Heute in den Feuilletons

Verfestigung des Status quo

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2012. Die Debatte ums Leistungsschutzrecht geht weiter. Die SZ verteidigt es mit zum Teil fehlerhaften Argumenten. Der Zeit online ist das Recht auf Information dagegen wichtiger als Leistungsschutz. Die Blogger spielen Szenarien durch: Wenn Google nicht mehr auf deutsche Unternehmen verlinkt, könnten natürlich Schweizer oder österreichische Medien in die Bresche springen. Die NZZ berichtet, dass Springer und Ringier in Osteuropa prächtig verdienen. Der Tagesspiegel porträtiert die Cutterin Bettina Böhler.

TAZ, 06.03.2012

Meike Laaff kann sich nicht darüber freuen, dass mit dem beschlossenen Leistungsschutzrecht Verlage jetzt per Gesetz Geld für ihre im Netz verbreiteten Texte bekommen sollen: "Von einem Leistungsrecht profitieren würden vor allem größere Verlage und Zeitungen - kleinere wären auf den Traffic, den Aggregatoren und Suchmaschinen ihnen liefern, ohnehin angewiesen und würden aufgrund ihrer Größe von Schutzrechten in weit geringerem Maße profitieren."

Katrin Bettina Müller berichtet über die aktuelle Spielzeit am Theater Konstanz, die dem modernen afrikanischen Theater gewidmet ist. Gut gefallen hat ihr etwa das Stück "Zwei Schritt voraus" des togoischen Autors Kokouvi Dzifa Galley: "Zwei Flüchtlinge aus Afrika, man hat so seine Vorstellungen, jetzt kommt eine tragische Geschichte über Europas Grenzpolitik und die Ohnmacht des Einzelnen. Aber was Galley erzählt, ist anders, mehr eine Parabel über eine Selbstfindung in der Wüste, wo beide Männer ihr Ziel aus den Augen verloren zu haben scheinen, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft und ihre Abhängigkeit voneinander immer wieder von vorn und anders zu deuten beginnen."

Weiteres: In seiner "Gott und die Welt"-Kolumne würdigt Micha Brumlik den Umstand, dass nun nach 180 Jahren Debatte an einer deutschen Universität Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet werden. Als "leicht konsumierbare, konsensfähige Gesellschaftskritik für den Yuppie-Bewohner mit Anspruch" findet Alexander Kohlmann Schorsch Kameruns Stück "Verschwundenen von Altona" am Thalia Theater viel zu kraftlos.

Gerhard Dilger gratuliert Gabriel García Márquez zum Fünfundachtzigsten. Vorabgedruckt wird ein Auszug aus Markus Metz' und Georg Seeßlens Buch "Bürger erhebt euch!".

Und Tom.

Aus den Blogs, 06.03.2012

Marcel Weiß schreibt auf Neunetz zur Diskussion um das Leistungsschutzrecht: "Das Presseleistungsschutzrecht ist auch als Hilfe zur Verfestigung des Status Quo gedacht. Ein Institutionenschutz, der sich als Presseschutz tarnt. Innovationen werden erschwert, große Verlage, die sich gegenseitig von Zahlungen (und Genehmigungspflichten?) freistellen, begünstigt."

Patrick Breitenbach spielt in seinem Blog ein paar Szenarien zum Leistungsschutzrecht durch. Eines davon bezieht sich auf die für die Instituierung des Rechts geplante Verwertungsgesellschaft: "Sollte also die Mitgliedschaft bei der zukünftig geplanten Verwertungsgesellschaft Pflicht sein, so werden wir wohl einen enormen Umbruch des Medienmarktes außerhalb der deutschen Grenzen erleben. Die deutschsprachigen Verlage in der Schweiz oder in Österreich könnten sich dann jetzt schon die Hände reiben, denn sie könnten mit bereits vorhandenen Verlagsstrukturen in sehr kurzer Zeit ein völlig neues Publikum erschließen. Und überhaupt dürfte es wenig Probleme geben sich seinen Online-Verlag in Zukunft außerhalb von Deutschland aufzubauen."

In Spiegel Online sieht Konrad Lischka schon das "Rechtschaos" heraufziehen: "Dass selbst in einem kurzen Text wie dem aus dem Koalitionsausschuss zwei einander widersprechende Begriffe ('Presseverlage', 'Hersteller') für die angeblich selbe Sache auftauchen, lässt nichts Gutes für das Gesetz erwarten."

Noch ziemlich frisch im Netz und atemberaubend schön: The Lively Morgue, ein Fotoblog der New York Times mit hochwertig aufbereiteten, historischen Bildern aus deren Archiven. (via)

Zeit, 06.03.2012

Zeit-Online-Redakteur Kai Biermann spricht sich gegen ein Leistungsschutzrecht aus, wie es jetzt doch kommen soll: "Nachrichten sind überhaupt nicht geschützt. Der Satz 'Sack Reis in China umgefallen', darf von jedem verbreitet werden, auch wenn er zuvor Aufmacher einer Zeitung war. Denn das Recht auf umfassende Information wird als Grundrecht betrachtet. Das Leistungsschutzrecht schränkt jedoch genau diese Weitergabe ein."

