Heute in den Feuilletons

Das mit dem Schweigen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2012. Wird Deutschland sich je von Grass' lyrischem Erstschlag gegen Israel erholen? Das Entsetzen ist jedenfalls ziemlich einhellig von taz über FAZ bis FR. Grass mogelt sich in die Rolle eines Opfers und Verfolgten, analysiert die FAZ. Da steigen die "Prägungen der Jugend" wieder an die Oberfläche, meint die Welt. Grass ist unaufrichtig, meint Micha Brumlik in der taz. In den Blogs kursieren Gegengedichte. Und in der SZ versichert man: "Veröffentlichen heißt ja nicht zustimmen."

TAZ, 05.04.2012

Unter der Überschrift "Der an seiner Schuld würgt" unterzieht Micha Brumlik Günter Grass' für Furor sorgendes Gedicht "Was gesagt werden muss" einer heftigen Kritik und schließt: "Man könnte also sagen: Der Grass von 2012 ist schlimmer als ein Antisemit, da er mit sich, seiner und der deutschen Geschichte in einer Weise unaufrichtig umgeht, die nicht nur traurig stimmt, sondern auch politisch verhängnisvoll ist."

Besprochen werden eine Retrospektive des New Yorker Fotografen Saul Leiter in den Hamburger Deichtorhallen, Klaus Lemkes "Beziehungskistenfilm vor touristischer Berlin-Kulisse" "Berlin für Helden", die ziemlich "irre" geratene Mondnazi-Komödie "Iron Sky" des finnischen Regisseurs Timo Vuorensola, die zu 10 Prozent von Fans übers Internet finanziert wurde, Tarsem Singhs üppig ausgestattete, aber in ihrer Aktualisierungsidee letztlich "schale" Märchenverfilmung "Spieglein Spieglein - Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen", die DVD von Bruno Dumonts letztlich ratlos lassenden Film "Twentynine Palms" und Jörg Brüggemanns Bildband "Metalheads", für den er Metalfans in der ganzen Welt fotografiert hat.

Und Tom.

Spiegel Online, 05.04.2012

Der israelische Historiker Tom Segev wirft Grass im Interview mit Sebastian Hammelehle vor, dass er "Israel und Iran auf eine Stufe (stellt). Der Unterschied ist, dass Israel im Gegensatz zu Iran noch niemals erklärt hat, dass es irgendein Land von der Weltkarte streichen will, während Iran Tag und Nacht verspricht, dass man Israel aus der Welt schaffen will. Was soll das mit der Auslöschung des iranischen Volkes?"
Stichwörter: Iran, Israel, Segev, Tom, Weltkarten

Tagesspiegel, 05.04.2012

Ja doch, Grass' gestrige Lyrikbombe hat durchaus ihre antisemtische Seite, meint Malte Lehming: "Grass kennt sein Land, er kennt die Menschen, kennt ihre Gefühle und Ressentiments. Er weiß, dass eine Mehrheit der Deutschen in Israel eine Gefahr für den Weltfrieden sieht. Er weiß, dass man hierzulande, wenn's um Juden geht, die Fakten auf den Kopf stellen muss, um tosenden Beifall zu erheischen. Also nicht sagen, wie es faktisch ist: Der Iran droht Israel mit atomarer Auslöschung, sondern, wie es dem Unterbewusstsein besser passt: Israel droht mit Auslöschung des iranischen Volkes."
Stichwörter: Iran, Israel

Weitere Medien, 05.04.2012

Michael Wuliger schreibt in der Jüdischen Allgemeinen: "Grass greift zurück auf einen alten antisemitischen Topos, den er vielleicht noch aus seiner Jugend in der Waffen-SS im Kopf hat: den von den Juden, die aus eigensüchtigen Motiven die friedliebenden Völker der Welt in Kriege stürzen."

Aus den Blogs, 05.04.2012

Ein Tweet von Sascha Lobo: "Das mit dem Schweigen hat Günter Grass zum Thema Waffen-SS irgendwie besser hinbekommen." Und einer von Bov Bjerg: "#Grass - better smoked than read". Mario Sixtus erwägt unterdessen "künftig mehr Zeilenumbrüche in seine Texte zu hacken und sie dann Gedichte zu nennen." Derweil schaut Peter Glaser auf Facebook Fernsehen: "Da Hamas: n-TV Laufband - 'Grass greift Israel an'".

