Heute in den Feuilletons

Das werden die Brüder bitter bereuen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2012. 25.000 Freunden auf Facebook gefällt die Idee, Hamsa Kaschgari hinzurichten, meldet Spiegel Online (und anders als mit Mohammed-Zeichnungen scheint Facebook hiermit kein Problem zu haben). Deutsche Feuilletons interessieren sich aber viel mehr für den Krach um Kracht. Er hat jetzt eine Lesung in Berlin abgesagt, weil der Spiegel ihn schmähte. SZ und Freitag feiern seinen Roman "Imperium" als Meisterwerk der Ironie. Nein, er ist ein Schmarrn, meint die FR. Aber eigentlich erscheinen heute ja Peter Nadas' "Parallelgeschichten", die Joachim Sartorius im Freitag wahrhaft groß findet. Für die Zeit berichtet Jonathan Littell aus Syrien.

Spiegel Online, 16.02.2012

Facebook entschuldigt sich zwar händeringend, wenn irgendjemand auf seinen Seiten dazu aufruft, Mohammed zu zeichnen (vor zwei Jahren war das, mehr hier), hat aber offenbar nicht das geringste Problem damit, wenn eine Gruppe von 25.000 Freunden die Hinrichtung des jungen saudischen Autors Hamsa Kaschgari fordert, der auf Twitter seine religiösen Zweifel äußerte. Christoph Sydow schreibt in Spiegel Online: "Es ist ein digitaler Lynchmob, der sich im Internet zusammengerottet hat: Mehr als 25.000 Menschen sind bislang der Facebook-Gruppe 'Das saudische Volk will die Bestrafung von Hamsa Kaschgari' beigetreten. Die meisten User, die sich auf der Pinnwand der Gruppe äußern, lassen keinen Zweifel daran, wie diese Strafe aussehen muss: Sie fordern den Tod des 23-jährigen Journalisten, weil er ihrer Meinung nach den Propheten Mohammed beleidigt und sich damit der Blasphemie schuldig gemacht haben soll."

Il Manifesto, das Zentralorgan der Eurokommunisten, ist am Ende. Hans-Jürgen Schlamp erinnert an seine flamboyanten Anfänge: "Die Zeitungsgründer waren 1969 aus der KPI ausgeschlossene Parteifunktionäre um den Journalisten Luigi Pintor und die Schriftstellerin Rossana Rossanda, 'die Rosa Luxemburg der siebziger Jahre', wie viele sie nannten. Alle waren überzeugte Kommunisten, die gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten und mit der Studentenbewegung von 1968 sympathisierten. Für die Hardliner waren sie deshalb Abweichler und flogen raus. 'Das werden die Brüder bitter bereuen', zürnte Rossana Rossanda und kündigte Rache an: 'Wir werden nicht ihre Lungenentzündung, sondern das schleichende Fieber ihrer Malaria sein.'"

Freitag, 16.02.2012

Als wahrhaft großes Werk würdigt Joachim Sartorius Peter Nádas' 1734-seitige "Parallelgeschichten" (Leseprobe). Der Titel des Romans beschreibt eigentlich schon sehr genau seine Struktur, wie Sartorius am Beispiel einer Taxifahrt erzählt. Im Auto: Die junge Gyöngyvér, Erna Demen, die Mutter von Gyöngyvérs Geliebtem Ágost, die sich an eine sinnlich-mythische Erfahrung mit der Holländerin Geerte erinnert, und der Taxifahrer Bellardi, der sich an die Liebesfreundschaft mit dem Architekten Mazdar erinnert. "Diese Kunst der unmerklichen Übergänge beherrscht Nádas auf einzigartige, meisterliche Weise. Nicht nur spielen sich in den Köpfen der beiden Fahrgäste und auch in dem des Fahrers Bellardi parallele Geschichten ab, auch innerhalb der einzelnen Personen laufen innere Wahrnehmungen, Bewusstes und Unbewusstes, Vergangenes und Gegenwärtiges parallel ab. Nádas gelingt es, zwei gleichgeschlechtliche Lieben - zwischen Erna und Geerte, zwischen Bellardi und Madzar - und eine heterosexuelle Beziehung - zwischen Gyöngyvér und Ágost - über- und ineinander zu blenden."

"Ziemlich hirnrissig" findet Erhard Schütz den Vorwurf des Faschismus gegen Christian Kracht: "'Imperium' ist vor allem eins - glänzende Literatur." Und Michael Jäger mokiert sich über das neue Kursbuch.

