Heute in den Feuilletons

Gelegentlich auch finster und bizarr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2012. Die Inszenierung von "The Rake's Progress" in Frankfurt ist zwar ein bisschen bieder, findet die FR, aber ansonsten: tolle Oper! Die FAZ stellt erstaunliche Parallelen zwischen den Urheberrechtspositionen der SPD und der Piraten fest. Die SZ versucht mithilfe der Nobeltpreisträgerin Elinor Ostrom Urban Gardening und Filesharing zu verstehen. Alle trauern um Robin Gibb. Und die NZZ meint zur Position der deutschen Sarrazin-Kritiker: "Hilflos strampeln sie mit im System der Vermarktung, das sie verdammen."

Aus den Blogs, 22.05.2012

Die Autorin Hazel Rosenstrauch macht sich in ihrem Blog Gedanken über neue Bezahlmodelle im Kulturbereich: "Manche Text- und Musikproduzenten werden auch heute erst durch das Netz berühmt, im Glücksfall bekommen sie dadurch neue Aufträge oder können ihre Künste an den Mann und die Frau bringen, die dafür zahlen; Neues zeichnet sich ab, wo Leute bereit sind, im Netz für gute Beiträge zu zahlen, Spenden für Recherchen überweisen oder Texte - gratis - übersetzen. Wenn die elektronische Version eines Buchs für wenig Geld, aber millionenfach verfügbar wäre, kämen die Autoren nicht nur schlecht weg."
Stichwörter: Geld

FR/Berliner, 22.05.2012

Die Frankfurter Inszenierung von Strawinskys Oper "The Rake's Progress" findet Hans-Klaus Jungheinrich ja etwas bieder. Aber Sänger, Orchester, Bühnenbild, Kostüme - erstklassig! Überhaupt sei es kein Wunder, dass diese Oper relativ häufig gespielt wird: "Oberflächlich gehört, gibt es lauter Topoi, vom Opera-seria-Pomp über den Händelarien-Gestus bis zur Mozart-Assoziation. Geheimnisvollerweise steckt in jeder Wendung indes Strawinsky, der die Stiltypen als Material nimmt wie Schönberg (und zuletzt er selbst) eine Zwölftonreihe. Vom gängigen Neoklassizismus der zwanziger und dessen reckenhaften Auswucherungen der dreißiger Jahre trennt sich die 'Rake'-Partitur durch einen weitgehenden Verzicht auf 'positive' Grundstimmungen, auf das ewig Gesundmeierische, was sogar den besseren Stücken von Milhaud oder Hindemith anhaftet. Die Musik des 'Rake' wirkt weitgehend verhangen, melancholisch, ja depressiv; gelegentlich auch finster und bizarr."

Hier besonders finster, und ziemlich beeindruckend, Samuel Ramey in Glyndebourne 1975:



Weitere Artikel: Die Zerstörung der Bamian-Buddhas durch die Taliban wird Thema der Documenta 13 sein, vorausgesetzt, man findet dafür Geld, berichtet Martina Doering. Nikolaus Bernau informiert über eine Tagung zur Mietenpolitik in Berlin. Markus Schneider schreibt zum Tod des Bee-Gees-Sängers Robin Gibb.

Auf der Medienseite wird das Papier der Piraten zum Urheberrecht vorgestellt und siehe da: sie wollen es gar nicht abschaffen, sondern reformieren.

Besprochen werden die Aufführung von Sibylle Lewitscharoffs erstem Theaterstück "Vor dem Gericht" am Mannheimer Nationaltheater ("ein bürgerliches Konversationsstück, wirkungsvoll, wenngleich etwas bewegungslos", meint Judith von Sternburg) und Bücher, darunter Thilo Sarrazins neuester Aufreger "Europa braucht den Euro nicht", das Robert von Heusinger mit zugehaltener Nase durchblätterte: "Es ist ein widerliches Buch, dem man nur eines wünschen kann: Möge es in den Regalen, auf den Tischen der Buchhandlungen vergammeln!" (ja klar, darum wird es auch am Erscheinungstag auf einer ganzen Seite besprochen, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 22.05.2012

Sarrazin ganz groß. Diesmal schafft er nicht Deutschland, sondern nur den Euro ab. Im politischen Teil interviewen ihn Olaf Gersmann und Christine Richter dazu. Im Feuilleton beharrt Henryk Broder vor einer schon wieder losbrechendenen Empörung auf Sarrazins Rederecht: "Ihm das Wort verbieten zu wollen, zeugt von einer totalitären Gesinnung seiner Kritiker, die ansonsten bei jeder Gelegenheit für den 'Dialog der Kulturen' ohne Vorbedingungen plädieren." Außerdem schreibt Dirk Peitz zum Tod von Robin Gibb. In "Aus aller Welt" porträtiert Céline Lauer den 16-jährigen Schüler Shouryya Ray, der ein von Isaac Newton hinterlassenes mathematische Problem nun endlich löste und damit beim Wettbewerb "Jugend forscht" reüssierte.

