Heute in den Feuilletons

Gut gemacht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2012. 17 Autoren werfen dem Spiegel in einem Offenen Brief vor, Georg Diez' Artikel über Christian Krachts Roman "Imperium" überschreite die Grenze zur Denunziation. In der taz wirft der syrische Journalist Ali al-Atassi dem Westen Tatenlosigkeit vor. Der Friedenspreis hat Boualem Sansal beim algerischen Regime nicht beliebter gemacht, berichtet der Tagesspiegel. In der SZ überlegt der Ideenhistoriker Jan-Werner Müller, warum die europäischen Intellektuellen immer provinzieller werden. Die FAZ stellt einen tschechischen Comic über die Vertreibung der Deutschen vor. Alle loben den Berlinale-Wettbewerb.

Weitere Medien, 18.02.2012

17 Autoren wenden sich in einem offenen Brief an die Chefredaktion des Spiegel gegen Georg Diez' Kritik an Christian Kracht: "Sehr geehrter Herr Mascolo, mit dem Spiegel-Artikel 'Die Methode Kracht' hat der Literaturkritiker Georg Diez fu?r uns die Grenzen zwischen Kritik und Denunziation u?berschritten. A?ußerungen von literarischen Erza?hlern und Figuren werden konsequent dem Autor zugeschrieben und dann als Beweis einer gefa?hrlichen politischen Haltung gewertet. Wenn diese Art des Literaturjournalismus Schule machen wu?rde, wa?re dies das Ende jeder literarischen Phantasie, von Fiktion, Ironie und damit von freier Kunst." Zu den Unterzeichnern gehören Daniel Kehlmann, Monika Maron, Necla Kelek, Feridun Zaimoglu und Elfriede Jelinek.

NZZ, 18.02.2012

In Literatur und Kunst erklärt Ursula Amrein, was Gottfried Kellers literarischer Nachlass für die Universität Zürich bedeutet. Nebenbei erfährt man, dass Keller gern selbst bestimmen wollte, welche Fassung seiner Werke überlebt: "Keller, der seine frühe Lyrik sowie den 'Grünen Heinrich' als unfertige, pathetisch übersteigerte und gemäß den Vorstellungen des poetischen Realismus zu wenig objektivierende Produkte verwarf, unterzog diese einer gründlichen Umarbeitung. Die vorgängigen Fassungen wollte er aus der Welt geschafft haben." Vergeblich. Seit 1996 wird eine "Historisch-kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe" herausgebracht, in der Kellers Texte erstmals vollständig zugänglich gemacht und in ihrer Entstehungsgeschichte umfassend dokumentiert" werden.

Weitere Artikel: Beatrice von Matt schreibt über die Frauen scheiternder Männer bei Robert Walser und Gottfried Keller. Der irische Schriftsteller John Banville erklärt im Gespräch über seinen neuen Roman über den sterbenden Mathematiker Adam Godley, warum er nicht an Gott glauben kann. Angela Schader stellt zwei Romane des kenianischen Autors Ngugi wa Thiong'o vor (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton bekennt sich Marko Martin zu einem "retro-revisionistischen" Musikgeschmack, der brutalen Diktatoren und Weltverbesserern so sauer schmeckt. Aldo Keel berichtet über eine Diskussion in Norwegen um Denkmäler, die ein unbekannter Mäzen für die Opfer des Breivikschen Terroranschlags stiften will. Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos von Cecil Beaton zum diamantenen Jubiläum der Queen im Victoria and Albert Museum, ein Klavierabend mit Jewgenij Kissin in Zürich und eine Aufführung von Schnitzlers "Das weite Land" am Theater Basel.

TAZ, 18.02.2012

Ines Kappert unterhält sich mit dem syrischen Journalisten Ali al-Atassi über die Haltung des Westens zum syrischen Vorgehen gegen die Widerstandsbewegung gegen das Assad-Regime. Seiner Ansicht nach schaut der Westen dem aus geostrategischen Gründen tatenlos zu: "Syrien ist der Balkon des Nahen Ostens. 8.000 Tote, von denen wir bislang ausgehen, sind da nicht so wichtig. Für das Ausland dominiert dabei: Wenn Assad weg ist, dann bricht das Chaos in der Region aus. So wird völlig übersehen, dass in der Mehrheit die Proteste noch immer friedlich sind. Deshalb ist es auch falsch, von einem Bürgerkrieg zu sprechen. Assad führt einen Krieg gegen die Demonstrierenden."

Weitere Artikel: Thomas Winkler trifft den Musiker Max Prosa ("ein früher, unvollendeter Dylan") auf einen Plausch zu Kippen und Kaffee. Johannes Gernert spioniert für einen kurzweiligen Artikel seinem ihm persönlich unbekannten Namensvetter (der hier zum Experiment interviewt wird) im Netz hinterher. Jan Feddersen glaubt, dass der Eurovision Song Contest in Baku "menschenrechtspolitisch ein Glücksfall" sein könnte. Außerdem kämpfen sich die taz-Autoren tapfer durch den letzten Berlinale-Tag.

