Heute in den Feuilletons

Wegfall von Arbeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2012. Heute beginnt die Berlinale. In der FAZ zeigen drei deutsche Regisseure auf Leerstellen, aus denen Erzählung werden sollen. Die FR freut sich auf tolle Anti-Kulakenfilme in der Berlinale-Retro. Der Freitag warnt vor dem geplanten Research Works Act in Amerika, der den Zugang zu Wissenschaft erschweren könnte. In der NZZ schreibt Georg Klein über Frost. Die Zeit staunt über Peter Nadas: den Autor, der auf 1700 Seiten dieses verdammte europäische Ich erledigt. Alle gratulieren dem großen Gerhard Richter zum Achtzigsten.

TAZ, 09.02.2012

Großer Bahnhof für Gerhard Richter, den bedeutendsten und teuersten deutschen Maler der Gegenwart, der heute achtzig wird. Ralf Hanselle würdigt ihn im Porträt als einen, der sich immer entzieht und immer antizyklisch und zwischen den Stühlen malt. Heute enthalte "Richters moderne Mischung die Blue Chips des Kunstmarkts. In seinem Portfolio befindet sich alles, was nach landläufiger Meinung arty ist - alles, was ohne '-ismen' daherkommt: Figuration und Abstraktion, Historie und Banalität, Fotobild und übermalte Fotos. Die Chinesen, heißt es, schätzen Richters Abstraktionen, die Deutschen seinen 'Stammheim-Zyklus'; Investoren loben die Werthaftigkeit; das Eventpublikum schwärmt von einem Modernen, der sogar 'richtig' malen könne."

Der Kunsthistoriker Daniel von Schacky glaubt, dass die Preise für Richters Werke noch steigen könnten, die allerdings nicht nur aus Investitions- oder Spekulationsgründen erworben würden. "Die Sammler seiner Werke sind ein ganz bunter Haufen."

Vielversprechend findet Cristina Nord die Wettbewerbsfilme der heute startenden Berlinale, die das mantrahaft und "lauthals annoncierte Politische tatsächlich einlösen könnten". Außerdem gibt es erste Berlinale-Seiten mit Besprechungen und einem Artikel von Oksana Bulgakowa zur Retrospektive.

Weitere Artikel: "Rollenbilder von vorgestern" wirft Marco Maurer in einer Replik auf Zeit-Autorin Nina Pauer vor, die in einem Essay dem zeitgenössischen Pop die Schuld an der Verweichlichung der neuen "Schmerzensmänner" gab. Statt Aufbruch nur Konsolidierung sieht Marcus Woeller im wiedereröffneten Gebäude der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in der Berliner Auguststraße, das nun Restaurants und Galerien beherbergt. David Denk unterhält sich mit Benjamin von Stuckrad-Barre, über die heute startende neue Staffel seiner "Stuckrad Late Night" auf Neo.

Besprochen werden Tobias Rauschs Recherche-Stück "Oder Bruch" am Deutschen Theater über die Geschichten der Menschen, die 1997 das schlimmste Oderhochwasser seit Menschengedenken miterlebten, und Indra Sinhas Roman "Menschentier", in dem die Opfer der Chemiekatastrophe von Bhopal sprechen. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

NZZ, 09.02.2012

In einem sehr schönen Text über den Frost stellt sich der Schriftsteller Georg Klein auch den Moment vor, an dem der Mensch zum ersten Mal von ihm erfasst wurde: "Wenn es stimmt, dass die Ahnen der Menschheit aus den tropischen Wäldern und den trockenen, warmen Savannen Afrikas nordwärts gezogen sind, dann muss es eine Urbegegnung gegeben haben: Eine Horde aus Männern, Frauen und Kindern wurde erstmals einer Verwandlung gewahr, für die ihnen in den Grenzen ihrer Sprache kein Wort und im Raum ihrer Erfahrung kein angemessener Vergleich zu Gebote stand. Etwas namenlos Neues hatte über Nacht das Gesicht der Welt verändert."

Weitere Artikel: Susanne Ostwald gibt einen Ausblick auf die heute beginnende Berlinale. Jörg Becker feiert das deutsch-sowjetische Filmunternehmen Meschrabpom, das gegen die Reaktion in der Weimarer Republik keine Chance hatte und dem die Berlinale ihre Retrospektive widmet. Urs Hafner berichtet von Umstrukturierungen im Jüdischen Museum der Schweiz.