Besprochen werden Sibylle Lewitscharoffs erstes Theaterstück "Vor dem Gericht" in Mannheim, eine Ausstellung des Künstlers Lothar Baumgarten in Essen und Choreografien des Wolfsburger Tanzfestivals Movimentos.

Weitere Medien, 22.05.2012

Laut Titanic hat die deutsche Fußballnationalmannschaft nun eine Form gefunden, mit der sie ihre Solidarität zu Julia Timoschenko ausdrücken kann.
Stichwörter: Timoschenko, Julia, Titanic

NZZ, 22.05.2012

Rainer Stadler fand die Jauch-Sendung mit Thilo Sarrazin und Peer Steinbrück völlig in Ordnung. Hey, das war Aufklärung! Im Gegensatz zu dem, was die Printpresse bisher zu Sarrazins neuem Buch zu bieten hatte: Die "moralinsauren Verurteilungen eines Buchs, das erst in dieser Woche erscheint, müssen das Publikum geradezu animieren, durch einen entsprechenden Kauf sich selber eine Meinung zu bilden. Die Prophezeiung der Kritiker erfüllt sich. Hilflos strampeln sie mit im System der Vermarktung, das sie verdammen. Sie hätten schweigen und erst das umstrittene Werk lesen können. Dann wäre folgender Satz überflüssig gewesen: 'Wenn das Buch heraus ist, wird man sehen, was Sarrazin zu sagen hat.' (FAZ)" Amen.

Außerdem auf der Medienseite der NZZ: Mit den amerikanischen Zeitungen geht es wieder aufwärts! Warren Buffett hat gerade für 142 Millionen Dollar 63 Tages- und Wochenzeitungen gekauft, meldet ras. Und nicht aus Mitleid.

Im Kulturteil resümiert Roman Bucheli die Solothurner Literaturtage, die mit der Verleihung des Solothurner Literaturpreises an Annette Pehnt zu Ende gingen. Dirk Pilz resümiert das Berliner Theatertreffen. Markus Bauer berichtet über eine gerade auf Französisch erschienene Biografie Roland Barthes und im rumänischen Magazin Observator Cultural veröffentlichte Briefe, die Auskunft geben über die Bukarester Jahre Barthes. Brigitte Kramer berichtet über den Nachlass Federico García Lorcas mit Briefen an seinen letzten Geliebten. Ueli Bernays schreibt zum Tod des Bee-Gees-Sängers Robin Gibb.

Besprochen werden Bücher, darunter Alice Monroes Erzählband "Was ich dir schon immer sagen wollte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 22.05.2012

Ziemlich schwindelig von all den Verfremdungseffekten wurde es Cristina Nord bei der Vorführung von Alain Resnais Wettbewerbsbeitrag "Vous n'avez encore rien vu" in Cannes: "Resnais bringt das herkömmliche Verhältnis von Schauspieler und Rolle durcheinander, zum einen weil die Schauspieler unter ihren echten Namen auftreten und trotzdem eine Rolle in einer überaus theatralischen Anordnung spielen, zum anderen weil es die Hauptfiguren in drei Ausfertigungen gibt. Manchmal agieren Wilson und Cosigny miteinander, im nächsten Augenblick übernehmen Arditi und Azéma den Dialog, manchmal begegnen sich alle vier via Splitscreen."

Weitere Artikel: Reinhard Wolff berichtet über eine neue Theorie zur Verhaftung Raoul Wallenbergs 1945. Julia Niemann schreibt den Nachruf auf Robin Gibb.

