Heute in den Feuilletons

Ergreifend dosiertes Pathos

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2012. Die Feuilletons nehmen Abschied von Ivan Nagel. Die FR empfiehlt sein letztes Buch über "Gemälde und Drama", die FAZ erinnert sich vor allem an den großen Theatermann, die SZ an den großen Essayisten. Wir verlinken auf seine Autobiografie in Gesprächen bei Deutschlandradio Kultur. Die NZZ ist streng mit Amsterdams neuesten Kulturbauten mit Ausnahme des EYE Filminstituts. Die taz porträtiert den Folksänger Michael Hurley. Und Peter Glaser antwortet Grass mit einem richtigen Gedicht: "Der Blechrommel".

FR/Berliner, 11.04.2012

Arno Widmann liest für seinen Ivan-Nagel-Nachruf nochmal Nagels letztes Buch "Gemälde und Drama": "Er zeigt darin, wie sehr die Entstehung der modernen europäischen Kunst von Giotto bis Leonardo geprägt ist vom Drama. Viele Bilder sind 'Aufnahmen' von Theaterszenen. Sie halten fest, was an Festtagen vorgeführt wurde. Sie erzählen also.Wer nur das Bild sieht, kann das leicht übersehen. Er begreift es nicht als Momentaufnahme einer Handlung, die dem Bild voranging und die ihm folgen wird. Der Bezug aufs Drama ließ die Künstler, die Grenzen ihrer Kunst überschreiten. Sie bildeten nicht mehr nur ab. Sie erzählten."
Stichwörter: Giotto, Nagel, Ivan, Widmann, Arno

Weitere Medien, 11.04.2012

Noch bis übermorgen läuft in Deutschlandradio Kultur die sechsteilige Autobiografie Ivan Nagels in sechs Gesprächen, über die Gustav Seibt am Samstag in der SZ schrieb: "Die sechs Nachtstunden in der Osterwoche stellen eine Kulturgeschichte unserer Zeit vor, bereichert mit Tonbeispielen großer Musik, darunter Furtwänglers 'Kollektivpathos' aus Budapest 1944, gekontert von einem Don Giovanni Klemperers mit einer 'unsäglichen Würde und Größe des Individuums', wie Nagel es mit ergreifend dosiertem Pathos benennt." Hier lassen sich die Sendungen online hören.

Spiegel Online, 11.04.2012

Fotoblogger André Krüger erklärt im Gespräch mit Ole Reißmann, was Instagram ist: "Damit lassen sich schöne quadratische Fotos machen - und sofort herumzeigen. Instagram ist wie Twitter, nur mit Bildern. Außerdem kann man die Bilder in anderen Netzwerken wie Facebook veröffentlichen." (Und man sie auch bearbeiten. John Stewart war baff: "1 Billion Dollars? For a thing that kind of ruins your pictures?")
Stichwörter: Facebook, Instagram

Aus den Blogs, 11.04.2012

Ein Fall für die Frankfurter Anthologie! Peter Glaser setzt Günter Grass' Leitartikel ein regelrechtes Gedicht entgegen - "Der Blechrommel":

"Wer steht so spät noch unter Strom?
Es ist der Grass und das Atom
Mit letzter Tinte, leerem Platt
Mein lieber Ahmadinedschad! (...)"

Der Kauf der Foto-App Instagram durch Facebook für eine Milliarde Dollar macht viel von sich reden. Jeff Sonderman erinnert in Poynter daran, was mit zwei hoffnungsvollen Start-Ups, Beluga und Gowalla, im letzten Jahr geschah: "Facebook acquired both, rolled their talent and technology into other Facebook products, and months later shuttered the original services. Instagram, however, seems harder to eliminate, with more than 30 million loyal users and honors as Apple's iPhone App of the Year in 2011. Mark Zuckerberg wrote Tuesday, 'we're committed to building and growing Instagram independently.'"

