Heute in den Feuilletons

Grenzen spielen eine ambivalente Rolle

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2012. Heise Online und die Welt melden: Die Urheberrechtsabgaben für USB-Sticks steigen um bis zu 1850 Prozent. Die FR bewundert in ihrer Cannes-Kolumne Nicole Kidman in der Rolle ihres Lebens. Die FAZ resümiert die spanische Debatte um Mario Vargas-Llosas jüngstes Buch "La civilización del espectáculo".

FR/Berliner, 25.05.2012

Anke Westphal resümiert das Filmfestival von Cannes, das mit Lee Daniels' Film "The Paperboy" noch einmal einen großen Schauspielerauftritt bot: "Dicke, falsche Wimpern und pinkfarbene Lippen unter platinblondem Haar, tiefe Bräune, knallenge Lurexhosen und ein Oberteil mit Leopardenmuster: Nicole Kidman spielt die Rolle ihres Lebens beim 65. Filmfestival Cannes."

Weitere Artikel: Sibylle Lewitscharoff lässt im Interview jede vernünftige Frage - Warum sind digitale Bücher in Deutschland so teuer, warum schreiben mir deutsche Verlage vor, wie ich ein Buch lesen soll? - an sich abtropfen, um wie im Repeatmodus ständig zu wiederholen, der Leser wolle ja nur alles kostenlos haben. Ulrich Khuon meint im Interview über seine ersten drei Jahre als Intendant des Deutschen Theaters in Berlin: "Vielleicht hat es bislang einfach zu wenig Herausragendes gegeben."

Besprochen werden die Debütalben von Cold Specks und Willis Earl Beal und einige lokale Ereignisse.

Spiegel Online, 25.05.2012

Wieder einmal klagt die bewährte Allianz von FAZ und SZ gegen einen Internetdienst, der Artikel dieser und anderer Medien durch Verlinkung von Überschriften zugänglich macht. Diesmal handelt es sich um Echobot, meldet Ole Reißmann: "FAZ und SZ argumentieren, dass schon für die Übernahme von Überschriften und Artikelauszügen eine Erlaubnis des jeweiligen Verlags notwendig sei. Außerdem stören sie sich daran, dass Echobot die Artikel für seine Nutzer zugänglich macht - mit einem Klick wird die Original-Website auf der Echobot-Seite eingebettet, so ähnlich wie ein YouTube-Video."

TAZ, 25.05.2012

In einem Pro und Contra widmen sich Jan Feddersen und Stefan Niggemeier der Frage, wie deutsche Journalisten vom European Song Contest aus Aserbaidschan berichten sollen und ob es Heuchelei wäre, wenn sie über dortige Menschenrechtsverletzungen schreiben. Feddersen meint: Aserbaidschan brauche zwar "gewiss mehr Akkuratesse in puncto Menschenrechte. Was wir nicht brauchen, ist eine Medialisierung, die einseitige und verzerrende Schwerpunkte formuliert". Dadurch werde "das Politische am ESC" übersehen und dass Baku durch den ESC "quasi europäisch 'infiziert' ja 'gequeert'" sei. Niggemeier hält dagegen: "Der ESC-Zirkus darf ESC-Zirkus sein. Aber die Chance, auch kritisch hinter den Vorhang zu gucken und mehr zu erfahren, wo er gastiert, warum und zu welchem Preis, die müssen wir Journalisten nutzen."

Weitere Artikel: Cristina Nord berichtet aus Cannes unter anderem über Ken Loachs Wettbewerbsbeitrag "The Angels' Share", den sie ganz "wacker" findet, der sich aber auch "als überlanger Werbespot für Whisky aus Schottland verkaufen" ließe. York Schäfer porträtiert den in Tunesien geborenen Frankfurter Samy Ben Redjeb, der auf seinem Label Analog Africa Aufnahmen aus dem Afrika der sechziger und siebziger Jahre wieder zugänglich macht.

Besprochen werden die Choreografie "Open for Everything" der Berlinerin Constanza Macras, ein Stück zur Situation der Roma und Sinti in Tschechien, Ungarn und der Slowakei mit Profis und Laien, und das Album "Perlas" von Josephine Foster & the Victor Herrera Band.

Und Tom.