Tagesspiegel, 16.02.2012

Christian Kracht sagte nach Georg Diez' Polemik im Spiegel eine geplante Lesung in Berlin ab. Gerrit Bartels kommentiert im Tagesspiegel: "Allerdings verwundert die aktuelle Verletztheit von Kracht auch ein wenig. Ist er doch zum einen ein Autor, der durchaus gern mal provoziert. Zum anderen sind in vielen Feuilletons Lobeshymnen auf 'Imperium' gesungen worden. Auch der Verlag hatte sich gleich nach Veröffentlichung des Spiegel-Artikels mit einer öffentlichen Mitteilung hinter Kracht gestellt und war mit harschen Worten 'diesem journalistischen Rufmord' entgegengetreten."

Im Feuilleton interviewt Christiane Peitz den Regisseur Matthias Glasner, dessen Film "Gnade" mit Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr heute im Berlinale-Wettbewerb läuft.

Welt, 16.02.2012

Michael Pilz berichtet, dass die gerade mit Grammies überhäufte Popsängerin Adele bereits ans Aufhören denkt. Matthias Heine resümiert die neusten Diskussionen um "Blackfacing". Hanns-Georg Rodek (hier) und Cosima Lutz (hier) berichten von der Berlinale. Besprochen werden Steven Spielbergs neuer Film "Gefährten" und die Ausstellung "Gustav Klimt/Joseph Hoffmann – Pioniere der Moderne" in Wien.

Aus den Blogs, 16.02.2012

(via Gawker) Ben Walker von AP annonciert den Gewinner der Westminster Kennel Club Hundeschau: Malachy. Der filmreife Autritt des Pekinesen im Finale hat Walker echt beeindruckt: "Malachy's pink tongue popped up from his silver-and-white fur, his eyes sparkling like black diamonds as he soaked in the cheers."

In New York laufen gerade die Pret-a-Porter-Schauen für den Winter 2012/13. Den Vogel schoss bisher Marc Jacobs ab, dessen Models in phantastischen Hüten vor einer Schlossruine liefen, die die Bildhauerin Rachel Feinstein entworfen hat. "He called me and mentioned this sculpture I made called Puritan's Delight, which is this broken black carriage, and he said that the clothes are starting to remind him of pilgrims, and kind of widows. So he was feeling my work, and whether I’d be interested in meeting with him. And I was, like, yeah", zitiert Bennet Marcus im New York Magazine Feinstein. Gawker zeigt die Kollektion.

TAZ, 16.02.2012

Von der Berlinale berichtet Andreas Busche über eine besondere Art der "Wiedergeburt": Am Dienstag präsentierte der kambodschanische Regisseur und Filmproduzent Tea Lim Koun höchstpersönlich seinen Film "The Snake Man" von 1970, den er nach der Machtergreifung der Roten Khmer auf seiner Flucht nach Kanada mitnahm und so rettete. Und Beate Seel unterhält sich mit dem Dokumentarfilmer Sean McAllister über seinen Film "The Reluctant Revolutionary" von, in dem er vergangenes Jahr einen Touristenführer im Jemen begleitete.

Weiteres: Daniel Bax berichtet von zunehmenden Protesten gegen das so genannte "Blackfacing" auf deutschen Bühnen. Besonders hanebüchen findet er die Begründung, dass an deutschen Bühnen nur so wenige schwarze Schauspieler arbeiteten, weil "es zu wenige Rollen gebe, die eine 'Festanstellung rechtfertigen' würden" (mehr dazu bei der Nachtkritik). In seinem Film "Gefährten", der den Ersten Weltkrieg Krieg aus der Perspektive eines Pferds erzählt, sei wohl der Gaul mit Steven Spielberg durchgegangen befindet Rezensent Simon Rothöhler.

Besprochen wird das Album "Puder" der Hamburger Popsängerin Catharina Boutari, die sich eben diesen Namen als neues Alter Ego zugelegt hat.

Und Tom.

NZZ, 16.02.2012

Heute erscheint die deutsche Übersetzung von Péter Nádas' "Parallelgeschichten". Wilhelm Droste erklärt, worin die Leistung der Schweizer Schriftstellerin Christina Viragh besteht, die sechs Jahre lang an der Übersetzung gearbeitet hat: "Das Ungarische ist bei aller Konzentration vor allem eine sinnlich zugreifende Sprache, begrifflich wirkt sie oft steif und ungelenk, Gefühle aber verwandeln sich spielend leicht in schöne und treffende Worte. Daher liegt in der Lyrik die klassische Stärke der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts (Endre Ady, Attila József, Miklós Radnóti), das Deutsche arbeitet geradezu wesensverschieden, hier überzeugen Abstraktionen nicht selten geradezu sinnlich, und das Sinnliche tut sich schwer auf dem langen Weg zur Sprache. Ungarische Flüche (das Buch ist voll davon) klingen deutsch wie Hemmungsüberwindungsübungen."