Besprochen werden Nadine Fechts Ausstellung "fields recordings" in der Galerie Fruehsorge in Berlin und Bücher, darunter Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Tagesspiegel, 18.02.2012

Der Friedenspreisträger des letzten Jahres, Boualem Sansal, ist Mitglied der Berlinale-Jury. Andreas Nüsse schreibt ein kleines Porträt über ihn und erzählt, dass Sansal in seiner Heimat trotz des Preises weiter gechnitten wird: "Obwohl er sich keine Illusionen über die Führung seines Landes macht, hatte Sansal doch gedacht, dass sich nach seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im vergangenen Oktober etwas ändert, dass er daheim mehr wahrgenommen wird. 'Ich dachte, dass die Führung dem staatlichen Fernsehen oder der Regierungspresse Instruktionen gibt, mich zu interviewen.' Aber passiert sei 'absolut nichts'. Niemand, nicht einmal Universitäten, wendeten sich an ihn." (Perlentaucher Thierry Chervel wird Boualem Sansal am Montag zum Gespräch über seinen Roman "Harraga" treffen, mehr hier.)

Welt, 18.02.2012

In der Literarischen Welt liest Peter Merseburger erschüttert Jörg Baberwoskis Studie "Verbrannte Erde" über Stalin: "Baberowski attestiert Stalin alle Kriterien eines typischen Psychopathen: Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit, ein manipulatives Verhältnis zur Umwelt und die Unfähigkeit, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden. Es ist diese psychopathische Grundstruktur, die zur Entfesselung destruktiver Kräfte führt und andere Psychopathen und Sadisten an ihn bindet – Gewaltmenschen, 'die den Macholkult des Tötens' öffentlich inszenieren, sich mit den Insignien militärischer Gewalt, mit Militärstiefeln, Uniformen und Pistolenhalftern umgeben und Mitleid ebenso wie Toleranz verachten."

"Ist dieses Buch voll tragischer menschlicher Höhen und Tiefen, dieser Monumentalroman der Sensualität, nicht auch ein großes Plädoyer für die Schönheit", fragt Paul Jandl Peter Nadas beim Besuch in Budapest und erhält zur Antwort: "Die Schönheit ist keine Idee des Buches, sondern des Lebens. Ich glaube daran."

Außerdem: Tilman Krause bespricht das Buch. Die Ökonomen Bert Rürup und Dirk Heilmann verteidigen das Wachstum gegen seine Kritiker. Besprochen werden weiter Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt" und Tomas Sedlaceks Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse".

In der Kultur bemerkt Hanns-Georg Rodek mit Blick auf die Wettbewerbsfilme von Alain Gomis, Ursula Meier, Christian Petzold und Bence Fliegauf: "2012 könnte ein Wendepunkt in der Stimmung des Missvergnügens sein, der sich bei Berlinale- Wettbewerben zuletzt immer heftiger einstellte." Außerdem springen heute gleich zwei Redakteure Christian Kracht zur Seite: Jan Küveler verteidigt Kracht als "moralischen Autor" oder wenigstens als zwischen Kritik und Affirmation schillernden "Andy Warhol der Literatur". Cornelius Tittel wirft Kracht-Kritiker Georg Diez einen "vierseitigen Rufmord" an Kracht vor. Ulrich Weinzierl versichert, dass die Jury des Berliner Theatertreffens, die gerade ihre Einladungen herausgeschickt hat, nicht so daneben liegt wie die Bundesversammlung. Tim Ackermann war mit Marina Abramovic essen.

FR/Berliner, 18.02.2012

"Die Berlinale hat ihre Sache gut gemacht" in diesem Jahr, resümiert Daniel Kothenschulte den diesjährigen Festivaljahrgang und gratuliert Dieter Kosslick nach viel Schelte (unter anderem hier) in den vergangenen Jahren zum "phänomenalen Comeback". Auch Anke Westphal blickt zufrieden um sich: "Diese Filme haben einen verändert, den eigenen Blick aus einem Tunnel der Wahrnehmung wieder ins Weite gelenkt und die Perspektive verrückt. Plötzlich ist man sich wieder bewusst, dass man Teil einer großen Erzählung ist."

Weiteres aus dem Berlinale-Teil: Erst in der Pressekonferenz zum offenbar mäßig sehenswerten Wettbewerbsfilm "Bel Ami" erfährt Katja Lüthge das "Warum des Films". Warum er sich das eigentlich anschauen soll, fragt sich Peter Uehling nach dem Wettbewerbsfilm "Rebelle". Jens Balzer vergibt den Brummbär "für die übellaunigsten Charaktere".

Besprochen werden eine "geradezu vorbildliche Ausstellung", so Christian Schlüter, über den DDR-Comic "Mosaik" im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, das neue Album der Band Die Türen, eine Aufführung von Fontanes "Irrungen, Wirrungen" in der Frankfurter Katakombe und eine Ausstellung mit Arbeiten von Saâdane Afif im MMK Zollamt in Frankfurt.

