Heute in den Feuilletons

Eigenständige Kopfmodernisierung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2012. Retromanie in Hollywood: Die Oscars gehen an eine französische Hommage an den amerikanischen Stummfilm, an eine amerikanische Hommage an Lumière und Mélies und an die eiserne Lady.  Die Welt erklärt, was Westalgie ist. Die FAZ lässt sich vom Vegetarismus nicht überzeugen. In der taz porträtiert Gabriele Goettle den Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Die NZZ spürt dem Unbehagen am Copyright nach.

Weitere Medien, 27.02.2012

Großer Absahner bei den Oscars gestern abend war "The Artist": Er gewann Preise für die beste Filmmusik, beste Regie (Michel Hazanavicius), besten Hauptdarsteller (Jean Dujardin) und schließlich besten Film. Den Oscar für die beste weiblich Hauptrolle erhielt Meryl Streep, für die beste weibliche Nebenrolle Octavia Spencer und für die beste männliche Nebenrolle Christopher Plummer. Als bester nicht-englischsprachiger Film wurde Asghar Farhadis "Nader und Simin" ausgezeichnet. Fünf Oscars gingen an Martin Scorseses "Hugo", aber nur in Nebenkategorien (Kamera, Spezialeffekte, Szenenbild, Tonschnitt und Tonmischung), meldet Spiegel online.

Gawkers Brian Moylan hat sich bei der Preisverleihung gelangweilt wie nie: Die Preise gingen hauptsächlich an französische Filme, gähn. Und Meryl Streep ist toll, aber, "it's all so safe. It's all so, well, old. It's like those girls in costumes handing out olde tyme snacks down the aisle during the commercial breaks. It's like trotting out Billy Crystal for another go round. It's like giving all the trophies to Harvey Weinstein and Martin Scorsese and all the other old white guys."

Die imdb hat natürlich schon alle Fotos vom roten Teppich online gestellt. Am schönsten: Meryl Streep, Octavia Spencer und Milla Jovovich.

NZZ, 27.02.2012

Joachim Güntner setzt sich ausführlich mit dem Urheberrecht auseinander und plädiert dafür, im Streit zwischen Industrie- und Nutzerinteressen den Autor nicht zu kurz kommen zu lassen. Er verweist auf den Historiker Eckhard Höffner, der in einer Studie über das Urheberrecht im 18. und 19. Jahrhhundert nachgewiesen hat, dass Kreativität und Einkommen der Autoren ohne Urheberrecht größer waren: "Das Urheberrecht, indem es vor Nachdrucken schütze, diene allein dem Verleger bei der Monopolbildung, urteilt Höffner. Seine Untersuchungen, die sich noch auf die alte Welt des Buchdrucks beziehen, sind auf die neue Welt des Digitalen schwerlich übertragbar. Eines aber scheint gleich geblieben zu sein und nährt auch heute das Unbehagen am Copyright: Wie gut Urheber dastehen, hängt von ihrem Marktwert ab, nicht von der Rechtslage. Kein Urheberrecht, heißt es unter freien Autoren bitter, habe ihre Ausplünderung mittels Buyout-Verträgen verhindert." (Hier ein langes Interview mit Höffner.)

Weiteres: Robert Kaltenbrunner sucht nach der klugen Synthese von Tradition und Moderne im Städtebau. Stefana Sabin erinnert an den Schriftsteller Lawrence Durrell, der vor hundert Jahren geboren wurde.

TAZ, 27.02.2012

Gabriele Goettle trifft den Soziologen Wilhelm Heitmeyer in Bielefeld und lässt sich von ihm erklären, was es mit der rohen Bürgerlichkeit auf sich hat, die nicht zu verwechseln sei mit dem Bürgertum: "Es ist eine Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert. Damit leugnet sie die Gleichwertigkeit von Menschen, macht ihre psychische und physische Integrität antastbar und führt zugleich einen Klassenkampf von oben. Sie ist sozusagen der Transmissionsriemen gegen diejenigen, die als Ausgegrenzte definiert werden."

Außerdem: Friedrich Küppersbusch kommentiert die Woche. Steffen Grimberg blickt sich angesichts der Initiative für eine Frauen-Quote in den Redaktionen um.

Hier Tom.

Welt, 27.02.2012

Die Mittelschicht erlebt gerade einen harten Anflug von Nostalgie: Nicht nur Ostalgie, auch Westalgie steht derzeit hoch im Kurs, man sehnt sich nach den siebziger und frühen achtziger Jahren zurück, als die Welt noch in Ordnung war, meinen Ulrich Machold und Hans Evert. "So kommt es, dass all die kapitalismuskritischen 'Forderungen' dieser Tage kaum Forderungen sind. Vielmehr werden sich Dinge weggewünscht: Weg mit Hartz, weg mit der Rente mit 67, mit der Bundeswehr in Afghanistan, mit dem Euro, weg mit den 'Spekulanten'. Auch die 'Occupy'-Gruppe nimmt im Grunde nur diesen Faden auf. Die Bewegung der Mittelschichtkinder des alten Westens will in erster Linie entfernen, was seit den 80ern das Leben verkompliziert hat."

