Heute in den Feuilletons

Der Eisberg ist das Monument dieses Misstrauens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2012. In der FAZ bekennt Fritz Stern seine Bestürzung über Günter Grass. In einem posthumen Video bespricht Christopher Hitchens die zehn Gebote. Vor hundert Jahren sank die Titanic - aber das war nur die Spitze des Eisbergs! Die NZZ bringt einen wunderbaren Text von Hans Blumenberg aus diesem Anlass. Außerdem geht Jan Koneffke dem philippinischen Autor Miguel Syjuco fast auf den Leim. Und Isolde Charim fragt in der taz: Kann es ein gutes Leben in der Apokalypse geben? (Und wird darüber heute mit Pascal Bruckner auf dem "tazlab" diskutieren.)

TAZ, 14.04.2012

Einen Themenschwerpunkt der heutigen Ausgabe stellt heute die Frage nach dem "guten Leben" dar, dem die taz heute ihr "tazlab" widmet, bei dem auch der Perlentaucher präsent ist: Pascal Bruckner wird über den "Fanatismus der Apokalypse" sprechen - so der Titel seines letzten Buchs, das eine polemische Abrechnung mit der ökologischen Ideologie ist. Auch sein Essay "Wege aus dem Schlamassel" im Perlentaucher spricht diese Themen an. Mit ihm wird Isolde Charim diskutieren, die heute in der taz über den Begriff der Apokalypse nachdenkt: "Die theologische Lektion zeigt deutlich: Ohne revolutionäre Hoffnung, ohne Glauben an Erlösung bleibt nur diese Katastrophenstimmung und das ist eine katastrophale Stimmung: eine ungute Mischung von Paranoia und Angstlust. Heute ist genau diese Situation eingetreten: Die Hoffnungserzählungen sind erschöpft. Alle Verheißungen, für die es sich 'lohnen' würde, den Preis des Untergangs in Kauf zu nehmen, sind verbraucht. Die großen Erzählungen der Freiheit und der Emanzipation haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Nach Verlust der Heilserwartungen bleiben nur Unheilserwartungen zurück."

Außerdem: Sören Sieg spricht mit dem hochaktiven Faulenzer-Aktivisten Tom Hodgkinson über die Tugend der Arbeitsverweigerung. Hannes Koch portätiert den Wirtschaftsreformer Christian Felber, der eine private Reichtumsgrenze von 10 Millionen Euro und eine Verpflichtung der Geldinstitute aufs Gemeinwohl fordert. Konrad Litschko berichtet, wie sich alternative Hausprojekte in Berlin mit Genossenschaftsgründungen langfristig der "Spekulationsspirale" entziehen. Der Soziologe Hartmut Rosa erklärt Uwe Krüger im Gespräch, warum Resonanz eines der ultimativen Kriterien für das gute Leben ist. Manuel Schumann spricht mit Uli Burchardt, der die Discounter-Mentalität der Deutschen geißelt. Jan Feddersen lässt sich von der Philosophin Birgit Recki erklären, warum Gerechtigkeit gar nichts ist, wenn es keine Freiheit gibt.

Zum großen Abschluss der Grass-Wochen dokumentiert die taz einen 2007 entstandenen, auf Deutsch bislang nicht veröffentlichten und über Grass sehr erbosten Text des irakischen Exilschriftstellers Najem Wali, der 2002 den Nobelpreisträger auf dessen Reise durch Jemen begleitete und dabei Zeuge wurde, wie Grass gegenüber einem jungen Jemeniten jegliche Verbindung zu den Nazis abstritt. Seine SS-Mitgliedschaft machte er erst 2006 öffentlich. Im beigefügten Gespräch erläutert Najem Wali seine Erinnerung an die Reise und berichtet außerdem von den Reaktionen im arabischen Raum auf Grass' Atomgedicht: "Natürlich haben die Kriegstreiber bei uns das Pamphlet begrüßt. Regimetreue Schriftsteller haben Lobeshymnen in den offiziellen Medien gesungen. Doch was mich positiv überrascht: eine Mehrheit von den jungen Menschen mit Zugang zu Online-Medien hat ganz anders reagiert. Es wimmelt tagtäglich von witzigen Kommentaren. Und viele fragen sich, ob Grass diesen Murks wirklich selber geschrieben hat."

Weiteres: Katja Schwemmers unterhält sich mit Sinéad O'Connor unter anderem über deren sprunghaft spontanes Beziehungsleben. Jan Scheper hält die beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkadaptionen von James Joyce' "Ulysses", die der RBB und der SWR dieses Jahr ausstrahlen werden, für "zwei außergewöhnliche akustische Angebote" (hier Eindrücke von den SWR-Aufnahmen). Besprochen werden Bücher, darunter Janne Tellers Roman "Komm" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 14.04.2012

Wer "Die Erleuchteten" des philippinischen Autors Miguel Syjuco liest, erzählt Jan Koneffke in seiner schönen Besprechung des Romans, wird sich spätestens auf Seite 100 dabei ertappen zu fragen, "ob sein Protagonist, der unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommene philippinische Schriftsteller Crispin Salvador, wirklich existiert hat oder nur eine Ausgeburt der Phantasie Syjucos ist. Bei der Recherche im Internet wird er auf eine englischsprachige Wikipedia-Seite stoßen, die ihm verrät, dass auch andere Leser seine Zweifel teilten und die Schriftstellerfigur, fälschlicherweise, für real hielten."

