als "Augenblickserforscherin", die "vor allem Gegenwartsbewahrerin" war. Toralf Staud legt ausführlich dar, warum die jüngsten Versuche der NPD, sich vom Terror der Zwickauer Zelle und Gewalt im allgemeinen zu distanzieren, fadenscheiniger Natur sind. Max Fellmann hört die neue Soloplatten von Paul McCartney (der "eher wie Tante Paula" singe) und Ringo Starr. Gottfried Knapp schreibt über die Entdeckung einer Mona-Lisa-Kopie aus dem Atelier Da Vincis (siehe auch diese Meldung). Nachrufe gibt es auf Mike Kelley, Dorothea Tanning und Don Cornelius.

Besprochen werden der israelische Kinofilm "Ein Sommer in Haifa", eine Ausstellung mit Bildern von Wilhelm Sasnal im Münchner Haus der Kunst und zwei Krimis von Buddy Giovinazzo (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 03.02.2012

Nils Minkmar möchte die Affäre um Christian Wulff noch einmal auf den Punkt bringen: "Es geht nicht um die Freundschaft, die Wulff auf so verheerende Weise kommerzialisierte. (...) Es geht um Wahrheit oder Lüge im Amt des Bundespräsidenten."

Weiteres: Constanze Kurz sieht in ihrer "Maschinenraum"-Kolumne mit den Wortmeldungen Ansgar Hevelings das überwunden geglaubte Zeitalter der Internetausdrucker unter konservativen Klientel-Politikern neuerlich heraufdämmern. Eduard Beaucamp sieht die ästhetische Sprengkraft der modernen Kunst als westliche, unartikulierte Staatskunst domestiziert. Oliver G. Hamm inspiziert die von Stephan Braunfels konzipierten Neubauten in der Altstadt von Gifhorn. Rose-Maria Gropp schreibt den Nachruf auf Mike Kelley, Harald Hartung den auf Wislawa Szymborska.

Besprochen werden Martin Schläpfers Inszenierung von "Castor et Pollux" am Opernhaus Düsseldorf und Bücher, darunter Paul Nizons Journal von 2000-2010 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).