Heute in den Feuilletons

Neugierde ist der Modus Operandi

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2012. Die taz fragt: Warum ist in Deutschland eigentlich nur Alexander Kluge modern? In der Welt erzählt Kluge, was er mit Adorno gemein hat. UN Watch begrüßt die neuen Repräsentanten Libyens in der UN, wo sie gleich einen deutlichen Standpunkt in der Schwulenfrage vertraten. Die FAZ singt eine Hymne auf Dagmar Manzel. Le Monde fragt, worauf Bismarck hinaus will. In der FR lobt Götz Aly die Integrationsfähigkeit der SED. Außerdem mehr über Ai Weiwei und die Katzen und Douglas Coupland und die Hunde. 

TAZ, 14.02.2012

Die taz verehrt Alexander Kluge, der heute achtzig wird. Dirk Knipphals fragt sich, warum eigentlich nur dieser Mann auf die Idee komme, Adorno und Luhmann in einem Frankfurter Weinlokal zusammentreffen zu lassen. "Warum traut sich niemand sonst so etwas? Warum gibt es keinen Roman darüber: Frankfurt, bewegte Zeiten, und ein Student erzählt auf der Höhe der Ideen von Seminaren und Liebschaften. Adorno und Luhmann reden abwechselnd wie Naphta und Settembrini auf ihn ein. Toll wäre das!"

Ingo Arend preist (unter demselben Link) Kluges "Rückbindung des politischen Denkens an die Lebenswelt". Und Julian Weber lernt über den kritischen Menschen: "Nicht Arroganz, Neugierde ist der Modus Operandi." Außerdem denkt Aram Lintzel über Peinlichkeit in ihrer klassischen und ihrer postmodernen Ausformung nach.

Auf den Berlinale-Seiten unterhält sich Cristina Nord mit Regisseur Benoit Jacquot über seinen Versailles-Film "Les Adieux à la reine". Genau "zwischen Sentimentalität und Feel-Good-Movie" verortet Barbara Schweizerhof Billy Bob Thorntons Sechziger-Jahre-Wettbewerbsfilm "Jane Mansfield's Car". Und Andreas Busche ist mal richtig aufgeschreckt worden in seinem Kinosessel: "Eine Spur der Verwüstung zieht David und Nathan Zellners "Kid-Thing" durch das wie immer etwas bedächtige Forum-Programm.

Und Tom.

Welt, 14.02.2012

Andreas Rosenfelder führt mit Alexander Kluge, der heute achtzig wird, ein Gespräch über die Sitte des Geburtstagsfeierns, und er erinnert sich an die Geburtstage seiner Kindheit: "Und dann ist man so aufgeregt und überanstrengt, dass es am Abend immer Streit und Heulen gibt. Also geht es ohne Essen ins Bett. Das ist ein traditioneller Geburtstag. Ich habe Adorno gefragt, das war genauso bei ihm."

Weitere Artikel: Jan Küveler verteidigt Christian Kracht, der ja immer eine Art Maskottchen des Springer Verlags war, gegen den Vorwurf des Spiegel-Kritikers Georg Diez, er kokettiere mit rechtsextremem Gedankengut. Auf der Berlinale-Seite unterhält sich Peter Beddies mit Meryl Streep, und es werden unter anderem Filme von Ursula Meier (hier) und Romuald Karmakar (hier) vorgestellt.

Besprochen wird außerdem Christian Spucks Choreografie "Das Fräulein von S." in Stuttgart.

Auf der Meinungsseite behauptet Gerd Held, dass nur Zeitungen das Chaos der Welt ordnen könnten und Zivilisation in die Debatte brächten, denn "mit dem Bloggen grassiert das Mobben", schreibt er in der Zeitung, in deren Verlag auch die Bild erscheint.

FR/Berliner, 14.02.2012

Sehr verdienstvoll findet Götz Aly eine Große Anfrage der Linkspartei im Bundestag zum Umgang der altbundesrepublikanischen Parteien mit der NS-Vergangenheit und ergänzt: Die SED "war am 15. Juni 1946 die erste Partei, die einstigen NS-Parteigenossen die Mitgliedschaft eröffnete, nationale Sozialisten in volksdemokratische wandelte. Ex-Nazis standen bis 1975 noch an jeder Ecke, sie saßen in den industriellen, wissenschaftlichen und administrativen Führungsetagen – auch in der DDR."