Besprochen werden einige Inszenierungen beim Berliner Theatertreffen und Bücher, darunter Honeckers "Letzte Aufzeichnungen" und Thilo Sarrazins Buch "Europa braucht den Euro nicht", das laut Micha Brumlik "auf absehbare Zeit die solideste Begründung einer euroskeptischen bis rechtspopulistischen, ja nationalistischen Agenda" sein wird (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 22.05.2012

Fritdtjof Küchemann verfolgte eine Diskussion von Vertretern der Inhalteindustrie, Internetprovidern und Experten zum Urheberschutz im Netz im Bundestag, und er liest zwei Grundsatzpapiere der Piratenpartei (hier) und der SPD (hier als pdf-Dokument) zur Thematik, zwischen denen er erstaunliche Parallelen feststellt: "Beide Parteien wollen die Position der Urheber gegenüber den Rechteverwertern stärken, die SPD bezieht dabei in einen gerechten Interessenausgleich auch die Verwerter mit ein. Die Nutzung von Werken in öffentlichen Bildungseinrichtungen will die SPD 'dauerhaft auf eine rechtssichere Grundlage' stellen; die Piraten wollen sie, abgesehen vom Anschaffungspreis, abgabenfrei machen."

Thomas Gsella hat zum Thema außerdem ein launiges Gedicht verfasst:

"Ich habe diesen Aufruf unterschrieben,
Weil meine Kinder keine Loser sind,
Die gerne Durst und gerne Hunger schieben,
Nur weil die Diebe heute User sind. (...)"

Weitere Artikel:; Dieter Bartetzko schreibt zum Tod von Robin Gibb. Daniel Barenboim würdigt Dietrich Fischer-Dieskau als "revolutionären Interpreten". Verena Lueken berichtet aus Cannes über neue Filme von Cristian Mungiu und Abbas Kiarostmi, bei denen sie zum Teil sanft geschlummert hat (aber wer ist dieser Modemacher Jean Claude Gautier, der angeblich in der Jury sitzt?) Mark Siemons begibt sich ins Getümmel der Pekinger U-Bahn, wo man morgens allein sieben Minuten braucht, um nur in den Eingang einer U-Bahn-Station zu gelangen. Kerstin Holm liest ein der Nowaja Gaseta zugespieltes Papier aus der Putin-Verwaltung, das nichts Gutes für die Zukunft der russischen Zivilgesellschaft verheißt. Auf der Medienseite fragt Jordan Mejias: "Warum hat Warren Buffett 63 Zeitungen gekauft?"

Besprochen werden Strawinskys Oper "The Rake's Progress" an der Frankfurter Oper und die Uraufführung von Sibylle Lewitscharoffs erstem Theaterstück in Mannheim und Bücher, darunter ein neuer Roman von Franzobel (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.05.2012

Was haben wilder Häuserbau in brasilianischen Metropolen, illegal angelegte Gärten in Berlin und Filesharing gemeinsam? Die Protagonisten dieser Bewegungen "verhalten sich so, wie es ihnen praktikabel erscheint und überdehnen auf diese Weise die soziale Ordnung", schreibt Felix Stephan, der, wie er bei der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom nachliest, in diesem unbekümmerten Pragmatismus ein größeres Potenzial für politischen Wandel sieht als in allen deklamatorischen Protestbewegungen, da er die bestehende Ordnung zusehends in die Legitimitätskrise treibt: "Diese Leute brauchen keine Parteien für ihre Revolution. Sie verhalten sich einfach so, als hätte sie bereits stattgefunden. ... Im Gegensatz zu den städtischen Guerilla-Gärtnern ist bei den Internetnutzern allerdings die kritische Masse, die das auf die Monetarisierung von geistigem Eigentum basierende System erschüttert, längst erreicht, was vor allem an den technischen Möglichkeiten liegt."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe sieht beim Filmfestival in Cannes Filme über Identitätssuchen. Adrienne Braun besuchte die Tagung "Museen in der pluralen Gesellschaft" des Deutschen Museumsbunds. Mit Sorge um die zahlreichen dort zu findenden Kulturgüter blickt Henning Klüver in die italienische Region Emilia-Romagna, wo am Wochenende bei einem starken Erdbeben große Schäden entstanden sind. Gustav Seibt bringt Anekdoten, wie Goethe sich pekuniäre Vorteile verschaffte. Bernd Graff schreibt den Nachruf auf Bee Gee Robin Gibb. Weiterleben wird er aber schon wegen dieses Stücks :



Besprochen werden Sibylle Lewitscharoffs Stück "Vor dem Gericht" am Nationaltheater Mannheim, in dem ein enttäuschter Christopher Schmidt eine "muffige Parabel" sieht, eine Aufführung von "Peter Grimes" an der Scala in Mailand, Neil LaButes neues Stück "Tief in einem dunklen Wald" im Theater Bonn und Bücher, darunter eines über Schulden von Marc Hansmann (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).