Richard Wagner schreibt in der Achse des Guten: "Israel als den Hauptstörfaktor in Sachen arabischer Normalisierung darzustellen, bedeutet letzten Endes, auch in der Grass-Formel von der internationalen Kontrolle der israelischen Bombe, de facto, seine Entwaffnung. Seine Entwaffnung aber wäre die Aberkennung des Rechts auf Selbstverteidigung, und damit die Aberkennung des Existenzrechts Israels."

Der Diplomat Emmanuel Nahshon teilt zur Causa Grass mit: "Was gesagt werden muss ist, dass es zur europäischen Tradition gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen. ... Wir sind nicht bereit, die Rolle zu übernehmen, die Günter Grass uns bei der Vergangenheitsbewältigung des deutschen Volkes zuweist."

Auch Gegengedichte gibt es schon: Jan Tölva (Blog) dichtet auf Facebook, in Lizas Welt finden wir eins von Boris Yellnikoff:

"Mit letzter Tinte ächzt der Alte
in ungereimter Poesie:
Dass die sich nicht mehr schlachten lassen,
verzeihe ich den Juden nie. ..."

Henryk Broder hat im Interview mit Michael Weiser in Kulturvollzug eigentlich Mitleid mit Grass: "Ich würde ihm sagen, dass es nie zu spät ist, sich in therapeutische Behandlung zu geben. Er hat einen richtigen Judenknacks, er hat ein Trauma aus der Nazizeit. Das hat er nicht behandelt, er hat es auch durch seine literarische Arbeit nicht aus der Welt geschafft, und er leidet darunter, was die Deutschen den Juden angetan haben. Das spricht für ihn. Doch dieses Leiden führt nicht zur Selbsterkenntnis, es führt nur dazu, dass er gerne den Gegenstand seines Leidens aus der Welt schaffen möchte."

Hingewiesen sei noch mal auf den (gerade von slate.fr übersetzten) Text Ron Rosenbaums aus Slate, der die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs zwischen Iran und Israel und des Einsatzes von Atomwaffen durchspielt. Rosenbaum steht dabei nicht auf der Seite der "Solutionisten", die glauben, dass der Iran vernünftiger Weise auf den Gebrauch von Atomwaffen verzichten würde: "Solutionists who believe in Cold War-style nuclear deterrence in the Middle East neglect the differences. Deterrence worked during the Cold War when there was a bipolar standoff between just two nuclear powers, both of whom were comparatively rational (or interested in self-preservation at least). Many neglect to take into account the third nuclear power in the region: Pakistan. Its estimated 90 nuclear warheads are either one coup away from Taliban control or up on sale in the 'nuclear bazaar' that many believe Pakistan's bomb maker A.Q. Khan never stopped operating despite his 'detention'."

Die ehemalige Justiziministerin der SPD, Brigitte Zypries bezweifelt im Interview mit Vera Linß in irights.info, dass in dieser Legislaturperiode noch ein Leistungsschutzrecht verabschiedet wird. Und übrigens positioniert sie sich überraschend klar: "Die SPD ist in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit der handelnden Politiker dagegen. Wir sagen, ein Leistungsschutzrecht wird sich nicht sinnvoll einbauen lassen. Es birgt einfach viel zu viele praktische Schwierigkeiten. Die Beiträge der Autoren sind nach derzeitiger Rechtslage durch das Urheberrecht geschützt."

Welt, 05.04.2012

Tilman Krause versucht zu erklären, was an Günter Grass' "Gedicht" so erschreckt: "Wer 'Was gesagt werden muss' genauer liest, der wird eine solche Fülle von Denkfiguren und Sprachformeln finden, die ihre Herkunft aus der NS-Ideologie nicht verbergen können, dass man leider sagen muss, dieses Dokument, angeblich vom Autor 'mit letzter Tinte' geschrieben (will sagen: mit ersterbender Kraft quasi als Vermächtnis verfügt), bringt es endgültig an den Tag: Hier kann sich ein Mensch von den intellektuellen Prägungen seiner Jugend offenbar nicht lösen."

Weitere Artikel: Thomas Kielinger hat Damien Hirst getroffen, dessen von Scheichs und Oligarchen gesponsorte Retrospektive in London läuft. Thomas Kielinger will nicht so recht glauben, dass es sich bei einem archäologischen Fund in Schottland tatsächlich um das älteste Musikinstrument der Welt handle. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit der Schauspielerin Michelle Yeoh, die in "The Lady" Aung San Suu Kyi spielt. Johannes Wetzel berichtet von deutsch-französischen Theaterbegegnungen am Pariser Odéon-Theater.

