Heute in den Feuilletons

Die Erklärbärelite dieses Landes

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2012. In der FR erinnert Götz Aly an den Dreißgjährigen Krieg, und Agnes Heller spricht über Marx. In der Welt wundert sich Wolf Lepenies nicht über die Aufnahme Drieu La Rochelles in die Pléiade - die französische Klassikerbibliothek. Und Arnulf Baring wundert sich nicht über Günter Grass. Die NZZ findet, dass Günter Wallraff viel von seinem Nimbus verloren hat. Im Independent geißelt Robert Fisk den Rassismus in den arabischen Ländern. In der taz erklärt der jüdische Tunesier Gilbert Naccache, warum er Strafanzeige gegen die Salafisten stellt. 

FR/Berliner, 08.05.2012

Heute ist der 8. Mai. Götz Aly erinnert in seiner Kolumne an das Wüten eines anderen Krieges - des Dreißigjährigen, und empfiehlt die Ausstellung "1636 - ihre letzte Schlacht - Leben im Dreißigjährigen Krieg" im Archäologischen Landesmuseum Brandenburg. Hier werden die Gebeine in der Nähe gefallener Soldaten ausgestellt und sozusagen zum Sprechen gebracht, zum Beispiel: "Schottischer Soldat, 21 bis 24 Jahre alt, 168 Zentimeter groß, als Kind mehrfach gehungert, schwere Karies, Schulter- und Hüftgelenke wegen Dauerüberlastung stark abgenutzt, chronische Knochenhautentzündung wegen schlecht sitzender Stiefel, Steckschuss im rechten Oberarm, Hellebardenhieb gegen das rechte Schläfenbein, Dolchstich, der ein Stück des zweiten Halswirbels absprengte und Luft- und Speiseröhre durchtrennte."

Michael Hesse unterhält sich mit der großen Agnes Heller - unter anderem über Marx: "Die Marxsche Philosophie hat vier Grundpfeiler gehabt. Der erste war seine große Erzählung einer fortschrittlichen Weltgeschichte. Der zweite war das Paradigma der Produktion, der dritte seine Arbeitswelttheorie und der vierte die welthistorische Rolle des Proletariats. Alle vier sind zusammengebrochen. Nichts stimmt hier. Tatsächlich stimmt bei Marx überhaupt nichts. Dennoch ist er heute relevant..."

Tagesspiegel, 08.05.2012

In einem Punkt ist Malte Lehming mit Rolf Hochhuth einig, der wegen des "Gedichts" von Grass und seinen Verteidigern die Akademie der Künste verlassen hat: "Kaum eine Zunft hat Grass und sein Gedicht so vehement verteidigt wie die der deutschen Künstler und Schriftsteller, oder genauer: deren organisierte Repräsentanten."

Welt, 08.05.2012

Der Soziologe Wolf Lepenies fasst die in Frankreich tobende Debatte zusammen, die die Aufnahme des faschistischen Autors Pierre Drieu la Rochelle in die prestigereichste französische Buchreihe, die Bibliothèque de la Pléiade des Verlages Gallimard, ausgelöst hat: "Beobachter fühlen sich durch den Streit um Drieu an die 30er-Jahre erinnert, als in Frankreich die politischen Extreme immer stärker wurden. Warum, so wird ironisch gefragt, sollte man Drieu nicht feiern, wenn sechs Millionen französischer Wähler anscheinend seine Ansichten teilen?"

In einem Interview zum Anlass seines 80. Geburtstags redet der Historiker Arnulf Baring über sein Leben, das Alter und Günter Grass, mit dem er in den Sechzigerjahren Wahlkampf für die SPD gemacht hat: "Er war immer schon eine schwierige Figur. Bereits damals ist er uns allen auf die Nerven gefallen, weil er immer öffentliche Erklärungen abgab und annahm, wenn wir dann eine Woche später zusammenkämen, würden wir alles billigen. Er wollte verkünden. Für einen Literaten war er zu politisch interessiert. Und für einen politisch Interessierten doch ein ziemlich naiver und zum Teil abwegiger Kopf. Da hat er sich nicht groß geändert."

