Heute in den Feuilletons

Per Hand oder per Maschine

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2012. Der Verlierer der französischen Wahlen heißt Nicolas Sarkozy - und besiegt wurde er von Marine Le Pen, meint Gilles Hertzog im Blog La Règle du jeu. Nein, der Islam gehört nicht zu Deutschland, schreibt Monika Maron in der Welt. Die NZZ stellt den  italienischen Autor und politischen Paradiesvogel Antonio Pennacchi vor. In der taz preist Najem Wali John Freelys Kulturgeschichte der arabischen Welt. In der SZ hält Franzobel eine Laudatio auf Nora Gomringer.

Aus den Blogs, 24.04.2012

Einer der Verlierer der franzöischen Wahlen ist Nicolas Sarkozy - und besiegt wurde er von Marine Le Pen, schreibt Gilles Hertzog in La Règle du jeu. Le Pen wende sich stets an "Franzosen der Linken und Franzosen der Rechten", an "Arbeiter Bauern, kleine Beamte", konstatiert er weiter und benennt den zweiten Verlierer der Wahlen: "Das Ziel Marine Le Pens sind mehr denn je die 'kleinen Leute', das proletarisierte Frankreich. Hier hat Jean-Luc Mélenchon seine Wette verloren. Es ist ihm zwar gelungen, auf den Ruinen der Kommunistischen Partei und trotzkistischer Strömungen eine neue neomarxistische politische Kraft zu errichten. Aber es ist ihm leider nicht gelungen, dem Front national die Stimmen aus der breiten Bevölkerung abzunehmen."

Welt, 24.04.2012

Christian Wulffs Satz "Der Islam gehört zu Deutschland", der als das bedeutendste Erbe seiner kurzen Amtszeit gilt, findet nach wie vor nicht Monika Marons Zustimmung: "Niemand käme auf die Idee zu behaupten: Der Hinduismus und der Konfuzianismus gehören zu Deutschland, obwohl hier Inder und Chinesen leben. Schon gar nicht würden wir sagen wollen: Der Rechtsradikalismus gehört zu Deutschland, obwohl wir leider zur Kenntnis nehmen müssen, dass auch der Rechtsradikalismus hier ausgelebt wird. Die Anwesenheit von Glaubensrichtungen oder Überzeugungen, auch das Recht, sie zu leben und zu propagieren, heißt doch nicht, dass sie zu unserer Vorstellung von der Gesellschaft gehören, in der wir leben wollen."

Im Feuilleton gratuliert Manuel Brug Barbra Streisand zum Siebzigsten. Hanns-Georg Rodek schildert die Misere des Disney-Konzerns, die bei ihm allerdings auf keinerlei Mitleid stößt. Christina Hoffmann stellt die Berliner Band Super700 vor. Thomas Lindemann besuchte die Deutschen Gamestage. Besprochen wird Jan Bosses Dramatisierung des "Robinson Crusoe" in Wien.

NZZ, 24.04.2012

Franz Haas stellt den italienischen Autor Antonio Pennacchi vor, der mit seinem Geschichts- und Bauernepos "Canale Mussolini" offenbar ein Monster von einem Buch vorgelegt hat: Pennacchi, schreibt Haas, "stichelt gern in alle Richtungen und ist ein Paradiesvogel nicht nur in der Literatur. Auch in der Politik ist er weit herumgekommen, von einer rechtsextremen zu einer linksextremen Partei und wieder zurück in eine vage Mitte. 2011 kandidierte er in seiner Heimatstadt Latina erfolglos für den linken Flügel einer rechten Splitterpartei. Die Aussöhnung zwischen Links und Rechts war ihm schon in früheren Büchern ein Anliegen, so in 'Il fasciocomunista' (2003), der beeindruckenden und erfolgreich verfilmten autobiografischen Geschichte vom Bruderzwist zwischen einem Faschisten und einem Kommunisten."

Angela Schader empfiehlt, Koran-Verteilungen mit aufgeklärter Gelassenheit zu begegnen. Bettina Spoerri gratuliert der Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin Barbra Streisand zum Siebzigsten. Markus Bauer erinnert an die Aktionsgruppe Banat, die vor vierzig Jahren begann, die deutsche Literatur und die rumänischen behörden auf Trab zu halten. Auf der Medienseite rekapituliert Rainer Stadler die Geschichte von Axel Springers Medienimperium.