TAZ, 11.04.2012

Kaum glauben kann Detlef Diederichsen, dass "unsere untote Tonträgerindustrie in ihrer Agonie" eine Karriere wie die der amerikanischen Folk-Legende Michael Hurley zulässt. Umso freudiger sieht er seinen Konzerten in Deutschland entgegen: "Dabei macht Hurley immer noch sehr freundliche, versponnene Folk-Songs, mit klarem Country-Anteil. Ihn als alten Hippie zu bezeichnen, ist nicht ganz abwegig. Desinteresse an Kohle und Karriere ist bei ihm keine Pose, sondern selbstverständlich. Dennoch schafft es Michael Hurley, seit fast 50 Jahren professionell Musik zu machen, Songs zu schreiben, Alben zu veröffentlichen, Konzerte zu geben. Und zwar ausschließlich wann, wo und wie er es will."

Weiteres: Esther Slevogt schreibt den Nachruf auf Ivan Nagel. Ingo Arend blickt auf die Ende April beginnende Berlin Biennale voraus. In ihrer Kolumne enthüllt Silke Burmester, wie eine Marzipankartoffel Opfer einer Medienkampagne wurde.

Und Tom.

Welt, 11.04.2012

Alan Posener sucht Gemeinsamkeiten zwischen Thilo Sarrazin und Günter Grass. Marko Martin gratuliert Klaus Harpprecht zum 85. und Deutschland zu Klaus Harpprecht: Wenigstens einer aus der Flakhelfergeneration, der "Stilist und wohlinformierter Chronist (ist) anstatt teutonisch dräuender Oberlehrer". Ulrich Weinzierl schreibt zum Tod von Ivan Nagel. Besprochen wird eine CD des britischen Retrosoulsängers Michael Kiwanuka.

NZZ, 11.04.2012

Ziemlich streng geht Roman Hollenstein mit Amsterdams modernen Kulturbauten zu Gericht, die er allesamt banal bis lächerlich findet. Das neue EYE Filminstitut aber lässt er trotz einer gewissen Exzentrik und Selbstverliebtheit als "langersehnte Architekturikone" gelten: "Von der Fährenanlegestelle hinter dem Hauptbahnhof aus gesehen, gleicht der Neubau des kurz EYE genannten Filminstituts einem riesigen weißen Frosch, der gerade aus dem IJ gehüpft ist, um den Overhoeks-Turm zu bestaunen. Die leicht gemusterte Haut der zoomorphen, je nach Blickpunkt ihr Aussehen ändernden Bauskulptur mag bei manchen Betrachtern auch Assoziationen an andere Lurche, an Echsen oder Leguane wachrufen. Die Amsterdamer allerdings erblicken in ihr gemäss einer Umfrage mehrheitlich einen Schwan."

Weiteres: Marion Löhndorf schreibt zum Tod des Theatermanns Ivan Nagel und zitiert sein Credo so: "Ein Regisseur ist so gut oder schlecht, wie sein Bild vom Menschen triftig oder dürftig, wahr oder verlogen ist." Florian Vetsch stellt den marokkanischen Schriftsteller, Maler und Jilala-Trancebruder Mohammed Mrabet vor.

Besprochen werden die Tintoretto-Ausstellung in den Scuderie del Quirinale in Rom, Siddharta Mukherjees Krebs-Geschichte "Der König aller Krankheiten", Hugo Bettauers Roman "Freudlose Gasse" und Wells Towers Erzählungen "Alles zerstört, alles verbrannt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 11.04.2012

Gerhard Stadelmaier schreibt den Nachruf auf den großen Theatermann und Autor Ivan Nagel: "Er konnte Wörter wie 'Reinheit' oder 'heiligster Name' oder 'Liebe' oder 'Lüge' betonen, als sei es jeweils um Leben oder Tod gegangen - auch wenn es allein um die 'Reinheit' des Theaters, um den 'heiligsten Namen' des Bertolt Brecht, die 'Liebe' als den Urgrund des Genies und die 'Lüge' als die Ursünde des Kriegsgeschreis ging."

