Heute in den Feuilletons

Sogenannter Sechser

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2012. In der NZZ erklärt der jugoslawische Schriftsteller Miljenko Jergovi?, warum Völker so gern Opfer sein wollen. Im Filmmagazin artechock ärgert sich Rüdiger Suchsland über die Feigheit der "Tatort"-Autoren. In der Welt erklärt Pascal Bruckner die Gesetze des Politischen in Frankreich. Die taz feiert Günter Netzers Ankunft aus der Tiefe des Raums vor 40 Jahren. Die SZ gibt ihr okay zum Urteil des LG Hamburg im Streit zwischen Youtube und der Gema. Die FAZ lauscht den Phrasen der Revolution in Andrej Belyis "Petersburg".

NZZ, 21.04.2012

In einem sehr interessanten Interview erklärt der Schriftsteller Miljenko Jergovi? Andreas Ernst, warum Jugoslawien noch nicht untergegangen ist, was der Beitritt zur EU für die ex-jugoslawischen Staaten bedeutet und warum alle so gern Opfer sein wollen: "Es gibt keinen größeren kollektiven Genuss für eine Volksgruppe, denn als Opfer zu leben. Alle Probleme sind gelöst, denn du hast weder Hand, Fuß, Kopf noch Verstand, sondern kannst jederzeit und überall um wirtschaftlichen und moralischen Kredit bitten. So hat der Chauvinismus der jugoslawischen Nationen immer begonnen: Er kommt aus den Massengräbern. [...] Diesen Opferkomplex zu exorzieren, ist extrem schmerzhaft. Und es kann nur innerhalb einer Nation geschehen. Von außen kann man da nichts machen, und man hat auch kein Recht dazu."

Außerdem: Der Philosoph Hans Bernhard Schmid denkt am Beispiel von Achill und Priamos über soziale Formen unserer Gefühle nach. Peter Egloff schreibt zum hundertsten Geburtstag der "Biene Maja".

Im Feuilleton denkt Martin Meyer über die Zukunft der Demokratie nach. Michael Krüger erinnert sich in der Reihe "When the Music's Over" an das Erscheinen der Pilzköpfe. Andrea Eschbach berichtet von der Mailänder Möbelmesse Salone.

Besprochen werden Bücher, nämlich Jaroslav Rudiš' Comicroman "Alois Nebel" über die deutsch-tschechische Vergangenheit, Dubravka Ugreši?s Band "Karaokekultur" und Giorgio Agambens Buch "Höchste Armut" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Abgedruckt ist schließlich ein Gedicht von Ranjit Hoskote:

"Eine tote Sprache sprechen

Ich vergreife mich an Sätzen, aschebedeckt,
flechtenüberwuchert; entfache wieder Tropen,
die die Farmer in ihre Küchenroste fallen liessen
..."

Aus den Blogs, 21.04.2012

"Ein wenig sonderbar" findet es Rüdiger Suchsland, Filmkritiker unter anderem für die FAZ, der weder mit den Total-Buyout-Verträgen seiner Auftraggeber noch mit deren Klage gegen den Perlentaucher zufrieden ist, in einer auf Artechock veröffentlichten Brandrede zur Urheberrechtsdebatte, dass ausgerechnet die GEZ-alimentierten "Tatort"-Autoren "um Gerechtigkeit bitten" und sich dabei vor allem gegen ihre Zuschauer, die den "Tatort" bereits über Fernsehgebühren, Filmförderung und Steuergelder "doppelt und dreifach" bezahlt haben, positionieren: "Ihnen fehlt der Mut, irgendetwas gegen die Sender, gegen die Produzenten, gegen Förderer und Politiker zu sagen. Da sind sie zu feige und zu uneinig. Nur zur Politikerschelte langt es, und zur Userschelte, das heißt zur Schelte genau derjenigen, von denen die Unterzeichner noch irgendetwas Gutes zu erwarten hätten. ... Sie bringen auch seit Jahren keinen Streik auf die Reihe, wie die Drehbuchautoren in den USA. Das macht den Brief der Autoren so mickrig."

Welt, 21.04.2012

Eine Woche, nachdem er in Berlin war (und natürlich ohne Hinweis auf seinen großen Essay "Wege aus dem Schlamassel" im Perlentaucher) bringt die Welt ein Interview mit Pascal Bruckner, der einen Tag vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen die Gesetze des Politischen in seiner Heimat erklärt: "Wie immer gilt: Je mehr - ob auf der Rechten, ob auf der Linken - pathetisch 'le changement', der Wandel, beschworen wird, um so klarer das Signal, das man im Grunde genommen nicht einmal die kleinste Veränderung zu akzeptieren bereit ist. "

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Auch Klaus Harpprecht denkt über die französischen Wahlen nach und wünschte sich eine Yasmina Réza (die 2007 ein Buch über Sarkozys Weg in den Elysée-Palast schrieb) als ihre Chronistin. Ralph Giordano erinnert sich in seiner Koumne an seinen Schreibwunsch, der unter den Bedingungen finsterster Verfolgung erwachte.

