Heute in den Feuilletons

Tolldreister Lobbyismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2012. Blogger sind entsetzt über den gestrigen Beschluss des Koalitionsausschusses, das Leistungsschutzrecht nun doch einzuführen. In der Welt erinnert Henryk Broder an Kontinuitäten des linken Antisemitismus. Die FAZ berichtet über die Zusammenarbeit von Beate Klarsfeld und der Stasi. Die NZZ feiert die präcastrische Architektur auf Kuba. In der FAZ erklärt Javier Marias, warum er für das Vergessen ist.

Aus den Blogs, 05.03.2012

Es verdichten sich die Gerüchte, dass die Bundesregierung nach langem Hinhalten (und aus Angst vor der Bild-Zeitung) nun doch noch die Wünsche der Presse nach einem Leistungsschutzrecht befriedigen wird. Stefan Niggemeier lässt sich nochmal den entsprechenden Satz aus der gestrigen Tagung des Koalitionsausschusses auf der Zunge zergehen: "Gewerbliche Anbieter im Netz, wie Suchmaschinenbetreiber und News-Aggregatoren, sollen künftig für die Verbreitung von Presseerzeugnissen (wie Zeitungsartikel) im Internet ein Entgelt an die Verlage zahlen." Niggemeiers Kommentar dazu: "Google und womöglich auch die Perlentaucher und turi2s dieses Landes sollen den Verlagen also Geld dafür geben, dass sie helfen, dass deren Inhalte ein Publikum finden." Hier das pdf-Dokument des Koalitionspapiers.

"Schwarzer Tag für das Urheberrecht", kommentiert Philipp Otto im Blog von irights.info den Beschluss des Koalitionsausschusses: "Die Entscheidung ist rückwärtsgewandt, brandgefährlich und zeigt auf beeindruckende Weise die Macht der Presseverlage über die Vernunft und Handlungsfähigkeit der Regierungskoalition. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundestagsabgeordneten diesen Pläne und dem tolldreisten Lobbyismus der Presseverlage im bald folgenden Gesetzgebungsprozess Einhalt gebieten."

Markus Beckedahl von Netzpolitik liest das Papier des Koalitionsausschusses und fragt: "Ob die Koalition jetzt an Springer dafür zahlen muss, dass die ihnen den Text vorgeschrieben haben?"

Martin Weigert liefert auf Netzwertig weitere Links zum Thema.

Bild meldet: Koalition verbessert Urheberrecht."

Der Regisseur Rudolf Thome befindet sich derzeit in Kairo: In seinem Blog gibt es zahlreiche Fotos aus der Stadt ein Jahr nach der Revolution, wo vor allem die Street-Art-Szene die Ereignisse der letzten 12 Monate aufzuarbeiten scheint. Ansonsten scheint sich nicht viel geändert zu haben: "Das Leben hier ist wie vor zwei Jahren. Der größte Unterschied ist, dass fast alle Taxis weiß sind und weiße Taxis haben ein Taxameter. Die schwarzen Taxen ohne Taxameter sind fast völlig verschwunden."

(via Neunetz) Nichts wird von den Zeitungen so gern kritisiert wie die "Datensammelwut" von Facebook oder Google. Verschwiegen wird dagegen die Datensammelei deutscher Zeitungsverlage und Versandhäuser, die vom sogenannten "Listenprivileg" profitieren, erklärt Richard Gutjahr in seinem Blog: "Dieses Listenprivileg sieht vor, dass Versandhäuser, Zeitungsverlage oder auch Direktmarketing-Firmen Kundenlisten erheben dürfen, wobei einer Person neben Name, Anschrift und Telefonnummer auch jeweils ein Zusatzkriterium zugeordnet werden darf. Beispiel: Schulbildung, oder Beziehungsstatus, Einkommensklasse, Raucher/Nichtraucher etc." Die Informationen werden dann an Datensammler wie die Schober Information Group verkauft, die aus den Einzelinformationen "umfangreiche Kunden-DNA-Ketten" zusammensetzt. Zu den Kunden des Datenhändlers gehören "Axel Springer, Frankfurter Allgemeine, Financial Times, Gruner und Jahr, Gong Verlag, Handelsblatt, Manager Magazin, Readers Digest, Ringier Verlag, Süddeutsche Zeitung, sky, Der Spiegel, Weltbild."

Dazu meint Marcel Weiss: "Immer wenn Vertreter eines Unternehmens, und dazu zählen mittlerweile leider auch allzu oft Journalisten, einem anderen Unternehmen Unmoralisches vorwerfen, dann geht es in Wirklichkeit um konkurrierende Geschäftsmodelle."