Weiteres: Brigitte Kramer schildert die desolate Lage, in der sich Spaniens Architekten befinden. Joachim Güntner galoppiert durch das krisenhafte Europa, das seine negativen Stereotype wieder aus der Mottenkiste gekramt hat. Besprochen werden auf der Filmseite Morten Tyldums Thriller "Headhunters" und Steven Spielbergs Film "Gefährten".

FR/Berliner, 16.02.2012

Christian Krachts Roman "Imperium" zeigt keine Nazigesinnung, meint Sabine Vogel: "Hitler war kein Hippie. Aber, um mit der Gestelztheit der Kracht'schen Diktion zu sprechen: man kommt nicht umhin zu sagen, dass der Roman ein recht hanebüchener Schmarrn ist."

Besprochen werden weiter einige Filme, darunter Steven Spielbergs Pferdefilm "Gefährten".

Weitere Medien, 16.02.2012

Julian Assange macht sich langsam zum Affen findet Raffi Khatchadourian in einem Blog des New Yorkers: "If all goes according to plan, Julian Assange, the founder of WikiLeaks, will make a cameo this Sunday on 'The Simpsons,' and soon after he will begin hosting a television show on a Russian state-owned network called RT. It is possible to see both necessity and farce in his involvement with these projects. Assange’s appearance on 'The Simpsons,' if it provides a ratings boost to the show, will put money into the pocket of its broadcaster, Rupert Murdoch, whose paid commentators have called for unspecified commandos to execute Assange by hanging, or to 'illegally shoot the son of a bitch.' And the Kremlin is hardly a bastion of government transparency."

FAZ, 16.02.2012

Auf der Medienseite berichtet Kerstin Holm von einem Fernseh-Rededuell zwischen dem Putin-Verteidiger Nikita Michalkow und Irina Prochorowa, der Schwester des Präsidentschaftskandidaten der Partei "Gerechten Russland", Sergej Mironow: "Die Sendung wurde von Wahlwerbung unterbrochen. ... Dann setzte Prochorows Schwester ihr flammendes Plädoyer fort, das sie mit Fakten und Zahlen über die Kulturförderung ihrer Stiftung etwa in Norilsk und Krasnojarsk spickte. Michalkow, der dem staatlichen Kulturfonds vorsteht, erwiderte matt, Kultur interessiere ihn im Grunde nicht." Und am Schluss erklärte er, sie sei bezaubernd und "er würde für Irina Prochorowa stimmen, sollte sie kandidieren".

Im Feuilleton beurteilt Alice Schwarzer nach einem Besuch in Rangun die Entwicklung in Burma recht verhalten. Dirk Schümer berichtet über eine Website für "Klagen über osteuropäische Zuwanderer", die der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders eröffnet hat. Christian Geyer plädiert für die Abschaffung des Ehegattensplittings und für "Kinder als Steuersparmodell". Julia Spinola schreibt zum 800. Geburtstag des Thomanerchors. Maximilian Steinbeis überlegt, wie die EU Ungarn juristisch in die Pflicht nehmen könnte, die Grundwerte der Union zu achten. Jürg Altwegg berichtet über den Erfolg der 2008 gegründeten, vierteljährlich erscheinenden französischen Reportagezeitschrift XXI, die eine Auflage von 50.000 Exemplaren hat.

Besprochen werden ein Konzert des Countrypop-Duos First Aid Kit, einige Berlinalefilme, darunter die Wettbewerbsfilme "Tabu" und Postcards from the Zoo", und Bücher, darunter Aharon Appelfelds Buch "Der Mann, der nicht schlafen konnte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 16.02.2012

Als Meister der Ironie und "Stimmenimitator Thomas Manns" feiert Christopher Schmidt den Autor Christian Kracht und verteidigt seinen Roman "Imperium" gegen die Attacke des ehemaligen SZ-Autors Georg Diez im Spiegel, den er aber nicht beim Namen nennt: "Arglistig kassiert der Verfasser des Artikels damit die Differenz zwischen Kunst und Leben und macht sich selbst jenes reaktionären Ästhetizismus schuldig, dessen er den Autor bezichtigt. Dabei dreht er das Argument um: dass aus den inkriminierten Passagen nichts Eindeutiges hervorgehe, wird dem Autor als bewusste Verdunkelung ausgelegt. So etwas ist nicht Journalismus, sondern Rufmord."

