Heute in den Feuilletons

Ein paar Risse in diesen Beton

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2012. Hat das aktuelle Theater überhaupt einen Begriff von Macht?, fragt Dirk Baecker im Tagesspiegel. Die FAZ ist sehr zufrieden mit Joachim Gaucks erster präsidentialer Rede. In der SZ mag der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer den Pessimismus über die Zukunft der Literatur im digitalen Zeitalter nicht teilen. Es ist irgendwie typisch, dass Christian Wulff gekippt wurde, Gerhard Schröder aber nicht, meint Christoph Spielberger auf Achgut. Die Welt ist weniger für Abbau als für Umverteilung von Kultursubventionen.

Tagesspiegel, 19.03.2012

Im Interview mit Peter Laudenbach hält der Soziologe und Kulturanalytiker Dirk Baecker ein Theater, das sich an den Mächtigen und Herrschenden abarbeitet, nicht für subversiv, sondern naiv. Interessanter fände er Fragen, "was eigentlich welche Leute mit welchen Ressourcen von Macht machen. Wann kann man davon zu viel haben, und wann kann man davon auch zu wenig haben - beispielsweise in der Relation zwischen Wirtschaft und Staat. Die Art von politischem Theater, die Sie beschreiben, ist Unterhaltung für Leute, die sich im Theater darüber beruhigen wollen, dass sie in ihrem Job nichts unternehmen gegen Verhältnisse, die für sie selbst durchaus komfortabel sind."

Weitere Medien, 19.03.2012

In der Sendereihe "radioTexte" des Bayerischen Rundfunks lesen Preisträger und Autoren aus der Shortlist der Leipziger Buchmesse aus ihren aktuellen Werken, darunter Wolfgang Herrndorf (wegen seiner Erkrankung vertreten durch Thorsten Krohn), Anna Katharina Hahn, Thomas von Steinaecker und andere. Hier der MP3-Direktlink aus dem Podcast der Reihe.

(Via Hemartin) Das Pew Research Center bringt seinen jährlichen Bericht über den "State of the Media" heraus, versehen mit vielen Statistiken. Eine der Haupttendenzen des letzten Jahres wird im Editorial benannt: "In the last year a small number of technology giants began rapidly moving to consolidate their power by becoming makers of 'everything' in our digital lives. Google, Amazon, Facebook, Apple and a few others are maneuvering to make the hardware people use, the operating systems that run those devices, the browsers on which people navigate, the e-mail services on which they communicate, the social networks on which they share and the web platforms on which they shop and play."

Welt, 19.03.2012

Matthias Heine findet den Vorschlag des Kultursubventionsabbaus in einem Buch von vier Kulturmanagern trotz vieler Eitelkeiten und Widersprüche nicht durchweg absurd. Aber nach einer Analyse der Lage in Provinzstädten, die ihre Kulturinstitutionen dringender brauchen als die Metropolen, hat er doch ein paar eigene Umverteilungsvorschläge, die er neben die der Manager stellt: "Warum nicht ein auskömmlich versorgtes Theater der Spitzenklasse in Jena oder Saarbrücken etablieren? Warum nicht einen Geisterstadtkulturfonds statt eines Hauptstadtkulturfonds, der Berlin noch mehr Events beschert? Dem steht neben dem Föderalismus immer noch eine Übermacht an zementiertem Traditionsdenken gegenüber. Vielleicht braucht es einen so groben Klotz wie 'Der Kulturinfarkt', um ein paar Risse in diesen Beton zu schlagen."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings stellt nach einem Streifzug über die Leipziger Buchmesse fest, das die Zeiten wohl härter werden. Sascha Lehnartz verfolgte ein Gespräch zwischen dem französischen Präsidentschaftskandidaten Francois Hollande und Peter Sloterdijk.

Besprochen werden Franz-Xaver Kroetz' Pädophilen-Drama "Du hast gewackelt" am Münchner Cuvilliéstheater und der heute Abend im ZDF laufende Fernsehfilm "München 72" über das Attentat gegen die israelische Olympiamannschaft.