NZZ, 05.03.2012



Roman Hollenstein war auf Kuba und stellt fest, dass zwar alles von den amerikanischen Oldtimern schwärmt, aber niemand von den kunstvollen Bauten der fünfziger Jahre. Wie etwa der Schulthess Villa, in der heute der Schweizer Botschafter residiert, oder das Habana Riviera, "dessen ursprünglich von Philip Johnson gezeichnete Pläne von einem auf Hotelbauten spezialisierten Büro aus Miami überarbeitet wurden. Auftraggeber dieses touristischen Gesamtkunstwerks war der eng mit dem Diktator Fulgencio Batista verbandelte Kasinobesitzer und Mafioso Meyer Lanski, der damals fast so großen Einfluss auf die Gegebenheiten in Kuba ausübte wie die amerikanische Botschaft."

Marc Zitzmann berichtet, dass jetzt auch Frankreich in offiziellen Korrespondenzen die Mademoiselle durch die Madame ersetzt sowie Mädchen-, Vater- und Gattenname durch Familien- und Gebrauchsnamen: "Ziel ist, dass Frauen inskünftig mit dem Namen angesprochen werden, mit dem sie angesprochen werden möchten - also nicht 'Frau geschiedene Soundso', worauf sich namentlich das stets zu Garstigkeiten aufgelegte Steueramt gern kapriziert."

Weiteres: Petra Kiphhoff besichtigt die Ausstellung "Müde Helden", die die Künstler Ferdinand Hodler, Aleksandr Dejneka und Neo Rauch zusammenbringt, in der Hamburger Kunsthalle. Sieglinde Geisel goutiert die dezente Auffrischung der Reclam-Hefte.

TAZ, 05.03.2012

Für das reinste Desaster hält Niklaus Hablützel die Inszenierung von Luigi Nonos großer Oper "Al gran sole, carico d'amore" im Heizkraftwerk Mitte: "Es ist Aufruhr in dieser Musik von unglaublicher Kraft und betörender Klangschönheit, und glühende Sehnsucht nach Glück und Gerechtigkeit. Was könnte aktueller sein als genau das an diesem Ort? Aber daraus wurde nichts. Die Turbinenhalle wurde zur Folterkammer, das Werk ein Opfer der Eventvermarktung. Schuld daran ist Jürgen Flimm, Intendant der Berliner Staatsoper. Man muss von einer Tragödie sprechen, denn seine Liebe zu diesem Werk steht außer Frage." (Ganz zu schweigen von dem ständigen Geklapper des Catering-Service, das in den kaum abgedichteten Zuschauerraum drang!)

Weiteres: Robert Matthies hat sich in Hamburg die kapitalismuskritische Revue "Der Firmenhymnenhandel" angesehen, die der frühere Grünen-Linke Thomas Ebermann zusammen mit den Goldenen Zitronen auf Kampnagel darbot. Thomas Winkler bespricht die neue CD "Goldrausch" des Singer-Songwriters Tom Liwa.

Und Tom.

Welt, 05.03.2012

Das "Haus der Begegnungen mit der Geschichte" in Warschau, ein Zentrum der polnischen "oral history", ist finanziell nicht so abgesichert, wie es das verdient hätte, schreibt Gerhard Gnauck. Matthias Heine spekuliert, wer am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Leipziger Schauspiel Intendant werden könnte. Michael Pilz porträtiert den Rapper Erik Schrody alias Everlast alias Whitey Ford, den Bänkelsänger des White Trash.

Besprochen werden eine Ausstellung von Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikans in den Kapitolinischen Museen in Rom, Luc Percevals Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" am Hamburger Thalia Theater und Charles Murrays Buch "Coming Apart" über den Status des weißen Amerika 1960 bis 2010, das Hannes Stein lesenswert, aber auch widersprüchlich findet.

Die Welt am Sonntag brachte einen Vorabdruck aus Henryk Broders neuem Buch "Vergesst Auschwitz", in dem er erzählt, wie er in der K-Gruppen-Zeit entdeckte, dass auch die deutsche Linke antisemtisch sein kann - mit Kontinuitäten bis heute: "Die 'Zentralorgane', in denen diese Überlegungen zur Lage im Nahen Osten erschienen sind, gibt es nicht mehr, sie modern im Abgrund der Geschichte. Aber die Inhalte der Roten Fahne, des Roten Morgens, der Kommunistischen Volkszeitung, des Arbeiterkampfes und anderer Sprachrohre des Anti-Imperialismus findet man heute in der FAZ und der taz, der SZ und der FR, dem Stern und der Berliner Zeitung. Etwas feiner formuliert, aber substanziell gleich."