SZ, 18.02.2012

Der Princetoner Ideenhistoriker Jan-Werner Müller erklärt, warum die Forderungen nach intellektuellen Debatten über Europa ins Leere laufen - unklar sei ja schon, was Intellektuelle über Europa überhaupt zu sagen hätten: "Je mehr sich Europa wirtschaftlich und auch politisch integriert, desto selbstbezogener werden seine Mitgliedsstaaten. (...) So kulturpessimistisch es klingen mag: Zu Hochzeiten der Völkerfeindschaften gab es noch eine gemeinsame europäische Hochkultur, die Figuren wie Romain Rolland und Stefan Zweig über alle Grenzen hinweg verband."

Weitere Artikel: Rudolf Neumaier würdigt das "Brachialinstrument", die Tuba, die sich in den USA mittlerweile so großer Beliebtheit erfreut, dass sich darum regelrecht eine eigene Form von Beschaffungskriminalität gebildet hat. "Mit einem Gefühl der Heiterkeit" verließ Fritz Göttler Heinz Emigholz' Betonfilm "Parabeton", den das Forum der Berlinale zeigt. Susan Vahabzadeh erlebte in drei Wettbewerbsfilmen der Berlinale "Geschichtsstunden". Im Gespräch mit Christoph Cadenbach verrät der Electrolounge-Musiker Nicolas Jaar, dass er für die Produktion eines neuen Stücks zwischen 20 Minuten und einer Stunde braucht (wir glauben das gern). Henning Klüver berichtet von einem gemeinsamen Theaterprojekt zwischen der Berliner Volksbühne und dem Teatro Stabile aus Turin. Thomas Steinfeld weiß, warum Kunstwerke in den letzten Jahren immer häufiger auf Reisen gehen.

In der SZ am Wochenende zeichnen Alex Rühle und Kai Strittmatter ein Elendsbild von Griechenland. Annabel Dillig besucht die Assiniboine- und Sioux-Indianer in Montana, die auf Grund eines Ölfelds unter ihrem Reservat demnächst womöglich sehr reich werden könnten. Joachim Käppner blickt in die Kölner Karnevalsgeschichte. Martin Wittmann plaudert mit T.C. Boyle über Ökologie und warum die Republikaner in der kommenden Präsidentenwahl keine Chance haben.

Besprochen werden die Ausstellung "Turner - Monet - Twombly" in der Staatsgalerie Stuttgart, der Dokumentarfilm "Die Thomaner" und neue Bücher von Alexander Kluge (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 18.02.2012

In Bilder und Zeiten stellt Dirk Schümer den vor zehn Jahren entstandenen Comicroman "Alois Nebel" von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 vor, der sich unter anderem mit der Vertreibung der Deutschen aus Tschechien auseinandersetzt: "Komisch eigentlich, dieser Alois Nebel - in Tschechien sorgt sein Röntgenblick auf die Geschichte höchstens für Unbehagen bei Nationalisten, die nicht an die Vertreibung der Deutschen erinnern möchten. In Deutschland dagegen gibt es Leute, die lieber nichts davon hören, dass manche Deutsche auch Opfer waren. Oder wie Jaroslav Rudiš es zusammenfasst: 'Hier wollen eher die Rechten nichts davon wissen, in Deutschland sind es die Linken.'"

Weitere Artikel: Marli Feldvoß spürt den Kleistschen Mädchenfrauen in den Filmen von Eric Rohmer nach. Mely Kiyak plaudert mit den Fernsehköchen Marina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer über den "Geschmack der Deutschen". Glenn Close erklärt im Interview, warum sie froh ist, Schauspielerin zu sein: "Mein Mann ist ein brillanter Wissenschaftler, der souverän ein Biotechnologie-Unternehmen leitet - doch nie im Leben würde jemand zu ihm sagen: 'Gut gemacht.'"

Michael Hanfeld, dem nach der erfolgreichen Hetzjagd der Medien auf Christian Wulff doch etwas unbehaglich zumute ist, erklärt im Feuilleton: Hetzjagd gab's nur bei der Konkurrenz und im Internet und überhaupt: Wulff "hat sich politisch selbst zerstört". Nils Minkmar feiert im Aufmacher Jakob Augsteins Buch über das Gärtnern: Der Autor, staunt er, "übernimmt Verantwortung, plant, überwindet den Geiz und geht Risiken ein". Jürgen Dollase isst emanzipierten Grünkohl und "Handkäs mit Musik" bei Matthias Schmidt in der Frankfurter Villa Merton. Das Down-Syndrom lässt sich immer früher diagnostizieren, berichtet Oliver Tolmein, der das gar nicht gut findet.

Besprochen werden eine Werkschau des Konzeptkünstlers Hans Haacke im Reina-Sofia-Museum in Madrid, Kim Nguyens Berlinale-Wettbewerbsfilm "Rebelle", neue CDs u.a. von Kettcar und Schubert-Werke mit Alexander Lonquich und Carolin Widmann sowie Bücher, darunter Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius ein Gedicht von Heinrich Heine vor:

"Sie saßen und tranken am Teetisch,
und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch
die Damen von zartem Gefühl.
..."