Besprochen werden unter anderem Jan Caeyers' Beethoven-Biografie (mehr hier) und ein großes neues Hobbit-Buch.

Im Feuilleton macht der Turbokatholik Martin Mosebach im Gespräch mit Lucas Wiegelmann nicht nur den Kommunismus, sondern mehr noch den Protestantismus für den in den Neuen Ländern grassierenden Unglauben verantwortlich. Eckhard Fuhr kritisiert anlässlich eines Disney-Films über Wildkatzen den Mythos von der unberührten Natur. Manuel Brug geht mit dem neuen Chefdirigenten des Deutschen Sinfonieorchesters, Tugan Sokhiev, Wiener Schnitzel essen. Auf Seite 1 des politischen Teils begrüßt Ulrich Clauss das Hamburger Urteil im Prozess Gema gegen Youtube als einen Sieg geistiger Eigentümer.

TAZ, 21.04.2012

Vor 40 Jahren schoss Günter Netzer im EM-Viertelfinale gegen die englische Nationalmannschaft heldenhaft aus der Tiefe des Raums das 2:1 und bereitete damit den Sieg des Matchs vor. Oder doch nicht? Peter Unfried begibt sich für einen schönen Text auf Mythos-Spurensuche, telefoniert mit einem irritierten Karl Heinz Bohrer, der den tiefen Raum (allerdings erst ein Jahr später!) in der FAZ als solchen definierte, analysiert das Spiel am Bildschirm und besucht Siegfried Held, den unbesungenen Star des Matchs, in Dortmund. "Kommt Netzer tatsächlich aus der Tiefe des Raumes? Er agiert nicht wie eine Nummer 10 von damals, sondern wie ein heutiger sogenannter Sechser vor der Abwehr - nur dass er keine Bälle erobert. Aber dadurch hat auch er - wie Beckenbauer - das Spiel vor sich. Und manchmal eröffnet er es nicht mit einem Pass, sondern mit einem Sprint durch das gesamte Mittelfeld. Damit ist offenbar die 'Tiefe des Raumes' gemeint, aus der er kommt. Zählbares entsteht daraus allerdings nicht."

Weitere Artikel: Daniel Fuhrop besucht das in der Bukowina gelegene, von Nazis wie Sowjets gebeutelte Czernowitz, in dem sich das jüdische Leben langsam wieder regt. Anne Fromm unterhält sich zum zehnten Jahrestag des Amoklaufs in Erfurt mit der Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer über den Gedenktag in der Stadt. Jenni Zylka plauscht im Berliner Hotel mit dem Schauspieler Ronald Zehrfeld, der als Favorit für den am kommenden Freitag verliehenen Deutschen Filmpreis gilt. Christian Werthschulte besucht anlässlich des heutigen Record Street Day das in den Niederlanden zu findende, größte Vinylpresswerk Europas. Außerdem werden Bücher besprochen, darunter Milena Michiko Flasars Roman "Ich nannte ihn Krawatte", den Dirk Knipphals als "schöne, traurige, perfekt gebaute Ballade über die schwankenden Fährnisse des Auf-der-Welt-Seins" zu lesen empfiehlt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 21.04.2012

In der gestrigen Entscheidung des Landgerichts Hamburg in der Auseinandersetzung zwischen YouTube und Gema sieht Jens-Christian Rabe "ein fast salomonisches Urteil": "Weder steht, wie im Fall eines YouTube-Sieges, das gesamte deutsche Urheberrecht in Frage. ... Noch wird ein Unternehmen allzu hart bestraft, das längst doch viel mehr ist als das kommerzielle Videoportal des mächtigsten Internet-Konzerns der Welt."

Der technische Fortschritt lasse das Urheberrecht immer häufiger mit der alltäglichen Netz-Kommunikation kollidieren, resümiert unterdessen der von Songsperrungen auf YouTube genervte Bernd Graff eine mit der Rechtsabteilung der SZ unternommene Internet-Expedition: "In Zeiten postindustrieller Inhalte-Produktion, sind auch die Produkte der Kulturindustrie keine klassischen Güter mehr, keine an dinghafte Tonträger gebundenen Werke, sondern Information." Und die zu transportieren, ist ursprünglichste Aufgabe des Netzes.