Nagel verehrte Clara Haskil, die hier die Romanze aus Mozarts Klavierkonzert KV 466 spielt:



Weitere Artikel: Jürg Altwegg beobachtet die französischen Intellektuellen im Wahlkampf, den er im übrigen als "eine einzige Regression" empfindet: "Linke gegen Rechte und beide unter dem Druck ihrer Extreme." Dirk Schümer besucht das Bohuslav Martinu gewidmete Museum in seinem böhmischen Geburtsort Policka, wo der Komponist jetzt auch begraben liegt. Paul Kirchhof hält ein dringendes Plädoyer für den sozialen Status der Kinder in unserer kinderarmen Gesellschaft.

Besprochen werden Sean Durkins Psychothriller "Martha Marcy May Marlene", neue DVDs, darunter die erste Staffel der Serie "Boardwalk Empire" und Bücher, darunter Gerhard Schulz' Novalis-Biografie (mehr hier).

SZ, 11.04.2012

"Er war zuerst ein Mensch mit einem Schicksal. Er selbst hat es nüchtern in die Formel gebracht, er gehöre drei Minderheiten an: als Jude, als Homosexueller und als Fremder", schreibt Gustav Seibt im Nachruf auf Ivan Nagel. "Als Ungar aus guter Familie war er vollkommen deutschsprachig, mit einem dunklen, bedachten Timbre. Er verfügte über die Sprache, die auch Georg Lukács zu Gebote stand: ein Deutsch, das die Schlacken des praktisch-bürokratischen Gebrauchs nicht tragen musste, weil es reine Bildungssprache sein durfte, das Idiom unserer klassischen Literatur. Ivan Nagel hat es leibhaftig gesprochen. Und er hat es geschrieben. Bei ihm kann jeder Jüngere lernen, wie man einen Essay oder ein Buch anlegt, wie man die gespannte Höhe eines Gedankens durchhält."

Außerdem wurden Stimmen von Kollegen zum Tod Ivan Nagels gesammelt: Luc Bondy, Peter Stein, Jürgen Flimm, Thomas Oberender, Michael Krüger, Joachim Kaiser und Claus Peymann.

(via Achse des Guten) Einen Artikel pro Grass findet man jetzt auch online in der SZ. Im Interview gibt der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser Grass nicht nur in der Sache Recht: "Außerdem kann ich nicht sehen, wo Grass gegen die Juden vorgeht. Er kritisiert die israelische Regierung, das hat er auch im Nachhinein noch einmal deutlich gemacht. Reich-Ranicki sagt, Grass sei ein ewiger Antisemit - das ist doch Quatsch."

In der neuen Lieferung von Navid Kermanis Notizen von seiner Reise durch Pakistan besucht der Schriftsteller die Islamisten von Jamaat-e-Islami: "Ich frage Herrn Aziz nach Salman Taseer, dem ermordeten Gouverneur der Provinz Pandschab, der zum Blasphemiker erklärt wurde, weil er das Blasphemie-Gesetz abschaffen wollte. Wir haben beide Seiten zum Dialog aufgerufen, antwortet Herr Aziz, Salman Taseer und seine Ankläger."

Weitere Artikel: 2013 droht in den Niederlanden nach drastischen Budgetkürzungen ein kultureller Kahlschlag ohnegleichen, fürchtet Johan Simons, Leiter der Münchner Kammerspiele und selbst Niederländer, in seinem Beitrag zur Debatte über das "Kulturinfarkt"-Buch. Umso entsetzter ist er über die darin formulierten Thesen: "Man kann ja nicht übersehen, dass die freie Marktwirtschaft mehr und mehr lauwarmen Einheitsbrei hervorbringt." Cornelia Fiedler hat beim 9. Theaterfestival "Körber Studio Junge Regie" in Hamburg einen starken Jahrgang erlebt. Eva-Elisabeth Fischer war bei Ballettabenden in Stuttgart und Augsburg, wo für eine "nackte Jungfer" Buhs geerntet wurden.

Besprochen werden neue Pop-Alben, zwei Hamburger Ausstellungen über Ferdinand Hodler in der Kunsthalle und im Bucerius Kunstforum und Bücher, darunter ein Band von Leonard Nelson über Irrtümer in der Philosophie (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).