Heute in den Feuilletons

Herstellung und Vertrieb von ästhetischen Erlebnissen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2012. Die FAZ fordert mehr Subvention für Buchläden, die Lesungen veranstalten, und auch für das übrige Kulturleben. Dafür aber weniger "Ich" in der Bekenntnisliteratur. Die Zeit fragt, wann die Inhalteindustrie in den Besitz der Plattformindustrie übergeht. Die Welt ist geblendet von Bonnard. Die Jungle World ist abgetörnt von der Gegenwartsproduktion in Pop, Film und Fernsehen: alles retro. Aber in der Berliner Zeitung hält der ungarische Regisseur Bela Tarr einen Trost bereit: Nichts baut mehr auf als ein intensiver Blick auf unseren Verfall. 

Welt, 15.03.2012

Hans-Joachim Müller geht durch die Bonnard-Ausstellung in der Fondation Beyeler und kann sich der lichtdurchfluteten Heiterkeit seiner Gemälde nicht entziehen: "Es umgibt diese Malerei eine wunderbare Aura der Enthobenheit. Ob Bonnard auf die Straße blickt, ob er die Familie um den Tisch versammelt, seiner Marthe in der Badewanne zusieht oder von der Terrasse aus den blühenden, nie anders als sonnenbeschienenen Garten betritt - es ist allemal entrückte Diesseitigkeit, wovon seine Bilder mit stiller Intensität schwärmen. Und immer umhüllt die Malgegenstände der gleiche honigweiche, warme Klang..."

Weitere Artikel: Thomas Kielinger findet den "Übertritt zu Online" der Encyclopedia Britannica richtig und logisch. Anke Sterneborg porträtiert den Schauspieler Mark Wahlberg, dessen Film "Contraband" in die Kinos kommt. Besprochen werden zwei Janacek- und Schönberg-Einakter des neuen Leitungsteams an der Stuttgarter Oper und Filme, darunter die Komödie "Best Exotic Marigold Hotel" (mehr hier).

NZZ, 15.03.2012

Marion Löhndorf bespricht die von Saudi-Arabien finanzierte Ausstellung zur Hadsch im British Museum. Akiko Lachenmann berichtet über die Probleme, die für Afroamerikaner daraus erwachsen, sich offen zum Unglauben zu bekennen. Josef Nagel war in der Chaplin-Ausstellung im Filmmuseum Frankfurt.

Besprochen werden: Bela Tarrs Film "Das Turiner Pferd" und Bücher, darunter Javier Marias' Roman "Die sterblich Verliebten" und Karl-Otto Apels "Paradigmen der ersten Philosophie" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Freitag, 15.03.2012

Für Axel Brüggemann sind Kulturmanager, wie die vier, die gerade die Polemik "Der Kulturinfarkt" auf den Markt geworfen haben, eher das Problem als Teil der Lösung. "Immer öfter werden Menschen wie die Autoren des neuen Buches berufen, weil sie den Bürgermeistern versprechen, mehr Kultur für weniger Geld anbieten zu können. Hans Joachim Frey wurde so Intendant des Bremer Theaters, löste einen Großteil des Ensembles auf, holte wackelige Sponsoren und spielte mit Musical-Aufführungen Millionen-Defizite ein. Jetzt ist er weg, und das Theater steht ohne Rückhalt in der Bevölkerung vor neuen Sparmaßnahmen. Ähnlich ging es Bühnen, Orchestern und Museen in Ostdeutschland, die totgespart und dann in aller Stille fusioniert oder ab­geschafft wurden. Wie steht es um die Theater in Gera, in Oldenburg und Nürnberg? Zählt die Hotelauslastung oder die moralische Debatte?"