Weiteres: Matthias Heine geht der Frage nach, warum Jez Butterwroths "Jerusalem", "das beste britische Stück seit Jahrzehnten", nicht auf deutschen Bühnen zu sehen ist. Marc Reichwein hat sich die Ausstellung "Hänsel und Gretel im Bilderwald - Illustrationen romantischer Märchen aus 200 Jahren" im Frankfurter Goethe-Haus angesehen. Außerdem gibt es Besprechungen des Dokumentarfilms "Enemies of the People" über den Terror der Roten Khmer und des neuen Albums von Richard Hawley.

Aus den Blogs, 08.05.2012

(Wieder ein Tipp des unermüdlichen Bildersuchers Matthias Rascher) "A rare insight into Kowloon Walled City, the most densely populated place on earth" in der Daily Mail.

(via Gawker) Die Kopenhagener Philharmoniker überraschten das U-Bahnpersonal mit einem Flashmob! Um die lokale Radiostation Radio Klassisk zu unterstützten, spielten sie unangekündigt Griegs "Peer Gynt":


Weitere Medien, 08.05.2012

Robert Fisk, der berühmteste Auslandskorrespondent Großbritanniens, prangert in einem leidenschaftlichen Artikel für den Independent den Rassismus in arabischen Ländern an, dessen Opfer zumeist Hausangestellte sind, die wie Sklaven gehalten werden. Am schlimmsten die Geschichten aus Saudi Arabien und den Emiraten: "Then there was 19-year old Sithi Farouq, a Sri Lankan housemaid accused of killing her employer's four-year-old daughter in 1994. She claimed her employer's aunt had accidentally killed the girl. On 13 April, 1995, she was led from her prison cell in the United Arab Emirates to stand in a courtyard in a white abaya gown, crying uncontrollably, before a nine-man firing squad which shot her down. It was her 20th birthday."

TAZ, 08.05.2012

"Ich erstatte Anzeige", ruft der tunesische Aktivist Gilbert Naccache, der im Januar 2011 aus dem Exil nach Tunesien zurückgekehrt war (hier ein Interview mit ihm) und sich jetzt von drohenden Salafisten umstellt sieht. "Ich erstatte Anzeige gegen diejenigen, die auf der Avenue Habib Bourguiba zum Mord an den Juden aufgerufen haben. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Opfer rassistischer Angriffe wurde. Doch bislang entschied ich mich gegen eine Anzeige, in der Annahme, es handle sich bei den Tätern um junge, unwissende Menschen. Inzwischen hat sich die Lage verändert: Der Antisemitismus ist in Tunesien zu einer politischen Bewegung geworden. Der Aufruf zum Mord an den Juden ist die Basis seiner Propaganda. Die neuen Antisemiten melden sich immer, immer wieder zu Wort."

DAS. grübelt über einen - inzwischen gelöschten - Vergleich auf FAZ online nach, der den Piraten Johannes Ponader neben Hitler stellte. Vielleicht reden wir alle einfach zu viel? "Gerade bei den Piraten befindet sich die Erklärbärelite dieses Landes - Politik und Medien - in größter Ratlosigkeit. ... Es mag aber auch sein ... , dass der Nazi-Vergleich Teil unseres mentalen, vegetativen Nervensystems geworden ist, welches das Gehirn nicht steuern kann. Wie ein Furz entweicht er uns, belastend und befreiend zugleich."

Weitere Artikel: Fatma Aydemir porträtiert den Mannheimer Rapper Chaoze One, der "gegen Missstände in der Asylpolitik, gegen Polizeigewalt, gegen den Kapitalismus und nicht zuletzt gegen den Rechtsextremismus" rappt. Julian Weber berichtet von einer Berliner Konferenz über das Ende der Welt in der Popkultur (dem man sich wirklich nirgends so nahe fühlt wie in Berlin, wo um 12 Uhr mittags die ersten Gestalten ins Café robben, um ihr Frühstück einzunehmen). Micha Brumlik denkt in seiner Kolumne über falsche und richtige Kritik an der israelischen Besiedlung des Westjordanlands nach.