SZ, 05.03.2012

Mit den beiden Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten Beate Klarsfeld und Joachim Gauck steht mit einem Mal wieder die deutsche, längst besiegte Vergangenheit zwischen NS- und SED-Staat im Zusammenhang mit der Präsidentschaft, beobachtet Joachim Käppner: "Beide, Gauck wie Klarsfeld, umweht ein Hauch des Unzeitgemäßen. ... Für die Bundesrepublik aber kann die späte Selbstvergewisserung ein Gewinn sein: als Erinnerung daran, wo man selbst herkommt und wohin man nie wieder zurückkehren möchte."

Außerdem: In den "Nachrichten aus dem Netz" fasst Michael Moorstedt dieses Blogposting der Soziologin Zeynep Tufekci zusammen, die sich darin mit den Auswirkungen des menschlichen Dokumentationsdrangs im Youtube-Zeitalter befasst. Außerdem ist eine Passage aus dem neuen Buch des Philosophieprofessors Christoph Türcke abgedruckt, der sich darin sehr um unsere Hirne unter den Bedingungen des neuen, "globalen Aufmerksamkeitsregimes" sorgt.

Besprochen werden neue DVDs, darunter die neue HBO-Serie "Boardwalk Empire", deren Pilotfolge Martin Scorsese inszenierte, der Film "Trans Bavaria", die beiden Kopenhagener Ausstellungen mit Arbeiten von Vilhelm Hammershoi (im Statens Museum for Kunst) und P.S. Kroyer (im Skagens Museum), Frank Castorfs "Marquise von O."-Inszenierung an der Berliner Volksbühne, die Peter Laudenbach gleichermaßen einschläfert und peinlich berührt, Guy Montavons Inszenierung von Detlev Glanerts "Joseph Süß" am Staatstheater am Gärtnerplatz in München, Martin Kusejs Fassbinder-Hommage "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter Frank Schulz' Hamburg-Krimi "Onno Viets und der Irre vom Kiez" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.03.2012

Paul Ingendaay unterhält sich mit Javier Marias, der in seinem jüngsten Roman "Die sterblich Verliebten" Motive aus Balzacs Kriegsheimkehrer-Novelle "Colonel Chabert" aufs heutige Spanien appliziert: "Die plötzliche Rückkehr eines Verschwundenen oder Totgeglaubten bringt nicht, wie es sentimentale Romane des 19. Jahrhunderts erzählen, Glück und Wiedersehensfreude, sondern kann alle ins Unglück stürzen. Wenn es sich um einen Vater handelt, was geschieht mit dem Erbe, das schon verteilt ist? Wenn es eine frühere Liebe ist, was machen wir mit der neuen? Es bleibt nur eins: Wir müssen vergessen."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann versteht die Erben Brechts und Dessaus, die darüber wachten, dass der Regisseur Herbert Fritsch, der den "Puntila" zur Revue auflockerte, ihr geistiges Eigentum nicht beschädigt. Melanie Mühl gibt zu, dass sie sich von dem attraktiven Äußeren Asma al-Assads, der Frau des syrischen Diktators, hat täuschen lassen. Aus Slate übernommen (hier das Original) wird die neueste Kolumne des Internetskeptikers … äh, wie heißt er noch?, der ein Recht auf Vergessenwerden einfordert. Andreas Rossmann meldet, dass der Kölner Moscheestreit vorerst beigelegt sei - die türkische Religionsbehörde Ditib und der Architekt Gottfried Böhm reden wieder miteinander.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Michael Schmidt, der moderne Lebensmittel in ihrer Abgepacktheit abgebildet hat, im Museum Morsbroich, eine Dramatisierung der "Bitteren Tränen der Petra von Kant" durch Martin Kusej in München, eine "Marquise von O."-Verwurstung (so Irene Bazinger) Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne, Konzerte der Berliner Philharmoniker in New York und Bücher, darunter Carolin Emckes Bekenntnisbuch "Wie wir begehren" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Jochen Staadt hat für die FAZ am Sonntag DDR-Dokumente gelesen, die die Zusammenarbeit von Beate Klarsfeld und der Stasi in der Kiesinger-Sache belegen: "Am 14. Mai werde Beate Klarsfeld in Paris ein 'Kiesinger-Colloquium' organisieren. 'Die erforderliche publizistische Auswertung der von Frau Klarsfeld angekündigten Aktion gegen Kiesinger wird von uns veranlasst.' Vertrauensleute der illegalen KPD in Westdeutschland hätten sich um die 'von Frau Klarsfeld gewünschte anwaltliche Vertretung' bemüht."