Weitere Artikel: In China werden Kunstspediteure verhaftet und insbesondere politische Kunstwerke, darunter solche von Ai Weiwei, beim Transport zu ausländischen Ausstellungen abgefangen, informiert Tim Neshitov. Catrin Lorch bringt Hintergründe, wie ein gefälschtes Bild von Josef Albers erst ins Museum und dann in den Kunsthandel geriet. Außerdem sind auf einer Doppelseite Leserbriefe zur Causa Grass und ein ursprünglich in der israelischen Tageszeitung Maariv erschienener Artikel von Yoav Sapir dokumentiert, der beobachtet, "wie der deutsche Nationalismus wieder blüht".

Für die SZ am Wochenende bereist Laura Weißmüller Masdar, eine in der arabischen Wüste konzipierte CO2-neutrale Öko-Stadt. Petra Steinberger war unterdessen im rasant wachsenden Phoenix, Arizona, wo neues Öko-Bewusstsein vor allem auf wohlhabendere Viertel beschränkt ist. Thomas Urban sichtet ukrainische Akten und neue Untersuchungsergebnisse, anhand derer sich die sowjetische Legende vom "Todesspiel" im Jahr 1942, derzufolge die Spieler einer Kiewer Fußballmanschaft nach einem gewonnenen Match gegen Soldaten der Wehrmacht aus Rache in einem KZ ermordet wurden, nicht belegen lässt. Antje Wewer unterhält sich mit dem bei Dominik Graf dauerbeschäftigten Schauspieler Ronald Zehrfeld über Männlichkeit.

Besprochen werden Frank Castorfs Kafka-Inszenierung "Amerika" am Schauspielhaus Zürich, von der Simone Meier gerne zwei Drittel gestrichen hätte, Alexander Liebreichs Aufführung von Toshio Hosokawas "Meditation - to the Victims of the Tsunami 3.11" mit dem Münchner Kammerorchester und Bücher, darunter das Romanfragment "Als wir Gangster waren" aus dem Nachlass des Fernsehautors Oliver Storz (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 21.04.2012

Vor hundert Jahren erschien Andrej Belyis Revolutionsroman "Petersburg". Lorenz Jäger ermuntert in einem sehr schönen Aufmacher von Bilder und Zeiten zur Relektüre: "'Petersburg' schildert einen Zeitraum von kaum mehr als zehn Tagen zwischen Ende September bis Mitte Oktober des Jahres 1905... Aber wie ist das Buch gemacht? Man liest einen Roman der Echos und der Gedankenflucht. Der Worte, nein der Phrasen, die ebenso unausweichlich-enervierend wiederkehren wie die Melodie des 'Bolero' von Maurice Ravel, immer neu, immer rauschender und schriller instrumentiert. Es sind die Phrasen der Revolution, des alten Regimes und der Reaktionäre, die Phrasen der Liebe."

Außerdem: Hansgeorg Hermann erzählt von dem mit 84 Jahren gestorbenen kretischen Schuster, Philosophen und Geschichtenerzähler Nikos Gialedakis. Astrid Volpert erzählt von den bisher wenig gewürdigten Frauen des Bauhauses in Moskau. Joachim Lottmann geht die Autoren durch, denen er (oder seine Frau) den Wolfgang-Koeppen-Literaturpreis verleihen könnte. Und Astrid Kaminski spricht mit Ursula Haeusgen, der Gründerin der Stiftung Lyrik Kabinett in München, über Lyrik.

Im Feuilleton überlegt Nils Minkmar, warum die Franzosen möglicherweise die Nase voll haben von Sarkozy. Rafael Rennicke betrachtet das Urteil des LG Hamburg im Streit zwischen Youtube und Gema (mehr hier) als Zwischenerfolg für Youtube. Jürgen Dollase hört Zukunftsmusik in Stefan Wiesners superavantgardistischem "Gasthof Rössli". Dirk Schümer berichtet über einen verzweifelten Versuch der italienischen Regierung, Pompeji zu retten. Melanie Mühl stellt Kerstin Rank vor, die in ihrem Atelier "Ehrensache" nachhaltige Taschen aus Schwimmwesten näht. Edo Reents schreibt zum Tod des Countryrockmusikers Levon Helm. Hier (via open culture) sieht und hört man Levon Helm (am Schlagzeug) beim letzten Konzert von "The Band". Aufnahme von Martin Scorsese:



Besprochen werden die Ausstellung "Pacific Standard Time" im Gropiusbau in Berlin, die neue CD von Rufus Wainwright, drei CDs mit Goetheliedern von u.a. Krenek, Wagner, Schubert und Tomaschek und Bücher, darunter David Vanns Roman "Die Unermesslichkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Walter Hinck ein Gedicht von Johannes R. Becher vor:

"Café Stefanie

In München war's, im Café Stefanie,
Als ich dir, Emmi, die Gedichte sagte,
Die ich allein dir nur zu sagen wagte,
..."