Besprochen werden das Album "Delfinarium" des Berliner Trios Frittenbude und das Buch "NarcoZones" über den Drogenhandel in Lateinamerika (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 08.05.2012

Auch nach wochenlanger Kampagne gelingt es den Springer-Organen nicht, mehr als Indizien für eine Stasi-Tätigkeit von Günter Wallraff zu präsentieren, schreibt Joachim Güntner. Am Ansehen des Autors haben die jüngsten Enthüllungen dennoch tiefe Kratzer hinterlassen: "Festhalten darf man, dass der Autor Günter Wallraff schon lange viel von seinem Nimbus verloren hat. Gar zu vollmundig tönt sein Credo: 'Es ist mein Handwerkszeug und Ausdrucksmittel als Schriftsteller und Publizist, nicht aus zweiter Hand, vom Hörensagen her zu berichten, sondern vorrangig das in meinen Veröffentlichungen wiederzugeben, was ich zuvor selbst erlebt habe, was ich bezeugen und wofür ich mich verbürgen kann.' In Wirklichkeit hat Wallraff so oft Rechercheure und Ghostwriter für sich arbeiten lassen, dass selbst linke Gesinnungsgenossen zu dem Urteil fanden, dieser hochberühmte Enthüllungsreporter könne gar nicht schreiben."

Außerdem gibt es Besprechungen von Kevin MacDonalds Doku-Biographie "Marley", von Richard Strauss' "Salome" am Theater St. Gallen und Gaetano Donizettis "Poliuto" am Opernhaus Zürich. Und Bücher: Roman Bucheli schwärmt von "Hoppe", Felicitas Hoppes "Selbstbiografie, in der "nichts falsch ist, gerade weil alles erfunden ist", und Judith Leister betrachtet fasziniert die "gelungen halsbrecherische Konstruktion" von Bettina Balàkas Roman "Kassiopeia" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 08.05.2012

Thomas Steinfeld fürchtet, dass der für Istanbul vorgesehene, radikale Umbau des verarmten Stadtviertels Talabasi dazu führen könnte, dass die Innenstadt zunehmend Reichen vorbehalten bleibt. Kia Vahland berichtet, dass die Proteste gegen den Umbau des venezianischen Fondaco dei Tedeschi zur kommerziellen Nutzung Früchte zu tragen scheinen. Wolfgang Schreiber informiert über den Orchesterprotest in Baden-Baden und Freiburg, "wo die Musikkultur von Sparmaßnahmen bedroht (ist), die barbarisch zu nennen sind". Jutta von Zitzewitz fasst die Beiträge einer Kölner Tagung über Aby Warburg zusammen. Jürgen Berger nimmt erfreut zur Kenntnis, dass die Qualität der zum Heidelberger Stückemarkt eingeschickten Stücke wieder steigt. Alexander Menden sammelt Stimmen aus Großbritannien zum dortigen Erscheinen einer Sammlung von Taliban-Gedichten. Jens Bisky gratuliert Arnulf Baring zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zur Kunst der Druckgrafik im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, die französische Filmkomödie "Väter und andere Katastrophen", Enno Poppes bei den Schwetzinger Festspielen aufgeführte Oper "IQ", Matthias Hartmanns Stück "Das trojanische Pferd" am Burgtheater Wien, das Egbert Tholl zufolge "mit viel Aufwand wenig Ertrag" liefere, die Foto-Ausstellung "Kleider machen Leute" von Herlinde Koelbl im Hygiene-Museum in Dresden und Bücher, darunter ein Band mit Sigrid Damms Erinnerungen an ihre Zeit in Rom um die Jahrtausendwende (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 08.05.2012

Olivier Guez liefert eine bewegte Reportage von der Wahlnacht in Paris. Jordan Mejias berichtet vom internationalen PEN-Festival mit Herta Müller und Salman Rushdie in New York. Andreas Platthaus stellt die Comicautorin und -zeichnerin Katja Klengel vor, die den neuen Comic im FAZ-Feuilleton zeichnen wird. Auf der Medienseite empfiehlt Christoph Becker eine Reportage über die Mafia und Sportwetten auf Arte.

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlers Gu Dexin in Peking, ein Konzert von Bap mit dem genesenen Wolfgang Niedecken und Bücher, darunter Matthias Senkels Roman "Frühe Vögel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).