Weitere Medien, 15.03.2012

"Verniedlichung der Schoa" wirft Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen der Berliner Filiale des Wachsfigurenkabinetts Madame Tussaud vor, die ganz stolz Anne Frank als neuestes Exponat präsentierte: "Aus der fabrikmäßigen Vernichtung der europäischen Juden ist ein Stück Popkultur geworden, allen pseudopädagogischen Vorwänden der Vermarkter zum Trotz. Oder glaubt irgendwer ernsthaft, dass deutsche Jugendliche, von denen laut einer kürzlich erhobenen Umfrage 20 Prozent nicht wissen, was Auschwitz war, nach der Besichtigung der Wachsfigur ein historisches Aha-Erlebnis haben werden?"
Stichwörter: Auschwitz, Frank, Anne, Popkultur

Jungle World, 15.03.2012

Popmusik oder Kino haben keinen Sinn mehr - da gibt's nur noch Retro von Amy Winehouse bis zum Film "The Artist". Hilft das Fernsehen weiter?, fragt Markus Ströhlein und landet auf ZDF-Kultur, "wo seit kurzem die Talkshow 'Roche?&?Böhmermann' läuft. Die beiden Gastgeber wollen eine Sendung 'ganz im Stil des frühen Fernsehens' präsentieren, welche 'die legendären Gesprächsrunden der siebziger Jahre' zum Vorbild hat. Und so stehen denn auch 'überdimensionierte Mikrophone im Retrostil' und 'demonstrativ platzierte Aschenbecher' auf den Tischen im Studio."

Als Schriftsteller kann man kaum noch von seiner Arbeit leben, schreibt die Autorin Tanja Dückers. Einer der Gründe: "Die Zahl der in Deutschland stattfindenden Lesungen hat sich .. innerhalb von zehn Jahren von 30.000 auf 10.000 verringert. Viele Buchhandlungen und Literaturcafés haben Lesereihen mit monatlichen Terminen abgesetzt und bieten sie nur noch vierteljährlich an. Fast jeder Autor, den ich kenne, sagt, er habe weniger Lesungsanfragen als früher."

TAZ, 15.03.2012

Doris Akrap unterhält sich mit Robert Koall, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden und Freund des krebskranken Autors Wolfgang Herrndorf, dessen Roman "Sand" wie sein Vorgänger "Tschick" auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse steht: "Dass ohne Marketing ein Bestseller wie 'Tschick' rauskommt, ist der Beweis, dass es auch ohne die Maschine funktionieren kann. Der Verlag beschwert sich da sicher nicht. Herrndorf würde sich, glaube ich, auch wenn er gesund wäre, 100-mal überlegen, ob er zur Buchmesse oder zu solchen Terminen geht. Diese Haltung hat nicht nur damit zu tun, dass es ihm gesundheitlich nicht gut geht, sondern dass es ihm mit solchen Terminen nicht gut geht. Und dass er das, was er zu sagen hat, in seinen Blog und seine Bücher schreibt."

Weiteres: Cristina Nord spricht mit dem französischen Regisseur Robert Guediguian über seinen Film "Der Schnee am Kilimandscharo", in dem es um die Zersplitterung und das gegenseitige Bekämpfen der Werftarbeiter von Marseille geht; hier die Besprechung des Films. Dirk Knipphals befasst sich mit "Effizienzoptimierung" im deutschen Literaturbetrieb: bei den heute gleichzeitig beginnenden Großveranstaltungen Leipziger Buchmesse und Lit.Cologne ist äußerst ökonomisch alles vertreten, was derzeit Rang und Namen hat. Barbara Behrendt berichtet über den Wettbewerb "In Zukunft" in Nordrhein-Westfalen, mit dem Theaterautoren mit Migrationshintergrund gefördert werden sollen.

Besprochen wird der "durchgestylte" Gangsterfilm "Viva Riva" des kongolesischen Regisseurs Djo Tunda Wa Munga.

Zur Leipziger Buchmesse gibt es heute außerdem die Literataz.

Und Tom.

FR/Berliner, 15.03.2012

Im Interview mit Ralf Schenk erklärt der ungarische Regisseur Bela Tarr, dass er mit seinem Film über das Vergehen der Welt "Turiner Pferd" keinesfalls deprimieren will, sondern eher aufbauen, Kraft geben: "Der Film erzählt eine Anti-Schöpfungsgeschichte. Wir wissen zwar, wie diese schreckliche Welt entstand, aber wir wissen nicht, wie sie enden wird. Tag für Tag sind wir in unserer Routine gefangen, tun immer wieder dieselben Dinge. Aber tagtäglich werden wir auch kraftloser und schließlich, langsam, ist das Leben aus uns entschwunden. Das wollten wir mit unserem Film bewusst machen: Tag für Tag verlieren wir etwas von dem, was das Leben bedeutet. Ein Kutscher, der sein Pferd einbüßt, verliert seine Arbeit, seine Überlebenskraft, sein Universum. Wir dürfen nicht verdrängen, dass es das Ende gibt, wir müssen damit rechnen und es akzeptieren."