Besprochen werden eine Inszenierung von Händels "Orlando" an der Brüsseler Monnaie-Oper und Friederike Mayröckers neuer Band "Ich sitze nur GRAUSAM da" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zeit, 24.04.2012

Franziska Bulban wollte einer Freundin ein T-Shirt mit einem Bild von Walter Benjamin schenken, das sie aus dem Internet hochgeladen hatte. Aber dann kamen ihr Bedenken und sie fragte bei Anwälten und den Rechteverwertern nach. Dann ließ sie es lieber: "Aber verwerflich kann ich meine Bildbearbeitung auch nicht finden. Ich hätte ja keinen Schaden verursacht, keinen Gewinn gemacht und wollte auch bestimmt niemanden kränken. Anscheinend stimmt etwas mit meinem Rechtsverständnis nicht."
Stichwörter: Benjamin, Walter, Internet

Tagesspiegel, 24.04.2012

Dieter Gorny, Hauptlobbyist der Musikindustrie, verteidigt in einem irgendwie verlautbarungsartig klingenen Artikel nochmals die Position der Branche zur aktuellen Debatte: "Für mich steht fest: Auch oder gerade in einer zunehmend digitalisierten Welt brauchen wir ein starkes Urheberrecht. Es ist und bleibt ein zentraler Baustein für die künstlerische und ökonomische Entwicklung der Kreativen sowie wie der diesbezüglichen Wirtschaftszweige." (die weiteren Artikel der Tagesspiegel-Debatte sind auf der gleichen Seite verlinkt.)

TAZ, 24.04.2012

Isolde Charim erklärt in ihrer Kolumne, warum der Prozess gegen Anders Breivik so wichtig ist: "Die demokratische Rechtsordnung hat keine adäquate Antwort auf Feinderklärungen. Aber sie hat etwas viel Besseres, sie hat eine inadäquate Antwort: nicht Rache, sondern Recht."

Der Schriftsteller Najem Wali preist John Freelys Kulturgeschichte "Platon in Bagdad", die sehr schön erzählt, wie das antike Wissen über Bagdad und Cordoba zurück nach Europa kam: "Eine Frage stellt sich aber immer noch: Woher hatten die alten Griechen ihr Wissen? Um sie zu beantworten, führt Freely uns nach Mesopotamien. Die Handelswege führten nach Milet, zu einer Insel, auf der Freely den Beginn der griechischen Antike vermutet, und von dort nach Mesopotamien, wo die Griechen vermutlich das astronomische Wissen erwarben, das sie für Navigation und Zeitmessung brauchten. Aus Mesopotamien brachten sie den Gnomon, den Schattenzeiger, mit."

Pascal Beucker schreibt den Nachruf auf den Kölner Kabarettisten Heinrich Pachl. Besprochen werden Karin Henkels Inszenierung von Dostojewskis "Idioten" am Schauspiel Köln, eine Ausstellung der tschechischen Künstlerin Katerina Sedá im Kunstmuseum Luzern.

Und Tom.

FR/Berliner, 24.04.2012

Voller Bewunderung geht Arno Widmann durch die Ausstellung "Helden" im Zürcher Museum Rietberg, die Kunst aus Nigeria, Ghana, Elfenbeinküste, Kamerun und Kongo zeigt. Das Bemerkenswerte an der Schau sei, hat Widmann gelernt, dass die Skulpturen allesamt Porträts von Herrschern und Stammesfürsten sind. "In diesen Hainen wurde kein Olymp abgebildet, kein Götterhimmel. Das war keine Versammlung überirdischer Wesen, sondern ein Ort des Respektes, ja der Verehrung vor denen, die geholfen hatten, die Gesellschaft zu bauen, in der man lebte. Männer und Frauen. Es sind gewissermaßen die founding fathers and mothers jener Gesellschaften, die Mütter und Väter ihrer Grundgesetze. Eine höchst weltliche Versammlung also."

