Heute in den Feuilletons

Das Klavier, das Murmeln, das Sich-Setzen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2012. Düster sind Bernard-Henri Lévys Visionen in der Griechenland-Krise in der Welt. Noch immer nicht so richtig in Gang kommen will die vom Spiegel lancierte Debatte über die Frage, ob Christian Kracht mit rechtsextremem Gedankengut kokettiert. Die taz diagnostiziert jedenfalls eher auf "spleenige Leere". In der FAZ feiert Domink Graf Zbynek Brynychs Film "Nacht von Lissabon". Und wie steht's um das geistige Eigentum, wenn Urheber die ausschließlichen Nutzungsrechte daran abtreten, fragt ein Rechtsanwalt.

NZZ, 15.02.2012

Peter Kropmanns schlägt Alarm: Ludwig Börnes Grabmal auf dem Pariser Père Lachaise zeigt schwere Schäden am Fundament. Susanne Ostwald bilanziert zur Halbzeit die Berlinale, die sie weniger von politischen Dramen als von Amours fous beherrscht sieht.

Besprochen werden die Ausstellung "Serpentina" im Pforzheimer Schmuckmuseum, Christoph Jahrs Studie "Antisemitismus vor Gericht", Denis Bertholets Biografie zu Paul Valéry und Edward St Aubyns Roman "Zu guter Letzt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Amour Fou

Welt, 15.02.2012

Düster sind Bernard-Henri Lévys Visionen in der Griechenland-Krise: "Europa besaß neben anderen Tugenden (Frieden, Wohlstand) auch jene, solche Völker - im Süden wie im Osten - mit der Praxis der Freiheit zu versöhnen, denen man sie für eine mehr oder weniger lange Zeit geraubt hatte. Und jetzt könnten die gleichen Institutionen, die gleichen gemeinschaftlichen Regeln, könnte die gleiche Währung, kurz, das gleiche Europa genau den gegenteiligen Effekt haben, weil es ein Mitglied in die Anarchie stürzt oder, was auf das Gleiche hinausliefe, in eine erzwungene Ordnung, eine Diktatur, den Faschismus."

Im Feuilleton ist Cosima Lutz nicht ganz überzeugt von Hans-Christian Schmids Wettbewerbsbeitrag "Was bleibt", aber "Wie sich hier die dunkel glitzernde Einöde der Musik von The Notwist keine Mühe gibt, die stets ängstlich den Kopf hängen lassende Kamera (Bogumil Godfrejow) aufzurichten; wie Familiengeräusche (das Klavier, das Murmeln, das Sich-Setzen) und fast schon riechbare Vaterklamotten ambivalente Geborgenheit schaffen und zugleich nichts Neues hereinlassen: Das bleibt."

Weitere Artikel: Heimo Schwilk unterhält sich mit Volker Schlöndorff über seinen Film "Das Meer am Morgen". Manuel Brug mokiert sich über Anna Netrebko, die sich als Putin-Unterstützerin geoutet hat. Gerhard Gnauck unterhält sich mit dem ukrainischen Autor Juri Wynnytschuk, der mächtigen Ärger bekommen hat, weil ein Gedicht vo ihm als Aufruf zu Ermordung des Präsidenten gelesen werden kann.

Besprochen werden eine Dramatisierung des "Würgeengels" durch Martin Wuttke in Wien, eine Ausstellung des britischen Hoffotografen Cecil Beaton in London und das neue Album des französischen Duo Air (Musik).

FR/Berliner, 15.02.2012

Warum protestiert die Bundesregierung nicht gegen die Verhaftung des saudischen Journalisten Hamsa Kaschgari, fragt Ferdos Forudastan. Kaschgari droht wegen einiger islamkritischer Tweets in seinem Heimatland die Todesstrafe: "Die Saudis sind lukrative Geschäftsfreunde und wichtige geostrategische Partner der USA. Das reicht Deutschland, um den Despoten in Riad nicht einmal diplomatisch in die Arme zu fallen. Dabei kann Berlin auch ganz anders. Das beweist es beim Umgang mit Iran, dem Land also, das vor allem Washington zum Schurken Nummer eins in der Region erkoren hat. Völlig zu Recht kritisiert die Bundesregierung das Teheraner Regime sehr scharf dafür, dass es Menschenrechte verletzt oder sein Atomprogramm ausbaut. Völlig zu Unrecht schweigt die Bundesregierung zur verbrecherischen Innen- und Außenpolitik Saudi-Arabiens.