Weitere Artikel: Richard Wagner erinnert sich in der Kolumne "When the Music's Over" daran, mit welcher Hingabe er als rumäniendeutscher Junge im Banat an seinem Mittelwellenradio drehte, um die Beatles zu hören. Felix Philipp Ingold erinnert an den Dichter Edmond Jabès, der vor hundert Jahren geboren wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Turner, Monet, Twombly - Later Paintings" in Stuttgart und Max Webers Vorlesung "Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Literatur und Kunst bringen hundert Jahre nach dem Untergang der Titanic einen wunderbaren und bisher unveröffentlichten kleinen Text Hans Blumenbergs über den "Eisberg als Metapher" (mehr dazu hier): "Wenn das Verhältnis zwischen wahrnehmbarer und verborgener Wirklichkeit sich so ungünstig für den menschlichen Betrachter darstellt, dann liegt es nahe, auch den Menschen selbst unter der Allgemeinheit dieses Naturgesetzes stehen zu lassen und seine ganze psychische, soziale und politische Wirklichkeit mit einem verborgenen und nur durch methodische List zu erschließenden Untergrund zu versehen. Der Eisberg ist das Monument dieses Misstrauens."

Außerdem schreibt Martin Meyer einen Essay zu diesem Anlass. Lea Haller lässt die "goldene Ära der luxuriösen Atlantiküberquerung" Revue passieren. Axel Timo Purr schreibt über die Titanic in der Literatur. Und Jörg Becker guckt nochmal alle Titanic-Filme.

FR/Berliner, 14.04.2012

Ins Wundern und Staunen ist Arno Widmann bei der Ausstellung über die frühgriechische Kykladenkultur im Badischen Landesmuseum Karlsruhe geraten und sinniert darüber prompt über Wesen und Funktion von Geschichte: "Geschichte ist keine Last, unter der wir uns beugen müssen. Geschichte ist so etwas wie der ältere Bruder, den wir rufen, dass er uns hilft in den Händeln der Gegenwart. Selbst wenn er nicht kommt, so macht uns doch allein schon die Tatsache, dass er kommen könnte, Mut. Uns? Wer ist uns? Auch das legt nicht die Geschichte fest. Wer uns ist, lege ich fest mit der Geschichte, die ich erzähle. Wenn ich eine Geschichte der Moderne erzähle, dann haben die Kykladen darin ihren Platz."

Weiteres: Sebastian Preuss stellt die Kunst- und Kulturszene im polnischen Kattowitz vor, deren Protagonisten beim polnischen Kulturfestival "Klopsztanga" im Kölner Schauspielhaus zahlenmäßg stark vertreten sind. Birgit Walter beruhigt: Das Berliner Grips-Theater geht nicht pleite. Im Medienteil blickt Arno Widmann auf zwei Jahrzehnte taz-Genossenschaft zurück.

Besprochen werden das Theaterstück "Alle sieben Wellen" nach Daniel Glattauers gleichnamigem Roman im Rémond-Theater in Frankfurt, das "mit cinemascopeformatigen Orchestersamples und fanfarischen Motiven" durchwirkte neue Album der HipHopperin Nicki Minaj, sowie eine Ausstellung zur Geste in der zeitgenössischen Fotografie in der DZ-Bank in Frankfurt.

Aus den Blogs, 14.04.2012

(Via @matthiasrascher) Die schönste Landschaft der Welt? Martin Rak fotografiert die Toskana.

(Via Open Culture) Christopher Hitchens, der gestern 63 Jahre alt geworden wäre, bespricht die zehn Gebote.


Welt, 14.04.2012

Im Feuilleton unterhält sich Michael Pilz mit Robin-John Gibb über das Requiem, das Gibb mit seinem krebskranken Vater, Bee Gee Robin Gibb, komponiert hat. Matthias Heine möchte gern vom Berliner Senat wissen, ob er das Grips Theater wirklich in die Insolvenz gehen lassen will? Boris Peltonen nerven die antisemitischen Sprüche diverser deutscher Rapper. Andrea Backhaus unterhält sich mit Birgit Mandel, Leiterin des Zentrums für Kulturforschung an der Universität Hildesheim, über eine Studie, die untersucht, wie Deutsche und Migranten es mit der Kultur halten. Paul Cézannes 2008 geraubter "Knabe mit der roten Weste" ist wieder da, berichtet Stefan Koldehoff, verhaftet wurden vier Serben.

In der Literarischen Welt werden unter anderem besprochen: zwei neue Hesse-Biografien, zwei Neuübersetzungen von Bram Stokers "Dracula", eine Erzählung von Sergej Prokofjew, Dea Lohers Roman "Bugatti taucht auf", David Brooks' Buch über "das soziale Tier" Mensch und Joyces "Dubliner" als Hörbuch.