Weiteres: Robert Kaltenbrunner gibt Entwarnung: So leicht lässt sich Kreuzberg nicht gentrifizieren. Daniel Kothenschulte schreibt zum Siebzigsten von Barbra Streisand. Besprochen werden unter anderem Daniel Jüttes Studie "Das Zeitalter des Geheimnisses" und Charles Burns' Comic "X" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 24.04.2012

In der Zeitschrift für Medienwissenschaft (online keine Spuren davon) hat Claus Pias Gutachten und Dokumente zum Habilitationsverfahren Friedrich Kittlers zusammengestellt, in denen Jürgen Kaube nach Perlen taucht. Kittlers "Aufschreibesysteme" waren ein kühnes Buch und stießen bei einer ganzen Fußballmannschaft von Germanisten und Philosophen auf arge Bedenken: Doch "die ablehnenden Gutachten enthalten durchaus wichtige Rückfragen an das spekulative Werk. (Hans-Martin) Gaugers Einwand etwa, 'wenn die Arbeit Recht hätte, müsste man an einem Text feststellen können, ob er per Hand oder per Maschine geschrieben ist'. Manfred Schneider weist ihn witzig damit zurück, das lasse sich anhand der Autographen tatsächlich mit außerordentlicher Sicherheit feststellen."

Weitere Artikel: Nils Minkmar beobachtete Marine Le Pen bei den Siegesfeiern nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Felicitas von Lovenberg erzählt, wie es für sie war, in Sachsenhausen zum Welttag des Buchs Gedichtbände von Mascha Kaleko zu verschenken. Gina Thomas wirft einen Blick auf die Shakespeare-Feierlichkeiten, die die Olympischen Spiele in London begleiten werden. Auf der Medienseite erzählt Thomas außerdem, dass die Ermittlungen gegen das Murdoch-Imperium in der Abhöraffäre inzwischen bei seinem Bezahlsender Sky fündig wurden. Joseph Croitoru erklärt, wie die Iraner das Internet verstaatlichen. Und Jürg Altwegg beobachtet die französischen Medien in den Wahlen.

Besprochen werden eine Retrospektive des großen Graphic-Novelisten Robert Crumb in Paris, ein von Jan Bosse und Joachim Meyerhoff angerichtetes "Robinson Crusoe"-Spektakel in Wien, Ereignisse des Frauenfilmfestivals in Köln, Ibsens "Nora" in Hannover, ein Konzert des Deutschen Symphonieorchesters mit Puccini, Hindemith und Skrjabin und die Ausstellung "Languages of Revolution" in Berlin.

SZ, 24.04.2012

"Reichlich Skrupel" hatte Franzobel zwar ursprünglich, die Laudatio auf die am vergangenen Samstag mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis ausgezeichnete Lyrikerin Nora Gomringer zu halten, eine gutgelaunte Lobesrede ist ihm dann aber doch gelungen: So habe die Autorin einen "für Lyriker fast unverzeihlichen Nachteil: Sie leidet nicht. Im Gegenteil, auf Fotos grinst sie oder lacht. Ist das nicht ungeheuer ungehörig? Haben nicht gerade Lyriker ihr anämisches Gesicht in den knochigen Händen zu vergraben und dreinzusehen, als hätten sie eine hartnäckige Harnwegsentzündung gepaart mit einem Bandscheibenvorfall und Migräne? ... Sie strahlt etwas aus, was sie mit ihren Gedichten macht: Freude." Hier ein Video der Preisträgerin beim Poetry-Slammen:



Weitere Artikel: Navid Kermani besucht bei seiner Reise durch Pakistan ein Fest rund um den Schrein des Misri-Schah in Lahore. Franziska Schwarz rätselt, welchen Status zwischen Gesprochenem und Geschriebenem Tweets eigentlich haben. Eva-Elisabeth Fischer erlebte beim Eröffnungsabend der Ballettfestwoche am Bayerischen Staatsballett mit der von Jerome Robbins choreografierten "Goldberg-Variationen" eine "Sensation". Till Briegleb besucht den frischeröffneten Erweiterungsbaus des Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven, der sich mit dem Thema "Einwanderung" befasst. Burkhard Müller streift durch die nach Umbau neu dargebotene Sammlung im Völkerkundemuseum in Hernhut. Gottfried Knapp steht im Hamburger Hauptbahnhof verärgert auf dem falschen Gleis. Susan Vahabzadeh gratuliert Barbara Streisand zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Jett Steckels "Danton"-Inszenierung am Thalia Theater in Hamburg, in der Till Briegleb "eine gewisse politische Legasthenie" symbolisiert sieht, eine Ausstellung mit Fotos aus New York von Bruce Davidson im C/O Berlin, Bastian Krafts Inszenierung von Max Frischs "Biografe Ein Spiel" im Deutschen Theater Berlin und Fritz Breithaupts Studie zur "Kultur der Ausrede" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).