Im Feuilleton würdigt Christian Thomas Alexander Kluge: "Seine Filme haben in den Köpfen der Zuschauer Wortbildungen hinterlegt. Seine Bücher erst recht. 'Zeiträuber' oder 'Lebensläufer'. Mancher Filmtitel, darunter 'Die Macht der Gefühle', wurde populär bis zum Kalauer. Seine Bücher sind Fundgruben gestochener Sätze: 'Gefühl ist sozusagen der Patriotismus der Empfindungen' ist so ein Satz."

Tagesspiegel, 14.02.2012

Christiane Peitz hat auf der Berlinale die Doku "Ai Weiwei: Never Sorry" gesehen: "Bei Ai Weiwei zu Hause in Peking leben 40 Katzen. Eine davon ist in der Lage, Türen zu öffnen, indem sie zur Klinke hochspringt. Was unterscheidet die Katze vom Menschen, fragt Ai Weiwei? Dass sie die Tür nicht wieder schließt."
Stichwörter: Ai Weiwei, Berlinale

NZZ, 14.02.2012

Uwe Justus Wenzel mutmaßt, dass Alain de Bottons Vorschlag eines atheistischen Tempels weniger auf die Revolutionskulte der Französischen Revolution als auf eine "Erweiterung der Wellness-Zone" hinauslaufen dürfte. Joachim Güntner hat sich in Zittau die "Bilderkammer" von Benjamin Geissler angesehen, eine Videoinstallation, die die Fresken des polnischen Künstlers Bruno Schulz aus dem galizischen Drohobycz rekonstruiert. Roman Bucheli gratuliert Alexander Kluge, dem "Schamanen des freiheitlichen Denkens und der freien Rede" zum Achtzigtsen. Und der Kunsthistoriker Bernhard Heitmann erinnert sich an einen Besuch bei Marie-Louise von Motesiczky, durch den diese von Elias Canettis zweiter Ehe erfuhr.

Für die Medienseite hat Joseph Croitoru die YouTube-Videos desertierter syrischer Soldaten gesichtet. Matthias Müller lässt sich vom Chefredakteur des Wall Street Journals, Robert Thomson, dessen Pläne für einen deutschen Online-Auftritt erklären.

Besprochen werden Christian Spucks Ballett "Das Fräulein von S." in Stuttgart und Tony Judts Erinnerungen, das Martin Meyer im Aufmacher als "Trostbuch mit dem Siegel Geistesstärke und Menschlichkeit" rühmt (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 14.02.2012

Es ist so weit: Angela Merkel wird in Le Monde mit Bismarck verglichen: "Man kann sich fragen", schreibt der Politologe Pierre Bezbakh, "ob Deutschland im 21,. Jahrhundert nicht die Rolle Preußens im 19. Jahrhundert spielen wird (vom Militarismus mal abgesehen), indem es von seiner industriellen Überlegenheit profitiert, um seinen Nachbarn eine überbewertete Währung aufzudrängen, die es ihnen zwar erlaubt, deutsche Produkte zu kaufen, aber ihre eigene Industrialisierung bremst."

Aus den Blogs, 14.02.2012

Warum sprechen so viele Journalisten von "Generation Twitter", obwohl nur 5 bis 10 Prozent der Jugendlichen auf Twitter sind, aber 80 Prozent auf Facebook?, fragt Marcel Weiß, angeregt von einer Diskussion auf Google Plus, in Neunetz. Einer seiner Erkläungsversuche: "Twitter ist einen Broadcastmedium, das besonders Journalisten anspricht. Also ist es demnach auch präsenter bei Journalisten (übrigens ebenso bei Bloggern) als es angemessen angesichts der tatsächlichen Reichweite in der Bevölkerung wäre."

Die revolutionären Libyer sind nach der im März eingetretenen Sperre zum ersten Mal wieder im UN-Menschenrechtsrat zu einer Sitzung erschienen und haben gleich eine deutliche Position markiert, berichtet das Blog UN Watch: "Protesting the council's first panel discussion on discrimination and violence based on sexual orientation, scheduled for March 7th, Libya's representative told the gathering of ambassadors today that lesbian, gay, bisexual, and transgender topics 'affect religion and the continuation and reproduction of the human race.' He added that, were it not for their suspension, Libya would have opposed the council's June 2011 resolution on the topic."

