Heute in den Feuilletons

Warnungen vor dem Endgericht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2012. Die Grass-Debatte ist definitiv abgeflaut. Jetzt ist wieder Urheberrecht dran. Marcel Weiß wendet sich in Neunetz scharf gegen die von Dirk von Gehlen in der SZ vorgebrachte Idee einer Kulturflatrate. In der FAZ plädiert die Grünen-Politikerin Agnes Krumwiede gegen eine Verkürzung der Schutzfristen, die nur Google nützen würde. Zwei andere Grüne wollen dagegen in der FR eine Modernisierung des Urheberrechts. Die NZZ berichtet über Mario Vargas Llosas Warnung vor Kulturverfall qua Internet. Außerdem rät sie von urheberrechtlichen Klagen gegen den Perlentaucher ab. Aber nicht alles ist Internet: Die Zeitschrift Landlust verkauft inzwischen mehr Exemplare als der Spiegel, meldet turi2.

NZZ, 17.04.2012

Auf der Medienseite diskutiert Rainer Stadler Sinn und Unsinn von Leistungsschutzrechtrechten. Auf alle Fälle sollte man sich davor hüten, mächtige Gegner zu schaffen! "Schwer verständlich erscheinen die rechtlichen Vorstöße gegen den Internetdienst Perlentaucher, der Artikel aus Feuilletons kurz zusammenfasst und entsprechende Links zu Originalen setzt - letztlich eine internetspezifische Dienstleistung, von welcher alle Parteien profitieren können. Die Klage gegen den Perlentaucher führte letztlich nur dazu, dass sie dessen Initianten ins Lager der vehementen Copyright-Kritiker trieb."

Weiteres: Roman Bucheli informiert, dass der etwas dümpelnde Schweizer Buchmarkt jetzt seine Hoffnungen auf das digitale Geschäft setzt. Brigitte Kramer berichtet, dass Mario Vargas Llosa mit seiner Klage über den Kulturverfall in Zeiten des Internets "La civilización del espectáculo" (langer Auszug in den Letras Libres) die spanischen Medien aufgestöbert hat. Martin Zingg schreibt zum Tod der Genfer Schriftstellerin Yvette Z'Graggen.

Besprochen werden unter anderem eine Inszenierung von Alexander Borodins "Fürst Igor", Botho Strauß' "Groß und Klein" als Gastspiel der Sydney Theatre Company mit Cate Blanchett in London, Aharon Appelfelds autobiografischer Roman "Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen" und Jens Christian Grøndahls Roman "Tage im März" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 17.04.2012

Henryk Broder beschwert sich in der Leitglosse, dass das ZDF Interviews mit ihm und mit Grass unfair gegeneinander schnitt - denn Grass kannte im Moment des Interviews Broders Text über sein Gedicht, während das Interview mit Broder noch geführt worden war, als er von dem Gedicht noch gar nichts wusste. Thomas Lindemann berichtet, dass nun auch Videospiele-Macher gern öffentliche Subventionen hätten. Manuel Brug gratuliert der Operettendiva Marta Eggerth zum Hundertsten.

Hier eine Szene aus dem Tonfilm "Ein Lied, ein Kuss, ein Mädel" mit Gustav Fröhlich:



Besprochen werden unter anderem das neue Album der Ärzte, eine Ausstellung über Hermann Hesse als Maler in Bern und ein "Lohengrin" an der Deutschen Oper Berlin.

TAZ, 17.04.2012

Micha Brumlik ruft dazu auf, John Stuart Mill neu zu lesen und ihn aus der "babylonischen Gefangenschaft des Neoliberalismus" zu befreien! Aram Lintzel beschreibt die Falle der Dauerhermeneutik, in die sich Journalisten beim Blick auf China verfangen. Thomas Groh berichtet von Filmfestival in Istanbul, auf dem er deutlich die Spannung zwischen individualistischer Moderne und rigorosem Konservatismus spürte. Klaus Irler stellt eine Studie des Zentrums für Kulturforschung vor, die ergeben hat, dass sich Migranten "noch weniger für die Angebote der öffentlichen Kulturinstitutionen als die Bevölkerung insgesamt" interessen.