Auf der Forumsseite mahnt Bernard-Henri Lévy aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags der Unabhängigkeit Algeriens, dass nicht nur Franzosen, sondern auch Algerier sich den Verbrechen ihrer Länder im Algerienkrieg stellen müssen.

Clemens Wergin schreibt in seinem Blog auf Welt.de: "Grass erliegt dem Anfängerirrtum, ein Angriff Israels gegen iranische Atomanlagen müsste seinerseits mit atomaren Waffen geführt werden. Das ist natürlich Humbug und soweit man weiß nie überhaupt in Erwägung gezogen worden."

NZZ, 05.04.2012

Verdruckst und peinlich nennt Joachim Güntner Grass' Portestgedicht. Dabei lässt er sich intelligente Kritik am israelischen Kurs, etwa von David Grossman, gern gefallen: "Er hat einen Blick für die skandalöse Kälte, mit welcher die militärischen Planspiele die Opfer unter der Zivilbevölkerung Irans ignorieren. Auch weist er darauf hin, wie dumm es ist, die aufgeklärten Iraner, die ja oft Gegner des Regimes sind, zu Feinden Israels zu machen. Vielleicht kommen sie ja irgendwann ans Ruder? Grossman lieferte eine dezidierte politische Analyse. Grass schreibt ein schwammiges politisches Gedicht. Der Präzeptor Germaniae nutzt die Lyrik, um ichsüchtig und undifferenziert sein zu dürfen."

Warum sind die Argentinier eigentlich nicht froh, dass ihnen Margeret Thatcher im Falklandkrieg die Militärjunta vom Hals geschafft hat? Der Autor Martin Kohan erklärt zum dreißigsten Jahrestag des Krieges, warum die Inseln so bedeutsam für die argentinische Volksseele sind: "Verloren und besetzt, dem Vaterland entrissen, übernehmen sie eine für die 'Argentinität', also für die Art und Weise, wie wir Argentinier denken und fühlen, entscheidende Funktion: Sie bestärken uns in dem Glauben, einem beraubten, verstümmelten Land anzugehören, das durch die Verschwörung so böswilliger wie mächtiger Kräfte daran gehindert wird, zur vollen Entfaltung zu gelangen."

Marion Löhndorf schreibt zum Siebzigsten des Regisseur Peter Greenaway. Besprochen werden der Schweizer Animationsfilm "Titeuf" Alexander Demandts Biografie über "Pontius Pilatus" und John Kennedy Tooles Buch "Die Verschwörung der Idioten".

FR/Berliner, 05.04.2012

Im Interview mit Martina Doering bedauert Israels Ex-Botschafter Avi Primor zwar, dass Günter Grass offenbar sein Leben lang seine Kritik an Israel zurückgehalten hat, erklärt dann aber: "Günter Grass schätzt den Konflikt mit dem Iran falsch ein. Er versteht nicht, worum es hier geht. Israel ist der einzige Staat auf Erden, der offen mit Vernichtung bedroht wird - und zwar von der iranischen Führung."

"Ach, Grass", Sie sind doch kein Antisemit, möchte Chefredakteur Uwe Vorkötter im Leitartikel am liebsten rufen, traut sich dann aber doch nicht: "Wenn er kein Antisemit ist, warum verwendet Günter Grass ausgerechnet jenes Stereotyp, das ihm als antisemitisch geläufig sein muss: Man darf das ja eigentlich nicht sagen, aber jetzt muss es mal sein. So kennen, hören und lesen wir sie, die Rechten, Nationalen, verdrucksten Spießer, die aggressiven Glatzen. Und jetzt auch Grass."

Das Feuilleton ist dagegen schon in Osterstimmung: Der Theologe Gerd Lüdemann schreibt über Paulus. Judith von Sternburg gratuliert Bora Cosic zum Achtzigsten. Besprochen werden Luc Bessons Film über Aung San Suu Kyi "The Lady" und Timo Vuorensolas Nazi-Trash-Komödie "Iron Sky".