Im Feuilleton ermahnt Nikolaus Merck das "diskriminierungsfreudige, um nicht zu sagen: rassistische Deutschland" im allgemeinen und das deutsche Theater im besonderen, mehr schwarze Schauspieler zu beschäftigen. Der Fotograf James Nachtwey, gerade mit dem Dresdner Friedenspreis ausgezeichnet, hat für seine Arbeit jeden Preis verdient, findet Arno Widmann, die Bilder, die Nachtwey zu einem "Jubel-Porträt" der Ehefrau des syrischen Diktators für die Vogue geliefert hat, stoßen ihm aber doch sehr sauer auf.

Besprochen werden "Nach der Oper. Würgeengel. Eine masochistische Komödie von Martin Wuttke nach Luis Bunuel" am Wiener Burgtheater und eine Reihe von Berlinale-Filmen, darunter Dokumentarfilme von Thomas Heise ("Die Lage") und Romuald Karmakar ("Angriff auf die Demokratie - Eine Intervention") und Hans-Christian Schmids Wettbewerbsbeitrag "Was bleibt".

Aus den Blogs, 15.02.2012

Sehr gerne wird in Zeitungen zur Zeit das "geistige Eigentum" verteidigt. In diesem Zusammenhang mag es sinnvoll sein zu lesen, was der Anwalt Tim Hoesmann zum Begriff "ausschließliche Nutzungsrechte" schreibt, die freie Autoren den Zeitungen meist zugestehen müssen: "In Verträgen findet sich immer wieder die Formulierung, dass die 'ausschließlichen Rechte' an einem Werk übertragen werden. Dieses bedeutet, dass nur (ausschließlich) der Rechteinhaber berechtigt ist, das Werk unbeschränkt zu nutzen. Der Rechteinhaber des ausschließlichen Nutzungs- und Verwertungsrechts hat zudem das Recht, gegen eine unberechtigte Nutzung des Werkes vorzugehen. Dieses schließt auch den Urheber selbst mit ein und untersagt diesem eine Nutzung seines eigenen Werkes."

TAZ, 15.02.2012

Nach Georg Diez' heftiger Kritik im Spiegel an Christian Krachts Roman "Imperium" erkennt Andreas Fanizadeh zwar weiterhein eher auf "spleenige Leere" als auf rechtsradikales Gedankengut. Doch die erboste Verlagsreaktion auf Diez wundert ihn schon: "Am Montagnachmittag ließ er verbreiten, der Spiegel-Artikel sprenge 'die Grenzen der Literaturkritik'. Mit 'atemberaubenden Verdrehungen' werde der Versuch unternommen, Kracht 'aus dem Kosmos der deutschsprachigen Literatur' auszugrenzen. 'Imperium', so der Kölner Verlag, sei von einer Vielzahl von Autoren und Journalisten hoch gelobt worden. 'Niemand hat auch nur ansatzweise einen Zusammenhang zu Rassismus und totalitärem Denken darin gefunden.' Niemand, wirklich? Das ist allerdings bedenklich."

Michael Brake stellt den Medienkünstler Aram Bartholl vor, der Codes, Icons und Mechaniken aus dem Internet in die reale Welt der Kohlenstoffe zieht: "Durch Köln lief er mit einer riesigen Pappaxt aus 'World of Warcraft'. Ingo Arend ernennt Gerhard Richter zum Alten Meister, ist sich aber nicht sicher, wie gut seine Idee wirklich ist. Katharina Granzin hat sich Jochen Sandigs Aufführung von Brahms' Requiem im Berliner Radialsystem angehört. Lisa Forster war bei einem Vortrag des rumänischen Roma-Beauftragten Romeo Tiberiade. Anna Polonyi berichtet von einer Diskussion über Kinderfilme.

Auf den Berlinaleseiten bewundert Barbara Schweizerhof Phyllida Lloyds "The Iron Lady", Dirk Knipphals schreibt über Hans-Christian Schmids Wettbewerbsfilm "Was bleibt", Andreas Busche bespricht Miguel Gomez' Film "Tabu".

Auf der Tagesthemenseite gewährt Margarita Tsomou einen Einblick in die journalistische Lage in Griechenland. Die Zeitung Eleftherotypia ist heute erstmals wieder herausgekommen, in Eigenregie: "Seit 45 Tagen streiken die Beschäftigten, weil sie seit August 2011 keine Gehälter mehr ausbezahlt bekommen. Ein halbes Jahr lang hatten Journalisten, Grafiker und Drucker umsonst gearbeitet. Die engagierten Medienmacher glaubten an ihr Produkt. Doch der Geduldsfaden riss Ende des Jahres. Den Mitarbeitern war nicht mehr einsichtig, warum die Geschäftsführung nicht zahlt. Insolvent ist das Unternehmen nicht."