Besprochen werden David Graebers Schrift "Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus" und Eva Züchners Buch "Der verbrannte Koffer (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Tagesspiegel, 17.04.2012

Der von Salafisten gerade als die ultimative Wahrheit verteilte Koran ist eine schwer verständliche Lektüre, erklärt Andrea Nüsse. So sind die Suren weder chronologisch noch logisch, sondern nach Länge angeordnet: vorne die langen, hinten die kurzen Suren: "Gerade die langen Suren bilden eine Aneinanderreihung einzelner Sequenzen, die inhaltlich lose oder gar nicht verbunden und daher für eine Lektüre von Anfang bis Ende ungeeignet sind. Da folgen auf praktische Handlungsanweisungen Preisungen des einen Gottes, Texte über die Propheten oder Warnungen vor dem Endgericht, ohne unmittelbaren Zusammenhang."
Stichwörter: Salafisten

Weitere Medien, 17.04.2012

Salman Rushdie, Martin Amis, James Fenton und Ian McEwan diskutieren bei Charlie Rose über Christopher Hitchens, der am 13. April 63 Jahre alt geworden wäre.

Aus den Blogs, 17.04.2012

Marcel Weiß antwortet auf Neunetz auf einen Artikel Dirk von Gehlens, der in der SZ für eine Kulturflatrate plädiert hatte, um Kopien von Musik und Filmen zu entkriminisalsieren und durch eine pauschale Abgabe zu kompensieren: "Wir haben bereits Leermedienabgaben und zahlen zum Beispiel etwa bereits 36 Euro Pauschalabgabe pro Smartphone. Warum wird nirgendwo aufgeschlüsselt, wie viel davon tatsächlich an Kreative geht und wie viel bei Mittelsmännern hängenbleibt, die keine zusätzliche Leistung hierfür erbringen mussten? Und wie viel geht davon an aktive Kreativschaffende und wie viel an durch Verteilungsschlüssel begünstigte Erben?"

Kaum zu fassen, was sich auf dem Zeitschriftenmarkt tut, seufzt turi2: "Der Münsteraner Landwirtschaftsverlag hat Landlust binnen weniger Jahre auf 1.010.873 Verkaufte alle zwei Monate gebracht. Nur noch sieben Programmzeitschriften und die Bild am Sonntag schaffen neben Landlust die Million. Der Spiegel hat sich mit nur noch 933.000 Verkauften längst von der Million verabschiedet."

FR/Berliner, 17.04.2012

Robert Habeck und Konstantin von Notz, beide von den Grünen, erklären, warum das Urheberrecht nicht abgeschafft, aber endlich an das digitale Zeitalter angepasst werden muss. Sie plädieren für eine Kulturflatrate: "Mit einer Pauschalabgabe für das Internet könnten sogar einige Defizite der Pauschalabgabe der analogen Welt gelöst werden, weil über das Internet - bei vollem Datenschutz - eine viel genauere Erfassung der Nachfrage möglich ist, so dass die Einnahmen sehr viel gerechter verteilt werden könnten und Klein- und Nischenkünstler Berücksichtigung fänden, die heute nicht selten durch das grobe Verteilungsraster fallen." Außerdem schlagen sie vor, die Schutzfristen zu verkürzen und die Übertragung von Rechten an die Verwerterindustrie auf maximal 20 Jahre zu beschränken.

Weitere Artikel: bw. gratuliert der Operettendiva Marta Eggerth zum 100sten. Dirk Pilz sieht mit der Grass-Debatte die "Generation 50plus" als "unmündige Instanzengläubige" entlarvt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Karikaturen von Dodo aus den zwanziger Jahren in der Berliner Kunstbibliothek und Kaspar Holtens "Lohengrin" in der Deutschen Oper Berlin.

SZ, 17.04.2012

Die erste Seite des Feuilletons widmet sich dem strengen Islamismus der von den Golf-Monarchien finanzierten Salafisten, die jetzt als zweitstärkste Kraft im ägyptischen Parlament sitzen. Tomas Avenarius erklärt sich deren Erfolg mit ihrer vereinfachten Form der Glaubensauslegung: "'Der Islam ist die Lösung' ist das 'Yes we can' aller Fundamentalisten." Konkret bedeutet das: "'Die Scharia ist zwingend, und zwar nicht nur in ihren Prinzipien', so Abdel Moneim al-Shahat." Und "Was das Salafi-Denken für die Frauen bedeutet, liegt in Ägypten ebenso auf der Hand wie in Tunesien oder den inzwischen auch in den Sog geratenden Muslim-Staaten Schwarzafrikas."