SZ, 14.04.2012

Der Themenschwerpunkt der SZ am Wochenende ist anlässlich Bram Stokers hunderdertstem Todestag dessen berühmtestem Geschöpf gewidmet: Dracula. Thomas Steinfeld liest den Roman mit Friedrich Kittler als Sieg der von moderner Medientechnik gestützten Bürokratie über die Blutwirtschaft. Silke Bigalke schwärmt von den erotischen Versprechungen des Vampir-Mythos. Judith Liere erklärt sich die Anziehungskraft von Vampiren auf junge Frauen unterdessen damit, dass die Blutsauger in der Tradition des einsam durch die Wildnis streifenden Cowboys stehen. Miriam Stein begibt sich derweil in der Modewelt auf Spurensuche nach dem Vampirischen. Außerdem blättert Michael Winter melancholisch durch literarische und kulturhistorische Zeugnisse der "alteuropäischen Kultur" des Seitensprungs, die er nach dem Siegeszug schnöder Dating- und Affärenagenturen im Netz an ihr Ende gekommen sieht.

Im Feuilleton will Ira Mazzoni im Gegensatz zum Anwalt Markus Stölzel, der einen "Präzedenzfall" sieht, kaum glauben, dass die Einigung zwischen dem Kunstmuseum Bonn und den Erben des Galeristen Alfred Flechtheim (mehr dazu hier) im Streit um Paul Adolf Seehaus' Ölgemälde "Leuchtturm mit rotierenden Strahlen" viele Konsequenzen haben wird. Johan Schloemann informiert über ein Urteil (pdf) des OLG Stuttgart, das es der FernUniversität in Hagen untersagt, ihren Studenten in einem geschlossenen Netzportal digitale Kopien der Seminarliteratur zur Verfügung zu stellen (mehr dazu in diesem Blogkommentar). Mounia Meiborg besucht das Freedom Theatre im Westjordanland. Wolfgang Schreiber blickt erwartungsvoll auf das Saisonprogramm der Berliner Opern und will von den Schließungsplänen der Piraten nichts mehr wissen. Helmut Mauró würdigt anlässlich einer 6 DVDs umfassenden Kollektion mit Videoaufnahmen und Dokumentationen den Pianist Vladimir Horowitz, der das "genialische Künstler-Kindsein unerbittlich und gegen alle Widerstände" verkörperte und lebte - hier spielt er Schumann in Wien:



Besprochen werden der Survival-Thriller "The Grey" mit Liam Neeson, eine Ausstellung mit Fotografien von Wim Wenders in der Sammlung Falckenberg in Hamburg, die Willi Winkler "von der Schönheit der Welt" überzeugte, und Bücher, darunter die Memoiren von Martin Gayford, der für Lucian Freud Modell saß (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Aus den Blogs, 14.04.2012

(via) Das neue Musikvideo der Kölner Elektroband Mouse on Mars tanzt auf sehr vergnügliche Weise ins Wochenende:

Stichwörter: Mars, Mouse On Mars

FAZ, 14.04.2012

Felicitas von Lovenberg interviewt den Historiker Fritz Stern zu Günter Grass' Gedicht: "Die erste Reaktion war Trauer - und Bedauern. Weil ich sofort merkte, damit schadet er sich selbst. Das Gedicht ist ja eine ungeheure Selbstverwundung. Dass er der Sache geschadet hat, das kam mir natürlich auch gleich in den Sinn."

Weitere Artikel: Christian Geyer versucht darzulegen, was Papst Benedikt XVI. meint, wenn er eine "Entweltlichung" der Katholischen Kirche fordert. Werner Jacob begutachtet das von dem Architekten Roman Delugan (dysfunktionale Architektenwebsite in Flashtechnologie) entworfene EyeE Filminstitut in Amsterdam. Jürgen Dollase ist begeistert von der Gemüseküche Andree Köthes und Yves Ollechs im Nürnberger Restaurant Essigbrätlein. Auf der Medienseite empfiehlt Jochen Hieber eine Einlesung des "Ulysses" auf RBB. Für die letzte Seite porträtiert Wirtschaftsredakteur Rainer Hank den Spin Doctor Alexander Geiser, der Unternehmen in Krisenlagen berät - und sich dabei vor allem als Geschichtenerfinder bewähren muss.

Besprochen werden Bücher, darunter Ralf Rothmanns neuer Roman "Shakespeares Hühner" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Für Bilder und Zeiten fährt Sonja Hartwig mit dem Türken Adnan Dayankac, der nur Westdeutschalnd kannte, in die Neuen Länder. Martin Eich erinnert an Morgan Robertsons Roman "Futility", der den Untergang der Titanic vorausahnte. Ingo Petz schildert die missliche Lage der Intellektuellen in Weißrussland. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's unter anderem um das neue Album der Ärzte. Auf der letzten Seite unterhält sich ein ungenannter Autor mit Martin Roth, der als erster Ausländer das Victoria & Albert-Museum leitet.

Für die Frankfurter Anthologie hat Marie-Luise Knott ein Gedicht Matthias Claudius' ausgewählt: "Die Mutter bei der Wiege".