Weitere Medien, 25.05.2012

(Via @PhilippOtto) Die Zentralstelle für private Überspielrechte, kurz ZPÜ, erhöht die Abgaben für USB-Sticks und andere Speichermedien, meldet heise online. Die ZPÜ handele damit im Auftrag von Gema, VG Wort und VG Bild. In der Welt äußert sich dazu auf den Wirtschaftsseiten der Gema-Sprecher Peter Hempel: "Grund für die Erhöhung von bis zu 1850 Prozent sei der technische Fortschritt. Die Speicherkapazitäten für urheberrechtlich geschütztes Material seien in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen."

Prada hat folgenden, von Roman Polanski gedrehten Werbespot mit Helena Bonham Carter und Ben Kingsley bei uns geschaltet:



Was wäre wenn? Michael Wuliger sieht in der Jüdischen Allgemeinen Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf ein hoffentlich nicht kommendes Ereignis voraus: "Donnerstag, 24. Mai 2013, 6.37 Uhr. Blitzmeldung der Deutschen Presse-Agentur: 'Iranische Raketen vom Typ Shahab 3 haben soeben den Großraum Tel Aviv bombardiert. Unklar ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, ob bei dem Angriff nukleare Sprengsätze zum Einsatz kamen.' Deutschlandfunk, Informationen am Morgen, 7.14 Uhr. Am Telefon Michael Lüders, Nahostexperte: 'Letztlich hat sich Israel das selbst zuzuschreiben. Die Drohungen der Regierung Netanjahu haben den Iran in eine Angstpsychose versetzt...'"

NZZ, 25.05.2012

Die Historikerin Monica Rüthers macht sich anlässlich des Roma-Festival in Saintes-Maries-de-la-Mer Gedanken über europäische Identitäten: "Im Zusammenhang der Neuformation Europas werden Identitäten neu ausgehandelt. Grenzen spielen eine ambivalente Rolle: Binneneuropäische Freizügigkeit steht einer Abschottung nach Osten und Süden gegenüber, es gibt innereuropäische Gefälle. Juden und Zigeuner sind in den kulturellen Topografien Europas Grenzfiguren geblieben. Die Besuchermassen an der Wallfahrt in Saintes und am jüdischen Kulturfestival in Krakau zeugen von Faszination."

Besprochen werden eine Ausstellung zu Ehren von Claude Debussy mit Werken von Rossetti und Whistler bis Derain und Kandinsky im Pariser Musée de l"Orangerie, eine Ausstellung der Bauhaus-Weberin Benita Koch-Otte im Neuen Museum in Weimar, Calixto Bieitos Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" in München, ein Mozartkonzert mit dem Tonhalle Orchester unter Stanislaw Skrowaczewski, Regina Spektors CD "What We Saw From The Cheap Seats" und die CD "Awe Naturale" des Rapperinnen-Duos Thee Satisfaction.

Aus den Blogs, 25.05.2012

Irgendwann im 22. Jahrhundert: Auf der Seite Schutzfristen-Irrsinn kann man sich ausrechnen, bis wann die Erben von Werken profitieren können, die man als brotloser Künstler geschaffen hat.

Die Autoren des Musikblogs Machtdose präsentieren derzeit ihre Lieblingsmusikvideos aus dem Frühling 2012. darunter findet sich zum Beispiel auch dieses schöne Video von F.S.K., der Band von Thomas Meinecke:



(via) Außerdem liefern die Movie Morlocks den zweiten Teil ihrer Reihe mit historischen Fotos vom Filmfestival in Cannes. Diesmal sind die 60er dran, in denen es sich Claudia Cardinale und Jean-Paul Belmondo offensichtlich ziemlich gut gehen ließen.

Welt, 25.05.2012

Manuel Brug porträtiert den Dirigenten Pablos Heras-Casado, der in Baden-Baden Donizetti mit Villazon macht. Marc Reichwein verabschiedet in seiner Feuilleton-Kolumne den Typus des Großkritikers. Matthias Heine mokiert sich über die Documenta-Chefin Carlyn Christov-Bakargiev, die es nicht dulden will, das wahrend der Documenta auch andere Institutionen, etwa die Kirchen, Kunstwerke präsentieren - und seien sie von Gregor Schneider. Besprochen werden eine CD der Folksängerin Debbie Clarke und Gerhart Hauptmanns Drama "Vor Sonnenaufgang" in Bochum.