Besprochen werden Anne Fontaines Gesellschaftssatire "Mon pire cauchemar" und Bernd Stieglers Studie "Belichtete Augen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 09.02.2012

Die Berlinale hat unter anderem wegen ihres ungünstigen Termins gegenüber Cannes und Vendig und sogar Toronto an Bedeutung verloren, schreibt Hanns-Georg Rodek auf der Forumsseite. "'Die eiserne Lady' wäre ein idealer Wettbewerbsfilm gewesen, aber er musste vor Jahresende 2011 in die US-Kinos, damit Meryl Streep oscarnominiert werden konnte. Berlin bleiben die eisernen Sägespäne, und das Festival zieht sich ehrbar aus der Affäre, indem es eine 'Spezialvorführung' ansetzt und der Streep einen Ehren-Bären verleiht. So ist ihr Film da, und so ist sie da - aber ein Behelf ist es trotzdem."

Im Feuilleton steht ein kurzer Geburtstagsgruß für Gerhard Richter (dem die Welt morgen eine Sonderbeilage widmet). Wieland Freund und Ekkehard Kern bringen (unter Bezug auf das Blog Good E-Reader) die Meldung, dass Amazon in Seattle einen ersten Laden eröffnet. Manuel Brug meldet, dass die Berliner Philharmoniker eine rekonstruierte Version des unvollendeten Finales von Bruckners Neunter aufführen werden (die ohne Finale viel beeindruckender ist). Andrea Backhaus unterhält sich mit dem niederländischen Kunsthistoriker Matthijs Ilsink, der vor dem 500. Geburtstag Hieronymus Boschs im Jahr 2016 sämtliche Gemälde und Zeichnungen des Künstlers mit modernster Technik durchleuchtet. In seiner Kolumne "J'accuse" schreibt Alan Posener über das Computerspiel "The Binding of Isaac", das erst ab 16 Jahren erlaubt sein soll, weil dort die Geschichte des Isaak erzählt wird, welche von den Zensoren der Freiwilligen Selbstkontrolle als blasphemisch empfunden wird.

Besprochen werden die Filme der Woche und ein "Großstadt-Triptychon" der künftiger Gelsenkirchener Ballettdirektorin Bridget Breiner.

Freitag, 09.02.2012

Es gibt nicht nur SOPA, PIPA und ACTA, schreibt Ulrich Herb in einem wichtigen Artikel zu einer Wissenschaftler-Initiative, die sich gegen die großen Wissenschaftsverlage wehrt, es gibt auch den ebenso gefährlichen Research Works Act (RWA), mit dem die Wissenschaftsverlage ihr Geschäftsmodell sichern wollen. Er "fordert die Abschaffung der Open Access-Mandate der amerikanischen Forschungsförderer. Wer etwa von den National Institutes of Health finanziell gefördert wird, muss projektbezogene Publikationen derzeit nach 12 Monaten entgeltfrei verfügbar machen. Der RWA würde solche Vorgaben hinfällig machen und die Wissenschaftsverlage könnten die staatlich finanzierten Publikationen wieder bis 70 Jahre nach dem Tod der Urheber exklusiv verbreiten."

Im Feuilleton berichtet Thomas Ostermeier über seine Moskauer Erfahrungen - auf Einladung eines Thaters hat er dort Regie geführt.

FR/Berliner, 09.02.2012

Barbara Wurm freut sich über die Restrospektive der Berlinale zur "Roten Traumfabrik", der deutsch-sowjetischen Filmfirma Meschrabpom. Besonders gut gefällt ihr das "mal sentimentale, mal enthusiastische, mal radikal klassenkämpferische Werk" von Boris Barnet: "Der ist gleich mit fünf Filmen in der Retrospektive vertreten, wobei der weitgehend unbekannte Anti-Kulakenfilm 'Eisgang' (1931) als eine der echten Entdeckungen dieser Retrospektive gelten darf."

Gerhard Midding unterhält sich mit dem französischen Regisseur Benoit Jacquot über seinen Eröffnungsfilm „Lebwohl, meine Königin!“. Anke Westphal schreibt "zum Geleit". Judith von Sternburg hat sich in Frankfurt Thomas Meineckes Poetikvorlesung angehört.