Welt, 06.03.2012

Hannes Stein erklärt auf einer ganzen Seite, warum er den Holocaust "schlimmer" findet als den Kommunismus. Paul Jandl berichtet über den Streit um Akos Kertesz, der den Ungarn bescheinigt hat, genetisch bedingt Untertanen zu sein und der jetzt politisches Asyl in Kanada beantragt hat. Dirk Peitz schreibt zum Tod des Kinodesigners Ralph McQarrie.

Besprochen werden Christoph Loys Inszenierung der Janacek-Oper "Jenufa" an der Deutschen Oper Berlin und Jan Klatas Inszenierung der "Räuber" als Rockrevue in Bochum.

Weitere Medien, 06.03.2012

Sehr ausführlich bespricht Caspar Melville den Essay "Religion for Atheists", in dem Alain de Botton einen Tempel für Atheisten in London vorschlägt: "This combination of Jesuitical zeal, the 19th-century do-goodery implied by his emphasis on morality and self-improvement, his belief that secularism needs to be institutionalised and scheduled and his pally-ness with money men conjures a vision of a kind of global secular conglomerate - GodlessGloboCorp, a counter-Catholic Church, overseen by a hybrid of Dr Pangloss and Rupert Murdoch. I didn't just pluck this name out of the air. On 22 January Murdoch sent the following message to his Twitter followers: 'Just read Religion for Atheists. Great writing, thoughtful, disturbing. Highly recommend.'"

NZZ, 06.03.2012

Auf der Medienseite beschreiben Rainer Stadler und Beat Gygi, wie sich Springer und Ringier Verlag in einer Art konzertierten Aktion den Zeitungsmarkt in Osteuropa aufteilen: "Florian Fels, CEO dieses Joint Venture und seinerzeit von Springer zu Ringier gekommen, legt im Gespräch dar, dass man heute im Vergleich mit den Planungen auf Kurs sei. Die Rendite liege derzeit bei rund 20 Prozent, sagt Fels." Aha, und im Internet? "Ziel ist es, den Anteil des Umsatzes aus digitalen Aktivitäten in den nächsten Jahren auf 20 Prozent zu steigern. "

Roman Bucheli blickt etwas entgeistert auf die Debatte um Christian Krachts Roman "Imperium", dem Georg Diez jetzt doch kein faschistoides Gedankengut mehr vorwerfen möchte: "Was ist mit diesem Literaturbetrieb los, wo die Herrschaften schwerstes Geschütz auffahren und auch prompt gleich wieder einpacken, wenn nur das mildeste Entrüstungsstürmchen sich dagegen erhebt? Soll das denn noch einer ernst nehmen? Die Vorwürfe etwa, die gar keine sein wollen? Es sei ihm, so Diez nun etwas kleinlaut, lediglich um die Klärung der Frage gegangen, was heute rechts sei, wie und an welchen Orten sich rechtes Denken zeige. Und was ist da von den zur Verteidigung herbeieilenden Kolleginnen und Kollegen zu halten, die nicht weniger als das 'Ende der freien Kunst' heraufkommen sehen? Sind wir denn hier in einer Wohlfühloase, und ist die Kunst zur Kuschelecke geworden?"

Weitere Artikel: Markus Bauer berichtet von neuen Spannungen zwischen den Rumänen und der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen. Bernhard Furrer fürchtet, dass die Umgebung des ehemaligen Staatsratsgebäudes durch einen geplanten Neubau beeinträchtigt werden könnte. Marc Zitzmann berichtet vom Umbau des Pariser Musée d'Orsay.

Besprochen werden eine offenbar etwas statische Inzenierung von Verdis "Don Carlo" am Opernhaus Zürich und Warlam Schalamows vierter Erzählungsband aus Kolyma "Die Auferweckung der Lärche".

Tagesspiegel, 06.03.2012

Christiane Peitz porträtiert die Cutterin - oder Film-Editorin - Bettina Böhler, die gerade Christian Petzolds "Barbara" montiert hat: "Sie ist die erste Zuschauerin, wählt die Takes aus, entscheidet, wer im On und im Off spricht, schlägt Auslassungen und Umstellungen vor. Streit gibt es nicht, sagt sie. Aber kreative Auseinandersetzungen. Zum Beispiel über die Szene, in der Ronald Zehrfeld seine Arztkollegin nach der Nachtschicht im Unterrock überrascht. Er bringt Kaffee, klopft nicht an, Barbara steht vor dem Spiegel. Wer sieht jetzt wen? Eine Frage der Beziehung zwischen den beiden - und der Montage. 'Petzold dachte, sie bekommt es nicht mit, dass er da ist. Ich verstand es intuitiv anders: Beide registrieren einander und lösen den peinlichen Moment gemeinsam auf. Ich habe beide Varianten geschnitten, am Ende fiel die Wahl auf meine Version.'"