Weitere Artikel: Angeregt von einem Essay Andreas Dorschels im Merkur macht sich Thomas Steinfeld Gedanken über Eskapismus in der Musik. Jörg Häntzschel meldet, dass Kraftwerk im New Yorker MoMa auftreten wird. In den Berlinale-Berichte geht's unter anderem um Steven Soderberghs Martial-Arts-Film "Haywire" und um Werner Herzogs Film "Death Row". Jens-Christian Rabe extemporiert über den Begriff des Kompromisses und informiert gegen Ende seines Artikels auch darüber, dass am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung ein Symposion zum Thema abgehalten wurde. Reinhard Brembeck stellt den Komponisten Enno Poppe vor, dem bei der Münchner Ars viva-Reihe gehuldigt wird.

Auf Seite 1 der Münchner Zeitung wird gemeldet, dass Albrecht Dürers "Selbstbildnis im Pelzrock" nun endgültig nicht nach Nüernberg geliefert wird, selbst die Nürnberger hätten inzwischen eingesehen, dass es gar nicht transportabel sei. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass Giovanni die Lorenzo die Zeit mit weichen Themen in immer neue Umsatzhöhen führt.

Besprochen werden Steven Spielbergs neuer Film "Gefährten", die Ausstellung "100 Jahre Schweizer Grafik" Museum für Gestaltung Zürich und der neue Roman Aharon Appelfelds (der nebenbei heute achtzig Jahre alt wird).

Zeit, 16.02.2012

Der Schriftsteller Jonathan Littell hat sich nach Syrien ins umkämpfte Homs geschlagen und schickt von dort einen Report, in dem er bei aller Sympathie auch Zweifel an der Strategie der Aufständischen anmeldet, den Kampf in einen islamistischen Feldzug zu verwandeln: "Das ist wahrscheinlich die größte Gefahr, die der freien Armee droht, denn das würde Baschar al-Assad in die Hände spielen. Doch dieses Argument entmutigt die Offiziere der FSA nicht. Abdel Rassak Atlas sagt ausdrücklich: 'Wenn es so weitergeht, werden wir noch wie Al-Qaida. Wenn die Welt uns im Stich lässt und Assad unterstützt, sind wir gezwungen, zum Dschihad aufzurufen, damit Kämpfer aus der ganzen muslimischen Welt zu uns stoßen und den Konflikt internationalisieren.' Atlas betont, das sei nicht seine persönliche Einschätzung: Das militärische Komitee von Homs hat darüber diskutiert, und alle waren derselben Meinung wie er. Andere Offiziere bestätigen es mir später. Es muss deutlich gesagt werden, dass diese Vorstellung nicht das Ergebnis einer religiösen Radikalisierung ist, sondern ein, wenn auch naives, strategisches Kalkül." (Hier das französische Original in Le Monde)

Im Feuilleton besucht Moritz von Uslar Alice Schwarzer in ihrem schönen Kölner FrauenMediaTurm, dem die rot-grüne Landesregierung drastisch die Fördermittel streichen will: "Der viel zitierte Muttermord? 'Ich halte das für überinterpretiert. Was mich anweht, ist eine heikle Mischung aus Ignoranz und Intrige.'"

Zur Berlinale spricht Meryl Streep im Interview mit Katja Nicodemus über Margaret Thatcher und deren "unfassbare Zielstriebigkeit". In einem weiteren Text feiert Nicodemus die großartigen Frauenfiguren dieser Berlinale, besonders Nina Hoss in Christian Petzolds Film "Barbara": "Wer hätte gedacht dass es möglich ist, im Mecklenburg-Vorpommern der achtziger Jahre eine deutsch-deutsche 'Casablanca'-Variante zu erzählen."

Weitere Artikel: Bitter beendet Thomas Groß seinen Nachruf auf Whitney Houston: "Bevor sie die Bühne betrat, war Soul die Musik einer Minderheit. Heute dient 'One Moment in Time' den verwaisten Kindern der Leistungsgesellschaft zum Karaoke." Hanno Rauterberg besichtigt Beispiele einer neuen unscheinbaren Bankenarchitektur. Eine neue künstlerische Freiheit will Werner Bloch ausgerechnet in Saudi-Arabien erkennen (siehe oben). Tobias Timm berichtet von den Plänen Johann Königs, mit seiner Galerie in der Kreuzberger Kirche St. Agnes zu ziehen. Thomas Assheuer denkt darüber nach, ob und wie sich die Philosophie der Literatur bedienen darf.

Besprochen werden unter anderem Dietmar Daths und Barbara Kirchners Buch "Der Implex" sowie John Banvilles Roman "Unendlichkeiten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).