Besprochen werden der regulär in den Kinos startende Film „Der Junge mit dem Fahrrad" der Brüder Dardenne, große Edvard-Munch-Ausstellung in der Frankfurter Schirn und Rudolf Lorenzens Boulevardier-Reportagen „Die Hustenmary" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 09.02.2012

Peter Cashmore erklärt auf CNN den Erfolg des ganz neuen ganz großen Dings im sozialen Netz, Pinterest: "'people-centric' recommendations are being augmented by 'topic-centric' networks - which is to say that while Facebook lets you explore the Web through information shared by friends, newer social networks organize content by topics of interest. Some in the technology industry call this the 'interest graph.'"

(Via Matthias Rascher) Caroline Stanley zeigt wirklich "Adorable Photos of Pets Waiting in Windows".

Matthias Schwenk betrachtet für Carta die neuen Medien-Debattenportale Vocer (wo abhängige Journalisten unabhängig über Journalismus schreiben) und Diskurs vom Deutschlandradio (das sicher eine klare Meinung zu den Öffentlich-Rechtlichen hat) "Ihr Auftritt im Web lässt nichts Gutes ahnen. Sowohl Vocer als auch Diskurs bieten keine neuen Ansätze auf der technischen Ebene. Wer etwa auf Experimente in Sachen Content-Aggregation, Data-Mining oder der Netzwerk-Analyse gehofft hat, muss sich enttäuscht sehen. Beide Portale sind Stand heute nicht mehr als gewöhnliche Content Management Systeme, die nach alter Väter Sitte mit medialen Inhalten befüllt werden."

SZ, 09.02.2012

In zwei Artikeln würdigt das Feuilleton Gerhard Richter, dem nach einer großen Schau in der Londoner Tate Modern nun auch die Neue Nationalgalerie in Berlin mit einer "spektakulären Ausstellung" die Ehre erweist. Doch wo London sich der Entwicklung von Richters Werk widmete, schreibt Catrin Lorch, "inszeniert Berlin, als gelte es, diesem Künstler, dem wichtigsten Maler der Gegenwart, zum achtzigsten Geburtstag eine ganz große Bühne zu bauen. (...) Berlin ist großes Theater." Dazu schreibt Georg Imdahl zum heutigen 80. Geburtstag des Künstlers.

Weitere Artikel: Michael Stallknecht berichtet von einem in München gehaltenen Vortrag des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl über Geld und Goethe. "Musikalisch nicht restlos ideal" fand Wolfgang Schreiber eine Bruckner-Aufführung der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle. Martin Z. Schröder begutachtet die von Friedrich Forssman und Cornelia Feyll neu gestaltete Reclam-Universalbibliothek.

Außerdem gibt es vier Extraseiten zur heute beginnenden Berlinale mit ersten Empfehlungen und Begegnungen mit Meryl Streep und Stephen Daldry.
 
Besprochen werden der "sehr körperliche" neue Film der Dardenne-Brüder "Der Junge mit dem Fahrrad", die laut Fritz Göttler zwar beschauliche, aber keineswegs atemlose 3D-Konversion des wiederaufgeführten ersten Star-Wars-Films, Christian Schwochows Filmdrama "Die Unsichtbare" und die Anthologie "Das Herz auf der Haut", die sich mit dem Tattoo in der Literatur befasst (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 09.02.2012

Matthias Glasner, Hans-Christian Schmid und Christian Petzold - die drei deutschen Regisseure mit Filmen im Berlinale-Wettbewerb - sprechen über das Filmemachen in Deutschand. Christian Petzold erklärt, was für Filme er hier gerne sehen würde: "Ich verlange im Grunde, Filme zu machen, wie Alexander Kluge über Deutschland schreibt. Das sind Krimis, das sind Komödien, das könnte alles Mögliche sein. Was passiert hier gerade? Wegfall von Arbeit. Was passiert mit einem Land, das eine Industrienation ist und keine Industriearbeit mehr hat oder nur noch wenig? Warum sind die Milliarden von Schlecker verschwunden, warum konnte Schlecker so eine riesige mitbestimmungsfreie Zone aufbauen? Das heißt nicht, dass ich daraus jetzt einen Vierteiler fürs Fernsehen machen möchte, aber in diesen Leerstellen müssen Erzählungen stattfinden."