FAZ, 06.03.2012

Nils Minkmar missbilligt die Entscheidung Angela Merkels, den französischen Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten, Francois Hollande, der mutig den Finanzmärkten die Stirn bieten will, vor den Wahlen in Frankreich nicht zu empfangen. Mark Siemons war dabei, als vor Pekinger Studenten Alexander Kluges neunstündige Marx-DVD projiziert wurde, und er verfolgte eine Diskussion der Studenten mit dem per Video zugeschalteten Regisseur. Vorabgedruckt wird ein Kapitel aus Anna Katharina Hahns neuem Roman "Am schwarzen Berg", und in einem begleitenden Kasten wird die Autorin als "eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation, ja der deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt" gepriesen und indirekt für den Leipziger Buchpreis empfohlen (in der Jury des Preises sitzt auch eine FAZ-Redakteurin, Johanna Adorjan). Auf der Medienseite begrüßt Michael Hanfeld das jetzt von der Regierungskoalition annoncierte Leistungsschutzrecht für Verlage.

Besprochen werden Janaceks "Jenufa" an der Deutschen Oper Berlin (Jan Brachmann lobt die "restlos gelungene Regie" Christof Loys), eine Ausstellung der Berliner Künstler Gregor Hildebrandt und Jorinde Voigt in Venlo, Francesco Cileas Oper "Adriana Lecouvreur" in Frankfurt und Ausstellungen und Installationen der Whitney Biennale in New York.

SZ, 06.03.2012

Kein Wunder, dass das Leistungsschutzrecht immer wahrscheinlicher wird, wenn es von solch ärgerlich uninformierten Beiträgen gestützt wird: Im Medienteil rechtfertigt Christopher Keil das entsprechende Vorhaben der Regierung neuerlich mit der alten Leier, dass Google News "Schlagzeilen und Texte publizistischer Unternehmen" biete und damit "ein Feld für Werbung" schaffe. Ist Google News somit nicht als "Kiosk" anzusehen, fragt Keil, "der sich Texte ohne zu bezahlen liefern lässt, aber quasi an ihrer Weitrerreichung verdient"? Eindeutige Antwort: Falsch, Google News spiegelt nicht, sondern verlinkt Inhalte an ihrem Ursprungsort, und ist außerdem werbefrei. Kurios mutet auch Keils Klagelied einer "Gratis-Kultur" im Netz an, derzufolge die "Qualitätspresse" offenbar regelrecht dazu erpresst werde, ihre Inhalte frei zugänglich ins Netz zu stellen. Die eigene Zeitung kann Keil damit kaum meinen: Seit geraumer Zeit unterhält zumindest deren Print-Feuilleton zum Online-Kulturteil allenfalls eine Fernbeziehung.

Ansonsten im Feuilleton: Für Peter Laudenbach ist Tschechows derzeit am Berliner Ensemble und am Hamburger Thalia aufgeführtes Stück "Kirschgarten" das "Stück der Stunde, weil es ohne Moralgefuchtel vom Preis der Dekadenz erzählt, von einer Übergangszeit, deren Bewohner noch nicht so recht begreifen, wie ihnen geschieht." Tim Neshitov erklärt Putins genau kalkulierten Gebrauch des Worts "Volk" im russischen Wahlkampf. Bernd Graff informiert darüber, wie es dem Schwulen-Aktivisten Dan Savage gelungen ist, aus dem Nachnamen des homophoben US-Politikers Rick Santorum einen schweinischen Neologismus zu kreieren, der auf Google höher rangiert als die Website des Politikers. Franziska Schwarz berichtet von Schwachstellen des YouTube-Services "Content ID". Maxim Vengerovs Comeback als Solist und Dirigent nach einer verletzungsbedingten Auszeit ist noch immer nicht ganz abgeschlossen, urteilt Helmut Mauró nach einem Münchner Konzert. Sehr bedauerlich findet es Andrian Kreye, dass auf eine Nutzung jener Häuser in Los Angeles, in denen früher deutsche Exilanten, darunter Thomas Mann, lebten, als Kulturdenkmäler kaum zu hoffen ist. Harald Eggebrecht hat in Leipzig eine Tagung über Karl May besucht.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Isa Genzken im Schinkel Pavillon in Berlin, Christof Loys Inszenierung von Leos Janaceks "Jenufa" an der Deutschen Oper in Berlin, eine Ausstellung mit Fotografien von Mark Morrisroe in der Villa Stuck in München, eine Ausstellung über Theodor W. Adornos Auftritte in der Berliner Akademie der Künste ebenda, Jaroslav Rudis Graphic Novel "Alois Nebel" und eine historische Abhandlung des Piratentums von Jann M. Witt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).