Zeit, 05.04.2012

Kathrin Passig spricht mit Kai Biermann von zeit.de über Freiheit im Netz: "In mancher Hinsicht bringt das Netz automatisch größere Freiheiten mit sich, zum Beispiel, weil es die anonyme Teilnahme an Diskussionen ermöglicht. Das wird gern als 'ungehemmte Teilnahme an Pöbeleien' interpretiert, aber stellen Sie sich vor, Sie interessieren sich für ungewöhnliche Sexualpraktiken oder möchten sich über Erfahrungen aus Ihrem Unternehmen austauschen, ohne Geschäftsgeheimnisse zu verletzen."

FAZ, 05.04.2012

Frank Schirrmacher schreibt zu Günter Grass' "Gedicht": "Man muss sich klarmachen, was dieser Meister der Sprache assoziativ aufruft. Es spricht ein potentiell 'Überlebender', der 'allenfalls Fußnote der Geschichte' sein wird, wenn man Israel nicht Einhalt gebietet. Im semantischen Kontext dieses Gedichts raubt er sich das Wort 'Überlebende' und damit die moralische Autorität der überlebenden Verfolgten des Dritten Reichs." Hans-Christian Rössler sammelt unterdessen Stimmen aus Israel.

Weitere Artikel: Uwe Neumahr sieht frisch aufgetauchte Durchschläge von Michael Endes bislang verschollen geglaubten Filmrezensionen aus den 50ern für den Bayerischen Rundfunk durch. Jürg Altwegg informiert über neue Debatten über Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus in deutschen und französischen Philosophiemagazinen. Patrick Bahners gratuliert Peter Greenaway zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Luc Bessons neuer Film "The Lady" über die burmesische Widerstandskämpferin Aung San Suu Kyi, neue Brahms-Aufnahmen, die Foto-Ausstellung "Der Mensch und seine Objekte" im Museum Folkwang in Essen, die Hirst-Ausstellung in der Tate Modern in London und Bücher, darunter "Chopsticks" von Jessica Anthony und Rodrigo Corral, das Jakob Biazza zufolge als erstes interaktives e-Book die "Möglichkeiten des Mediums zur eigenständigen Kunstform" ausbaue (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 05.04.2012

Thomas Steinfeld laviert im Krebsgang um den im eigenen Feuilleton veröffentlichten lyrischen Erstschlag Günter Grass' Richtung Israel herum: "Günter Grass irrt, nicht immer, aber immer wieder." Und so irre Grass eben auch hier. Vor allem aber: "Veröffentlichen heißt ja nicht zustimmen", schließlich habe man vor zwei Monaten im eigenen Blatt auch Avi Primor eine gegenteilige Sicht veröffentlichen lassen, wie Steinfeld anführt.

Weiteres: Kia Vahland befasst sich ausführlich mit Geschlechtsbildern in der Renaissance. Der in den USA beobachtbare Erfolg des e-Books lässt Michael Fischer unter Rückgriff auf einen Aufsatz von Ben Mercer nochmals die Geschichte des Taschenbuchs Revue passieren. Niklas Schenk meldet, dass bei Scharmützeln mit Islamisten in Timbuktu auch wertvolle Manuskripte bedroht sind. Henning Klüver informiert über Debatten in Italien über Marco Tullio Giordanos Film "Romanzo di una strage", der sich mit einem rechtsradikalen Bombenanschlag im Jahr 1969 auseinandersetzt. Fritz Göttler empfiehlt eine Voraufführung im Münchner Filmmuseum von Rudolf Thomes (Blog) neuem Film "Ins Blaue" (siehe hier dazu etwa auch Ekkehard Knörer), einem der letzten Filme mit dem im Januar gestorbenen Vadim Glowna. Geburtstagsglückwünsche zum je Siebzigsten gehen an die Regisseure Barry Levinson und Peter Greenaway, sowie zum je Achtzigsten an die Schriftsteller Günter Herburger und Bora ?osi?.

Twitter und klassische Massenmedien verstärken sich wechselseitig, was Agenda-Setting betrifft, schlussfolgert Niklas Hofmann im Medienteil nach Lektüre einer Studie von Jacob Groshek (@) zum Thema.

Besprochen werden kurz und bündig neue Kinofilme, darunter etwas ausführlicher die 3D-Neuauflage von "Titanic", Barbara Freys "konsequent spröde, um nicht zu sagen öde" Inszenierung von "Richard III." am Schauspielhaus Zürich, die Ausstellung "Baumeister der Revolution" im Martin-Gropius-Bau in Berlin und David Bezmozgis Roman "Die freie Welt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).