Arno Widmann berichtet von der Frankfurter Ausstellung "Axel Springer und die Juden", die zeige, dass Springer zugleich für die von ihm so genannte Aussöhnung streiten konnte und eine Reihe von Altnazis auf höchsten Posten beschäftigen konnte. "Diese Aussöhnung schließt doch sehr viel Verschweigen ein."

Sabine Vogel freut sich über den Kurt-Wolff-Preis für den Heidelberger Wunderhorn Verlag. Besprochen werden unter anderem Robert Guédiguians Film "Schnee am Kilimandscharo" und Guy Delisles Comic "Aufzeichnungen aus Jerusalem" (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Zeit, 15.03.2012

"Wann verkauft die Filmindustrie ihre Filme und Serien online zu angemessenen Preisen? Wann endlich werden die Verwertungsgesellschaften flexibler?", fragen Maximilian Probst und Kilian Trotier in der Debatte um Urheber- und Verwerterrechte und warnen davor, die Zeichen der Zeit zu verschlafen: "Wenn sich niemand in der Kreativwirtschaft bewegt, werden die großen Internet-Player als Monopolisten den Markt übernehmen. Sie werden nicht nur die Preise bestimmen, sondern den gesamten Kulturprozess von der Entstehung bis zum Verkauf an sich reißen."

Der Autor Eugen Ruge war zur Buchmesse auf Kuba und muss trotz privilegierten Empfangs feststellen, dass auf der Insel der Seligen alles nur Grundversorgung ist. Doch: "Wo ist das neue Leben? Wo ist das Glück?"

Weitere Artikel: Adam Soboczynski möchte statt Quotendebatten lieber wieder den Hauptwiderspruch ins Visier genommen wissen: "Die Beschwörung des Geschlechts lenkt nur ab vom Unbehagen an den Produktionsverhältnissen." (Hoffentlich gibt's dafür keine Gratifikation von der Chefredaktion!) Maximilian Probst trifft in Straßburg den Philosophen Jean-Luc Nancy, der nicht mehr glaubt, dass die Idee Europa noch gelingen wird, schon deshalb nicht, "weil sie so sehr gewünscht und gewollt wird". Ijoma Mangold interviewt den Suhrkamp-Gesellschafter Hans Barlach zu seinen Prozessen gegen Verlegerwitwe Ulla Unseld-Berkewicz, bei denen es auch um die Kosten für ihre Berliner Villa geht. In einem anderen Text porträtiert Mangold die Leiterin der Bundeskulturstiftung Hortensia Völckers. Maximilian Probst sinniert über Barack Obamas Vorbilder. Gero von Randow sieht fünfzig Jahre nach dem Ende des Algerienkrieges keine Anzeichen von Reue in Frankreich. (Ein sehr sehenswerter Film von Jean-Michel Meurice und Benjamin Stora lief dazu auf arte).

Besprochen werden Bela Tarrs Film vom Vergehen der Welt "Das Turiner Pferd" und die "Faust"-Fragmente im Zürcher Schauspielhaus.

Außerdem erscheint zur Leipziger Buchmesse heute die Literaturbeilage.

FAZ, 15.03.2012

Sehr grundsätzlich ist die heutige erste Seite des Feuilletons geraten: In Bausch und Bogen verdammt Niklas Maak das Plädoyer der Autoren von "Der Kulturinfarkt" für eine rein wirtschaftlichen Maßgaben folgende Kunstproduktion: Was sie fordern, sei "'Herstellung und Vertrieb von ästhetischen Erlebnissen in Warenform mit dem Willen zum Erfolg'... In einem Land, in dem solche Sätze geschrieben werden, kann es gar nicht genug Subventionen für Theater und Literaturfestivals geben." Und Edo Reents ist äußerst ungehalten über neuere Bekenntnisbücher von Carolin Emcke (hier) und Ralf Bönt (hier) und ihre ungenierte Art, "Ich" zu sagen: "Um einen vielleicht zu strengen Maßstab zu formulieren: Autoren sollten entweder Außerordentliches erlebt haben, das nur ihnen zugänglich ist, oder vorher schon als Künstler in Erscheinung getreten sein, so dass irgendwann auch ihre persönlichen Belange interessant werden, wobei eine Prise Selbstironie nicht schaden könnte."