Douglas Coupland zeigt uns per Twitter einen "unglaublich glücklichen Hund, der alles Negative in Ihrem Leben vergessen machen wird."

Home Story: George Clooney zeigt sein Haus. Und hier ein Longread aus der Vogue über die Grammy-Abräumerin Adele.

Die neue Wiener Website Textprojektor stellt Videos mit Lesungen ins Netz und interviewt die Autoren dazu. Aus dem Interview mit Josef Haslinger:
"TP: Welchen Satz können Sie sagen, aber nicht schreiben?
JH: Den kann ich Ihnen leider nicht schriftlich mitteilen, sonst könnte ich ihn ja schreiben."

FAZ, 14.02.2012

Eine Hymne! Jan Brachmann bespricht Barrie Koskys Inszenierung der Brecht/Weilschen "Sieben Todsünden" an der Komischen Oper Berlin und hat nur Augen und Ohren für Dagmar Manzel, die übrigens auch vom Publikum standing ovations erhielt: "Sie röhrt in baritonalen Tiefen wie eine Gossengöre, schwingt sich in klare und weiche Höhen eines Mädchenmezzosoprans. Aber weinerlich klingt sie nie. Man sieht nur Tränen in ihren Augen, als sie sich zum wohltönend-frommen Gesang ihrer Familie im Habsuchtsbild ständig nervös mit der rechten Hand auf die Schulter trommelt und dazu wieder und wieder ein Lachen greller Hysterie explodieren lässt."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus berichtet von einer Belinale-Party des Bundespräsidenten, die von den meisten deutschen Filmschaffenden geschnitten wurde. Melanie Mühl wirft am Beispiel eines Dreißgjährigen, dem es nicht so doll geht und der jetzt bei Occupy demonstriert, einen sorgenvollen Blick auf die ganze Generation. Jürgen Kaube gratuliert Alexander Kluge zum Achtzigsten. Jenny Friedrich-Freksa unterhält sich mit Michael Ondaatje über seinen neuen Roman "Katzentisch". Eine ganze Seite ist der Berlinale gewidmet.

Auf der Medienseite hat Marco Dettweiler die schwierige Aufgabe, eine Podiumsdiskussion zu resümieren, in der Peter Sloterdijk (offenbar ohne Namen zu nennen) das Feuilleton der FAZ kritisierte: "Eine deutsche Technikphobie sei ein 'konservativer Topos des Feuilletons'. Mittlerweile habe 'das Prinzip Vorsicht das Prinzip Hoffnung' eingeholt. Und dann ließ er bunte Seifenblasen vor dem Publikum aufsteigen: 'Die Welt des 21. Jahrhunderts' werde, so Sloterdijk, 'ein Nebeneffekt des Internets' sein."

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstler Gert und Uwe Tobias im Hamburger Kunstverein und Rimsky-Korsakows "Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch" an der Amsterdamer Oper.

SZ, 14.02.2012

Glaubt man Fritz Göttler, dann ist Alexander Kluge eine Art lebende Wikipedia: "Er wirkt gern stimulierend, motivierend, sokratisch auf andere, und ist sich auch nicht zu schade, als Zuträger zu fungieren - es ist ein Autorenbegriff in Minimalform, der bei ihm funktioniert, in dem es darum geht, Dinge und Personen zueinander zu bringen."

Reinhard Brembeck resümiert die Grammy-Preisverleihung. Burkhard Müller verfolgte eine Tagung über schriftstellerischer Anwandlungen von Politikern und Potentaten in Augsburg. Harald Eggebrecht gratuliert der Ingmar-Bergman-Schauspielerin Harriet Andersson zum Achtzigsten. Oliver G. Hamm berichtet über eine Exportoffensive der deutschen Architektenschaft, der in der Heimat die Arbeit ausgeht. In den Berlinale-Berichten geht's um die Filme von Billy Bob Thornton, Ursula Meier, die Brüder Taviani und Brillante Mendoza.

Besprochen werden Puccini-Opern in Lyon, die Baselitz-Ausstellung in der Potsdamer Villa Schöningen und Bücher, darunter Henning Marmullas Studie über Enzensbergers Kursbuch.