SZ, 15.02.2012

Jan Füchtjohann erzählt anhand einer Geschichte aus dem New Yorker und anderer Beispiele, wie Mobbing und Überwachung durch das Netz heute funktionieren. Stephan Opitz versucht zu erklären,wie das in der Kulturwelt mit der Mehrwertsteuer funktioniert (freie Künstler müssen Mehrwertsteuer abführen, aber ihre gemeinnützigen Auftraggegeber sehen sich aber nicht verpflichtet, sie ihnen zu zahlen). Ira Mazzoni fürchtet angesichts des Streits zwischen den Städten Nürnberg und München um die Ausleihe eines Dürergemäldes um das Ansehen des Kulturstaates Bayern.

In seinem Bericht aus dem Berlinale-Wettbewerb findet Fritz Göttler, dass "der einstmals große Chinese Zhang Yimou" mit seinem neuen Film "Flowers of War" "so ungefähr jeden Anspruch aufgibt, als ernsthafter Filmemacher wahrgenommen zu werden" - positiver sieht er dagegen Hans-Christian Schmids "Was bleibt" über die Probleme einer bürgerlichen Familie. Außerdem hat sich Susan Vahabzadeh Dokumentarfilme aus dem Panorama angesehen.

Besprochen werden die Munch-Ausstellung im Städel, die Brecht/Weillschen "Sieben Todsünden", inszeniert von Barrie Kosky und mit Dagmar Manzel, an der Komischen Oper Berlin, Christian Spucks Choreografie über das "Fräulein von Scuderi" in Stuttgart und Bücher, darunter Antonio Pennacchis Roman "Canale Mussolini"

FAZ, 15.02.2012

Das ist "der denkbar beste History-Film über die Emigration der Deutschen in Europa" ruft Dominik Graf, wärmstens Zbynek Brynychs Remarque-Verfilmung "Nacht von Lissabon" mit Vadim Glowna, Martin Benrath und Erika Pluhar auf DVD empfehlend: "Ach, wenn auch nur ein einziger unserer ruhmreichen sauteuren History-Mehrteiler seit der Wende auch nur eine einzige Minute lang solche berauschende Ideenfülle, solche zarten Figuren, solche Größe angesichts der grausigen Geschichte, die es zu erzählen galt, solche souverän formale Leck-mich-am-Arsch-Kunstfrechheit des Regisseurs in sich geborgen hätte! Dieser Film ist vierzig Jahre alt und kommt neuer daher als alles Neue."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube fragt anlässlich eines Karlsruher Urteils zum Gehalt eines Chemieprofessors (mehr hier), warum die Professoren nur bei ihrer Besoldung auf die Barrikaden gehen, sonst aber jeden "Unsinn" mit sich machen lassen. Im Spiegel ist Georg Diez, der auf vier Seiten mit dem "faschistischen Provokateur" Christian Kracht abrechnet, dem "subtil ironischen Spiel" des Autors "voll auf den Leim" gegangen, meint Felicitas von Lovenberg. Auf der Berlinaleseite geht's u.a. um Hans-Christian Schmids Wettbewerbsfilm "Was bleibt" ("ein einsamer Film", meint Andreas Kilb). Andreas Platthaus schreibt über die britische Fernsehserie "Episodes".

Im Kommentar auf der Seite 1 der FAZ legt Reinhard Müller anlässlich des Streits um Acta großen Wert auf das "geistige Eigentum" - mit Betonung auf Eigentum, das im Internet geschützt werden müsse: "Argumentiert wird – von den Piraten bis tief in die FDP hinein – mit der technischen Revolution. Ein Hamburger Justizsenator der Grünen hat unlängst zur Privatkopie gesagt: Was an Verletzungen im Alltag üblich sei, das müsse erlaubt werden. Soll das auch für Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung gelten?" Was Müller zu erwähnen vergisst ist, dass die Privatkopie im Gegensatz zu Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung erlaubt ist, nun aber kriminalisiert und abgeschafft werden soll.

Stefan Schulz gibt auf der Geisteswissenschaftenseite Entwarnung: "Die neuen Medien führen also einstweilen zu keiner 'Aufklärung 2.0'" und "Das Internet verwirklichte keine deliberative Demokratie". Alles bleibt beim Alten, weiterschlafen!

Besprochen werden - gleich zwei Mal - Steven Spielsbergs Pferdefilm "Gefährten" (ein pro von Christina Hucklenbroich, ein contra von Bert Rebhandl) und die Uraufführung von Lera Auerbachs "Requiem" in Dresden.