Aus den Blogs, 19.03.2012

Christian Wulff wurde gekippt, und die deutsche Presse ist darauf sehr stolz. Gerhard Schröder, der viel schlimmeres angestellt hat und Diktatoren liebt, wird bis heute gepriesen und respektiert. Was sagt das über die deutsche Befindlichkeit aus?, fragt Christoph Spielberger in einem sehr lesenswerten Essay auf Achgut: "Christian Wulff wird mit seinem lächerlichen Billigkredit für sein popeliges Haus zum Skandal, weil die Deutschen es schlecht ertragen, dass sie selbst so sind wie er: um Rechtschaffenheit bemüht, dem privaten Vorteil nicht abgeneigt, dabei recht kleinlich und blass. Seine Fehltritte erscheinen eher gering, es ist die Person, die stört. Hätte die Presse dieselben Maßstäbe angelegt, hätte Schröder gar nicht ins Amt kommen dürfen. Die Verwicklungen zu Maschmeyer waren viel enger, viel teurer, viel weitreichender. Schröder ist kein Skandal, weil die Deutschen hier ihr ersehntes Ego schauen."

TAZ, 19.03.2012

Dirk Knipphals besuchte zum Ende der Leipziger Buchmesse die neue Dauerausstellung in der Nationalbibliothek, die 1000 Jahre Mediengeschichte umfasst, und kann dies auch jedem anderen Journalisten empfehlen: "Wer etwa den Kupferstich eines historischen Bänkelsängers sieht, der bis ins 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten und Messen Druckerzeugnisse verkaufte und seine Botschaft in einem Liedvortrag zusammenfasste, schaut auf das, was manchmal heute unter 'Debatte' läuft, etwas cooler: Was früher sittliche Moritaten waren, sind heute halt zum Beispiel die Erfahrungsberichte über Burn-outs."

Besprochen werden die Ausstellung "München 72 - Trainingsplatz einer Demokratie" im Münchner Bayer-Forum, Nicolas Stemanns Theaterrevue "Der demografische Faktor" am Kölner Schauspielhaus und Mark Z. Danielewskis neues Avantgarde-Epos "Only Revolutions" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR/Berliner, 19.03.2012

Markus Schneider stellt das nächste große Ding im Retro-Soul vor: den Briten Michael Kiwanuka. Dessen Album "'Home Again' lebt von einer Aura des Luxus - verstanden als Sehnsucht nach handgemachten Rasierpinseln und Kupferbadewannen, nach analoger Vergänglichkeit und Ruhe in turbulenten Zeiten: Platte rausholen, abstauben, Nadel aufsetzen, zurücklehnen."

Hier eine wirklich sehr retromäßige Hörprobe:



Außerdem online, mit dem Datum vom 15.3., ein Gespräch zwischen den Verlegern Peter Haag, Michael Krüger und Jo Lendle über die Zukunft der Literatur und digitale Bibliotheken: "Noch einmal: Eine richtige Bücherwand wie die hier hinter uns, das macht was her, aber doch kein voller Ordner in einem E-Book-Reader."

NZZ, 19.03.2012

Menschen, die in Hongkong geboren wurden, genießen viele Privilegien gegenüber den chinesischen "Festländern", erklärt Ole Döring: keine Begrenzung der Geburtenzahl, bessere Krankenversorgung, bessere Bildung. Das habe dazu geführt, dass zahlungskräftige Familien aus der Volksrepublik nach Hongkong kommen, um dort ihre Kinder zur Welt zu bringen, was wiederum für Unmut in Hongkong sorgt: "Von Solidarität, wie angesichts des Leides armer Flüchtlinge durchaus gefordert, ist gegenüber den pragmatischen Neureichen wenig zu hören. Sie gelten als unkultiviert und rücksichtslos, nehmen hemmungslos, ohne irgendeine Gegenleistung zu erbringen. In der multikulturellen Gesellschaft Hongkongs, die von den Prinzipien common sense und fairness zusammengehalten wird, wächst die moralische Empörung. Sie schlägt in Wut gegen die 'Schwarzfahrer' als Repräsentanten einer vermeintlichen 'chinesischen Kultur' um."

Weiteres: Friedrich Schmidt gibt einen Ausblick, wie das "Maison de L'Ecriture" aussehen wird, das die Stiftung "Jan Michalski" bei Montricher errichten lässt. Joachim Güntner berichtet von der Leipziger Buchmesse. Besprochen wird Anna Viebrocks Theaterstück "Das Mansion am Südpol" in Basel.