Zwar steht Thomas Weber dem Vorhaben, auch greise Naziverbrecher noch vor Gericht zu stellen, an sich nicht skeptisch gegenüber, nur ist er sich keineswegs sicher, ob dies der Aufarbeitung der Geschichte dient: "Die Zeit für eine strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen läuft ab, nicht selten steht sie einer historischen Aufklärung sogar im Weg, weil die öffentliche Aufmerksamkeit sich nicht mehr auf die Taten, sondern auf den Zustand der greisen Täter richtet. Und die schweigen." Stattdessen plädiert er für "Wahrheitskommissionen", in denen Täter unter Immunitätswahrung ihre von juristischen Manövern ungetrübe Erinnerungen archivieren lassen sollen.

Weitere Artikel: Andreas Kilb liefert kunsthistorische Hintergründe zum momentanen Streit um die Herausgabe eines Dürer-Bilds aus der Alten Pinakothek für eine Nürnberger Ausstellung. Vergnügt berichtet Christian Wildhagen vom "Puccini Plus"-Festival in Lyon. Thorsten Gräbe hat sich vom konsequenten Montagekonzept von Thomas Meineckes Frankfurter Poetikvorlesung zunächst irritieren, dann faszinieren lassen. Andreas Rossmann war unterdessen bei Götz Alsmanns nicht rundum überzeugenden Antrittsvorlesung als Honorarprofessor mit Ukulele. Patrick Bahners gratuliert Gerhard Richter zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von Van Halen, "Der Junge mit dem Fahrrad", der offenbar gar nicht so typische neue Film der Dardenne-Brüder, und Bücher, darunter Peter Farkas Roman "Acht Minuten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 09.02.2012

Nach achtzehn Jahren ist Peter Nadas' großer Roman "Parallelgeschichten" endlich fertig und ins Deutsche übersetzt, Iris Radisch preist ihn überwältigt als "grausam schön, unübersichtlich, überraschend, anmutig, lüstern, albtraumhaft und vollkommen labyrinthisch". Sie hat Nadas im ungarischen Gombosszeg besucht und einen erleichterten Mann getroffen: "Er sieht aus wie jemand, der vieles hinter sich gelassen hat. Wie haben ihn die Jahre des Schreibens verändert? Dieses verdammte europäische Ich zum Beispiel, sagt er, bedrücke ihn nun nicht mehr. In seinem ersten großen Roman, dem 'Buch der Erinnerung', drehte sich noch alles um dieses bürgerliche, endlos anspruchsvolle Ich, seine Kleider, seine Geschichte, seine Hoffnungen und seine Amouren. Das war noch ein Buch aus dem Postkutschenzeitalter des Individualismus, Jetzt aber, so sieht es Nadas, sei das Ende dieses Zeitalters gekommen: 'Der Individualität sind die Reserven ausgegangen.' Und sein gewaltiger neuer Roman ist das Zeugnis dieses Umbruchs." (Hier eine Leseprobe aus "Parallelgeschichten")

Zur Eröffnung der Berlinale stellt Katja Nicodemus die Cutterin Thelma Schoonmaker vor, die für Martin Scorsese unter anderem "Wie ein wilder Stier", "Goodfellas" und "Zeit der Unschuld" geschnitten hat und nun mit ihm das Melodram "Das Leben und Sterben von Colonel Blimp" ihres verstorbenen Mannes Michael Powell rekonstruiert hat. Darüber spricht Nicodemus auch in einem Interview mit Scorsese, und sie gibt einen Ausblick auf das Programm.

Weiteres: Thomas Groß empfiehlt die Band Die Türen und ihr Album (mit dem echt tiefen Titel) "ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ" als "mahlstromartigen Gegenwartsremix". Kilian Trotier macht die offline-Welt mit dem Autor, Blogger und Aktivisten Cory Doctorow bekannt. Zu Gerhard Richters Achtzigstem erklärt sich Hanno Rauterberg dessen immensen Erfolg mit der Abwesenheit jeder Unruhe im Werk.

Besprochen werden außerdem Christian Krachts Kolonialroman "Imperium" ("sein bisher bester", ist sich Adam Soboczynski sicher) und Zeruya Shalevs Roman "Für den rest des Lebens" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).