Die lit.Cologne startet zeitgleich mit der Leipziger Buchmesse, Anlass für Wiebke Porombka über die "Verfestivalisierung der Lesungskultur" nachzudenken, unter der auch die Autoren leiden, weil die Festivals häufig keine Honorare mehr für Lesungen zahlen. Porombka schlägt unter anderem eine Autorenhonorarförderung für Buchläden vor: "So wäre eine Lesungskultur jenseits der Festivals gewährleistet, ohne dass Autoren zu Dumpingpreisen gehandelt werden müssten."

Weitere Artikel: Hans-Jörg Rother berichtet von Protesten ungarischer Filmregisseure gegen das ungarische Filmförderungssystem. Wiebke Hüster erlebte beim ersten Auftritt des New York City Ballets in Deutschland nach 32 Jahren ein "wundervolles Programm". Stefan Grissemann unterhält sich mit Regisseur William Friedkin, der derzeit im Theater an der Wien Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" inszeniert. Wolfgang Schneider unternimmt mit der Jubiläumsausgabe von Cans Krautrock-Klassiker "Tago Mago" eine Zeitreise in die "Jahre um 1970, die eine wunderbare Phase der Verflüssigung vormals fester Grenzen waren" - dazu ein hübsch verkiffter Auftritt der Band im deutschen Fernsehen:



Besprochen werden Béla Tarrs von Andreas Kilb in höchsten Tönen gelobter Film "Das Turiner Pferd", Luca Ronconis offenbar recht unterwältigende Inszenierung von Brechts "Heiliger Johanna" im Piccolo Teatro in Mailand, das Kölner Konzert der Tindersticks und Bücher, darunter Louis Paul Boons Roman "Menuett" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 15.03.2012

Johan Schloemann porträtiert den Medienwissenschaftler Matthew G. Kirschenbaum, der bei seinen medienhistorischen Forschungen über das Verhältnis zwischen Literatur und Textverarbeitung der Frage nachgeht, wie "die Literatur in den Computer kam": Dabei gehe es darum, "das Projekt der 'Aufschreibesysteme' weiterzuführen, das der im letzten Herbst verstorbene deutsche Medienhistoriker Friedrich Kittler maßgeblich angestoßen hat. Es ist, nach der Beschreibung des Übergangs von der Handschrift zur Schreibmaschine, Zeit für eine möglichst gültige Synthese des digitalen Medienwandels der jüngsten Epoche, vor allem mit Blick auf die Entwicklung des literarischen Schreibens."

Weitere Artikel: Das erste in geschlechtsneutraler Sprache geschriebene, schwedische Kinderbuch lässt Thomas Steinfeld, der sich sicher ist, dass solche Vorhaben nur in Schweden von Erfolg sein können, in die Geschichte schwedischer Sprachreformen blicken. Reinhard Brembeck blickt ins Programm der kommenden Spielzeit der Bayerischen Staatsoper, die zugleich die letzte von Kent Nagano am Hause sein wird. Christine Dössel würdigt den Dokumentarfilmer Dieter Wieland, dem das Filmmuseum München zum 75. Geburtstag eine Filmreihe widmet. Willy Hochkeppel gratuliert dem Philosoph Karl-Otto Apel zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Filmkomödie "The Best Exotic Marigold Hotel", das französische Arthouse-Drama "Der Schnee am Kilimandscharo", die Filmkomödie "Kaddisch für einen Freund", Antú Romero Nunes' Inszenierung von Fritz Katers "Zeit zu lieben Zeit zu sterben" am Maxim Gorki Theater in Berlin, eine Ausstellung mit Bildern von Pierre Bonnard in der Fondation Beyeler in Basel, sowie Patrick Modianos Roman "Im Café der verlorenen Jugend" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).