Weitere Artikel: "Bratwurst-Provinznest" ruft Manuel Brug der Stadt Weimar zu, die 2014 offenbar Nike Wagners Kunstfest einstellen will. Gerhard Midding berichtet über die Verleihung des französischen Filmpreises César, bei dem "The Artist" gründlich abstaubte, während "Ziemlich beste Freunde", abgesehen vom César für Omar Sy, leer ausging. Thomas Kielinger stellt die neue Sonntagszeitung Murdochs, die Sun on Sunday vor.

Im Forum plädiert Gunnar Heinsohn für eine intelligentere Einwanderungspolitik in Deutschland: Wie in Kanada sollten man nicht nach -Einwanderern mit Qualifikationen suchen, die der Arbeitsmarkt gerade braucht, sondern jene, die "ein Maximum an Kompetenz für die jederzeitige eigenständige Kopfmodernisierung" haben.

Besprochen werden die Ausstellung "Ich will ein Bauer werden" zu Kleists Schweiz-Aufenthalt im Kleistmuseum in Frankfurt an der Oder, Stephan Kimmigs Inszenierung des "Kirschgartens" am Deutschen Theater Berlin und eine CD der Berliner Band "Die Türen".

SZ, 27.02.2012

Klaus Kreiser vergleicht angesichts des durchschlagenden Erfolgs des türkischen Monumentalfilms "Fetih 1453", der die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen für propagandistische Zwecke ausschlachtet (vgl. auch die FR vom Samstag), die aktuelle Filmversion des Stoffs mit einer älteren aus den fünfziger Jahren: "Die beiden Istanbul-Filme von 1951 und 2012 sind Glieder einer Kette nationaler historischer Erzählungen, die mit dem Goldenen Zeitalter der Osmanen einen zuweilen eher intellektuellen, zuweilen eher ästhetisierenden und zunehmend auch einen populistisch-hemdsärmeligen Umgang betreiben. Wobei durchaus auffällt, dass die Osmanen, die Konstantinopel im Jahr 2012 erobern, deutlich islamischer gesonnen sind als ihre Vorgänger."

Weitere Artikel: Das Fernmeldegeheimnis "hat seinen Wert verloren", schlussfolgert Heribert Prantl nach der Meldung, dass deutsche Geheimdienste im vergangenen Jahr rund 37 Millionen E-Mails überprüft haben. Michael Stallknecht begeistert sich sehr für Jos van Immerseel und dessen Anima-Eterna-Orchester, das sich mit einem "ganzen Fuhrpark von Instrumenten" um die historische Aufführpraxis bei Konzerten verdient macht. Beim Tanzplattform-Festival in Dresden erlebte Dorion Weickmann vor allem starkes Ballett. In den "Nachrichten aus dem Netz" berichtet Michael Moorstedt von den auf Gawker geleakten Facebook-Guidelines, anhand derer outgesourcte Content-Moderatoren Löschungen (zum Besipeil von Bildern von stillenden Müttern oder schwulen Küssen) vornehmen sollen. Orhan Pamuk erinnert sich an den kürzlich verstorbenen Dmitri Nabokov. Stephan Handel schreibt den Nachruf auf den Musiker Maurice André, Fritz Göttler den auf den Schauspieler Erland Josephson.

Besprochen werden neue DVDs, darunter John Carpenters Comebackfilm "The Ward", die Ausstellung "Die Leidenschaften" im Hygiene-Museum in Dresden und Bücher, darunter eine "repräsentative Ausgabe" des Werks von Walter Buchebner (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 27.02.2012

Melanie Mühl und Joachim Müller-Jung spazieren über die Wiesbadener Messe "Veggie-World" und sind am Ende nicht ganz überzeugt von der Idee des Vegetarismus: "Der Sinn vegetarischer Ernährung ist ja der Verzicht auf Fleisch. Liest man jedoch die Namen der Lebensmittel - Geschnetzeltes, Wurst, Gulasch -, scheint es den Anbietern absurderweise darum zu gehen, das Gegenteil zu suggerieren. Aber warum soll ein Vegetarier eigentlich das Gefühl haben, Fleisch zu essen?" Und nun geht der Trend gar zum "In-Vitro-Hamburger."

Weitere Artikel: Marcus Jauer hörte der Berliner Lektion des Computer-Pioniers David Gelernter zu, der fürchtet, dass uns die Digitalisierung den Verstand raubt. Edo Reents plädiert dafür, dass Christian Wulff den Ehrensold bekommt. Paul Ingendaay erzählt die Skandal- und Korruptionsgeschichten um den Schwiegersohn des spanischen Königs, Inaki Urdangarin. Gina Thomas wirft einen Blick in Rupert Murdochs neue Sontagszeitung Sunday, die recht brav daherzukommen scheint. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit Ungarn auseinandersetzen.

Besprochen werden ein "Kirschgarten" mit Nina Hoss am Deutschen Theater Berlin, eine Ausstellungen über römische Barockzeichnungen in München und ein Gesprächskonzert mit Ranga Yogeshwar, der in Strawinskys "Sacre" einführte, in Köln.

In der FAZ am Sonntag bespricht Tobias Rüther Ralf Bönts Manifest für eine neue Männlichkeit, "Das entehrte Geschlecht".