SZ, 25.05.2012

"Ziemlich schnell ... ausgeplempert" sei die Debatte um das Kulturinfarkt-Buch, findet der Kunsthistoriker Walter Grasskamp, der abschließend nochmal auf ganz Grundsätzliches zu sprechen kommt, nämlich den seiner Ansicht nach völlig falsch in die Diskussion geschmuggelten Begriff der "Subvention", der für eine Wirtschaftshilfe stehe, an die sich übergeordnete politische und wirtschaftliche Interessen knüpfen, die dem Kulturbetrieb per se wesensfremd seien. Und: "Man spricht ja auch beim Fußball nicht von 'Subventionen', wo der Steuerzahler für Polizeieinsätze bei Freundschaftsspielen hoch entlohnter Ballkünstler aufkommt, deren Stadien er meist mitbezahlt hat."

"Die Urheber sollten sich nicht nur auf die wohlfeilen Aufrufe einiger gut verdienender Tatort-Autoren" verlassen, rät der Patentrichter Martin Vogel in einem Gespräch mit Willi Winkler und vertritt außerdem die Ansicht, dass die VG Wort mit ihren Abgaben an Verlage "in der Vergangenheit zu Lasten der Urheber mehrere hundert Millionen Euro falsch verteilt" habe. Immerhin gab ihm gerade das Landesgericht München in der Sache erstinstanzlich Recht.

Weitere Artikel: Martino Gozzi hofft nach dem starken Erdbeben im italienischen Ferrara, dass die Stadt mit dem Wiederaufbau nun auch ihre "kulturelle Identität" erneuere. Susan Vahabzadeh sieht in Cannes "sehr komischen Telepathie-Sex" zwischen Nicole Kidman und John Cusack. Im Vatikan sorgt eine neue Buchveröffentlichung mit Details aus Joseph Ratzingers Arbeitsalltag für Aufregung, berichtet Henning Klüver. Michaela Stallknecht spricht mit der Komponistin Olga Neuwirth über ihre Oper über Hermann Melville, die heute im Nationaltheater in Mannheim Premiere feiert. Karl Bruckmaier kauft in München im legendären Plattenladen Optimal rare und obskure Platten.
 
Besprochen werden Marcel Beyers Buch "Putins Briefkasten", sowie eine Verteidigung des literarischen Eigentums von Philipp Theisohn (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 25.05.2012

Paul Ingendaay fasst den neuen und ziemlich kulturpessimistischen Essay "La civilización del espectáculo" von Mario Vargas Llosa (in nuce: Intellektuelle Reflexion weicht Rampensäuen) sowie einige Erwiderungen darauf aus dem spanischsprachigen Raum zusammen: "Mario Vargas Llosa möchte weder als meckernder Alter noch als kulturkritischer Mahner mit universalem Anspruch gesehen werden. Doch etwas Ähnliches ist ihm nach der Veröffentlichung des Buches in der spanischsprachigen Presse widerfahren." Etwa in dieser Erwiderung Jorge Volpis.

Weitere Artikel: Gerda Panofsky erinnert an die erste Futurismus-Ausstellung vor hundert Jahren in Berlin, mit der "hierzulande eine Kunst ins Bewusstsein trat, die mit dem aufkommenden Medium des Films zu konkurrieren und eine entfesselte Dynamik zu zeigen wusste, die das Jahrhundert in vielfacher Hinsicht prägen sollte". Constanze Kurz zeichnet in ihrer Maschinenraum-Kolumne Stärken (Schutz gegen staatliche Repression) und Schwächen (Missbrauch des Namens durch staatliche agents provocateurs) der Anonymous-Taktik nach. Oliver Tolmein meldet erhebliche Zweifel an der heute wahrscheinlich im Bundestag verabschiedet werdenden Reformierung der Organspende an. Joseph Croitoru meldet einen archäologischen Fund in Jerusalem, der erstmals direkt die historische Existenz Bethlehems zu biblischen Zeiten bezeuge. Außerdem ist jetzt auch Johanna Adorjáns Reportage über die Baustelle von Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso aus der letzten FAS online zu finden.

Besprochen werden Tschechows "Kirschgarten" in der Regie von Calixto Bieito am Residenztheater in München, eine über drei Orte verteilte Ausstellung über das Verhältnis von Bayern und Österreich, sowie Bücher, darunter Stefan Merrill Blocks Roman "Aufziehendes Gewitter" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).