Jan Bielicki beleuchtet unterdessen die deutsche salafistische Szene rund um den konvertierten Prediger Pierre Vogel, die gerade mehrere tausend Korane verteilt hat und immer mehr Zulauf von Konvertiten und muslimischen Migranten der zweiten und dritten Generation bekommt. Rudolph Chimelli meint, dass nur ein winziges Grüppchen innerhalb der Salafisten Gewalt in Form von Terroranschlägen befürwortet.

Der Kulturwissenschaftler Felix Stalder ist sehr angetan von den kooperativ-sozialen Assoziationen, wie man sie im Netz etwa in der Wikipedia antrifft. Besorgt schaut er aber auf eine gegenläufige Entwicklung in den großen sozialen Netzwerken, die er "soziale Fabriken" nennt: Diese beruhen "auf einer klaren Hierarchie zwischen Betreiber und Nutzer, zwischen dem fabrikartigen Backend, von Betriebsgeheimnissen geschützt, und dem sozialen Frontend mit all seinen netten Features. Damit dringt paradoxerweise eine kommerzielle Logik in immer mehr Bereiche sozialer Interaktion ein, genau in dem Moment, wo sie sich aus der kommerziellen Umklammerung der alten Kulturindustrien zu lösen scheint."

Weitere Artikel: Evelyn Roll bemerkt die Wiederentdeckung der Verlobung. Helmut Böttiger gratuliert dem Schriftsteller Rolf Schneider zum achtzigsten, Fritz Göttler der Sängerin Marta Eggerth zum hundersten Geburtstag.

Besprochen werden Michael Thalheimers "Medea"-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt, Kaspar Holtens "Lohengrin"-Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin, der Film "Hunger Games", in dessen Heldin Petra Steinberger "einen neuen, rebellischen und dabei autarken Mädchentyp" ausmacht, eine Ausstellung über William N. Copley im Museum Frieder Burda in Baden-Baden und Bücher, darunter Martin Walsers nun auch als Buch vorliegende Rede "Über Rechtfertigung", die der Autor vergangenen Herbst in Harvard hielt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 17.04.2012

Die FAZ (Total-Buy-Out -Vertrag von 2009 als pdf-Dokument) widmet die ganze Seite 1 ihres Feuilletons der Urheberrechtsdebatte. Malte Welding schreibt über seine Erfahrungen als Blogger, die einfach zu resümieren sind: Das Urheberrecht ist kein Problem - man verdient ja ohnehin nichts.

Die Grünen-Politikerin (und Pianistin) Agnes Krumwiede wird im Interview mit Michael Hanfeld deutlicher und plädiert zum Beispiel vehement gegen eine Verkürzung der urheberrechtlichen Schutzfristen: "Internetkonzerne wie Google würden direkt und im großen Stil von einer Schwächung des Urheberrechts profitieren. Je mehr Inhalte ein Internetkonzern kostenfrei oder 'billig' anbieten kann, desto größer werden seine Attraktivität und Reichweite. Durch eine größere Reichweite und Aufmerksamkeit werden Internetkonzerne einflussmächtiger, ihr Marktwert steigt. Die Verlierer sind die Urheber."

Die Seite ist außerdem verziert mit einem kleinen Kasten, der auf ein neues Papier der Piratenpartei zum Urheberrecht anspielt. Die FAZ schreibt: "Unter den wichtigsten Forderungen der Piratenpartei findet sich seit Sonntag 'eine neue Schrankenregelung des Urheberrechts, die das freie, nichtkommerzielle Kopieren von kreativen Werken im Internet legalisiert'. Was das konkret bedeutet ist unklar."

Weitere Artikel: Stefan Schulz schreibt über die Ziele "wahrer Erziehung" (die Kindern nicht allzu früh konkrete Ziele auferlegen soll). Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen Gustav Klimts in der Albertina, eine Dramatisierung von Christian Krachts "Faserland" in Hannover, ein "Lohengrin" an der Dutschen Oper Berlin, ein neuer Pollesch an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Tony Judts "Chalet der Erinnerungen". (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)