SZ, 19.03.2012

Endlich mal einer, der im Internet nicht um sein Gehirn fürchtet! Der Literaturwissenschafter Gerhard Lauer erteilt jedenfalls sämtlichen kulturpessimistischen Prognosen auf dem weiten Feld der Literatur im digitalen Zeitalter eine Absage und feiert die Möglichkeiten von Netz und eBook-Readern: Demnach verlernen wir das Lesen nicht, sondern lesen sogar mehr, wir werden dabei überdies intelligenter und die Kommunikation mit einem Buch wird reichhaltiger. Was für Lauer zählt, ist "die Erkenntnis, dass das Lesen in digitalen Zeiten noch viele Möglichkeiten hat, und dass dafür keine Utopie zu bemühen, sondern die lange Dauer der Modernisierung in den Blick zu nehmen ist. ... Gut möglich, dass uns demnächst diese Bücher und Gespräche in der digitalen Cloud überallhin begleiten werden, dass wir mit Blicken Bücher umblättern und Avatare aus ihnen mit uns reden werden."

Weitere Artikel: Till Briegleb besucht ein Theaterfestival in Burma, wo Künstler und Studenten nach der Zensurlockerung im Land unter anderem auch neugierig über Christoph Schlingensief diskutierten. Eine begeisterte Annett Scheffel hört vorab in das Ende April in Europa erscheinende Album des in den USA bereits gehypten Pop-Projekts Poliça, das einen glauben lässt, dass sich "die Popmusik wieder einmal selbst überrundet" (hier ein aktueller Konzertmitschnitt). Willi Winkler erinnert an den V-Mann Peter Urbach, der als agent provocateur an der Mitgründung der RAF beteiligt war und bereits im vergangenen Mai gestorben sein soll. Lothar Müller übermittelt Notizen von der Leipziger Buchmesse. Die Psychoanalyse befindet sich in Frankreich zunehmend in der Defensive, berichtet Joseph Hanimann, der die dort laufenden Debatten zusammenfasst. Für Stefan Kornelius verdeutlichten sich beim Besuch der traditionellen Königswinter-Konferenz in Oxford einmal mehr die Differenzen zwischen Großbritannien und Deutschland in ihrer Einstellung zu Europa.

Besprochen werden Kurzopern von Schönberg und Janacek an der Oper Stuttgart, die erstmalige Aufführung von Franz Xaver Kroetz' bereits 2004 geschriebenem Stück "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind" am Münchner Residenztheater, dessen Schilderung des Mordfalls Pascal Egbert Tholl an die Grenze seiner Belastbarkeit stoßen lässt, und Elias Wagners Roman "Vom Liebesleben der Mondvögel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.03.2012

"Was für ein schöner Sonntag", ruft Regina Mönch mit Joachim Gauck und ist sehr zufrieden mit dessen erster kurzer Intervention: "Es war eine Präsidentenrede, wie wir sie nicht mehr gewohnt sind. Sie erinnerte uns daran, dass man nicht als Bürger geboren wird, sondern einer werden muss, und durchaus auch: Dass es eine lohnende Anstrengung kostet, Bürger zu sein."

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über den vorzeitigen Rücktritt des Bischofs von Canterbury, Rowan Williams, der nicht mal in Großbritannien mehr eine Seite-1-Meldung ist. Lena Bopp schildert die freundliche Atmosphäre auf der Leipziger Buchmesse. Kerstin Holm meldet kurz, dass regimenahe Sender in Russland hämische Pseudodokumentationen über die Protestbewegung bringen. Patrick Bahners schreibt aus New York zum Tod des amerikanischen Historikers Peter Novick.

Besprochen werden Franz Xaver Kroetz' neues Stück "Du hat gewackelt" im Münchner Cuvilliéstheater, eine Renoir-Ausstellung in der New Yorker Frick Collection, die Ausstellung "Animismus" im Berliner Haus der Kulturen der Welt und Frank Hilbrichs Inszenierung von Aubers Oper "Das bronzene Pferd" an der Komischen Oper Berlin und Bücher, darunter Samar Yazbeks Bericht aus dem Innern der syrischen Aufstände, "Schrei nach Freiheit" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der FAZ am Sonntag hatte Volker Rieble nichts gegen eine von "Friedensrichtern" ausgeübte Paralleljustiz nach Prinzipien der Scharia einzuwenden: "Dass der Wahrheits- und Sanktionsanspruch des Staates beschränkt ist, grenzt unsere Gesellschaft vom totalitären Regime ab. Parallelgesellschaften mit eigenen Konfliktlösungsmodellen nach eigenen Wertvorstellungen müssen wir gerade dann ertragen, wenn diese uns nicht gefallen." (Sollen die Muslime in ihrer Blase leben, solange sie Herrn Rieble nicht belästigen!)