Heute in den Feuilletons

In allerschönster Kalligrafie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2012. Die Welt weist nach: Wenn man hundert chinesischen Schriftstellern eine Mao-Rede zum Abschreiben gibt, dann machen sie das auch brav. Die FAZ erklärt, warum die Sixtinische Madonna jetzt viel frischer in die Welt lugt - ohne jedes Peeling. Die taz erlebt in der Ausstellung "1917" in Metz, was der Krieg mit der Kunst macht. Außerdem laden wir in unbeschwerter Kostenlosmentalität Kimiko Ishizakas neue Aufnahme der Goldberg-Variationen herunter.

TAZ, 30.05.2012

Ingo Arend kommt mit leuchtenden Augen aus der "grandiosen" Ausstellung "1917" im Centre Pompidou in Metz. Dort hat er gelernt, dass sich "antimilitaristische Kunst und der kulturvernichtende Krieg keineswegs nur unversöhnlich gegenüberstehen. Denn was das Jahr 1917 im Kern ausmacht, ist das Bild einer wechselseitigen Katalyse militärischer und künstlerischer Entwicklung - vielschichtig und verstörend zugleich. Eine Katalyse, die über die Entwicklung des Dazzle-und Camouflage-Painting zur Tarnung von U-Booten, die Kriegsbegeisterung der Futuristen oder die eines Fernand Leger hinausgeht. Dessen 'période mécanique' verdankte der Maschinerie des Tötens, wie der Kriegsteilnehmer sagte, mehr 'als allen Museen der Welt'. Vielmehr sahen sich die Künstler gezwungen, ihre Arbeitsweise grundlegend zu verändern, um das Phänomen des technologisch entfesselten Krieges überhaupt erfassen zu können."

Ist links immer noch fortschrittlich oder schon längst reaktionär? Dazu äußern sich ein Spiegel- und ein taz-Mitarbeiter, die mal zusammen zur Schule gegangen sind. Jan Fleischhauer erklärt, warum er einfach kein Linker mehr sein kann: "Alle beglückwünschen sich pausenlos gegenseitig dazu, wie anders und fortschrittlich sie sind." Marco Carini sieht die Linke dagegen ganz klar als Minderheit: "Rund ein Vierteljahrhundert nach Helmut Kohl ist die geistig-moralische Wende im deutschen Feuilleton endgültig angekommen."

Weiteres: Für Brigitte Kratzwald ermöglicht die Idee der Commons einen Perspektivenwechsel. Besprochen werden Kettly Mars' Roman "Wilde Zeiten" und Reinhard Loskes Buch "Wie weiter mit der Wachstumsfrage?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 30.05.2012

Gabriele Detterer hat die Ausstellung des Architekten und Möbeldesigners Gerrit Rietveld im Vitra-Museum in Weil am Rhein besucht und bewundert die revolutionären Ideen "dieses Impulsgebers des modernen Designs".

Der Politologe Francis Cheneval empfiehlt das Schweizer Modell der "Demoikratie", der Vielvölkerherrschaft, als Vorbild für die EU. An der Inszenierung von Richard Wagners "Siegfried" an der Bayerischen Staatsoper gefällt Peter Hagmann ganz besonders die "samtene Diskretion" der Kontrabasstuba.

Außerdem werden Bücher besprochen, darunter Zsófia Báns Prosadebüt "Abendschule", das Ilma Rakusa für ein "ganz und gar ungewöhnliches, überraschendes, blitzgescheites Buch" hält (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 30.05.2012

China-Korrespondent Johnny Erling erzählt die Geschichte eines Prachtbands mit einer berüchtigten Mao-Rede an die Künstler aus dem Jahr 1942, für den ein Partei-Verlag bekannte Schriftsteller bat, Passagen aus der Rede handschriftlich zu kopieren. Und sie haben es getan! "Inzwischen hat sich eine Gegenbewegung im Internet gebildet. Auch sie wirbt für handschriftliches Abschreiben. Aber von ganz anderen Texten wie einem internationalen 'Manifest der Menschenrechte'. Blogger setzen ihre Abschriften in allerschönster Kalligrafie ins Netz. 'Ihr kopiert Mao. Wir schreiben die Menschenrechte ab.'"

Weitere Artikel: Manuel Brug breitet in der Leitglosse genüsslich amerikanischen Opernklatsch aus. Außerdem bespricht er Donizettis "Liebestrank," inszeniert von und mit Rolando Villazon. Hannes Stein besucht eine Synagoge schwarzer Juden (ja, auch das gibt's, mehr hier) in Queens. Alan Posener kommentiert die jüngsten Streitigkeiten um Thilo Sarrazin. Irene Bazinger freut sich, dass Martin Wuttke für drei Inszenierungen an die Berliner Volksbühne zurückkehrt.

Auf der Forumsseite beklagt Jacques Schuster die Infantilisierung unserer Gesellschaft, die mit ihrem "Haben, Haben, Haben"-Wollen noch das Urheberrecht in Gefahr bringe.

Aus den Blogs, 30.05.2012

Die Pianistin Kimiko Ishizaka hat mithilfe des Open Goldberg-Projekts die Goldberg-Variationen ins Netz gestellt. Die Aufnahme läuft unter der Creative Commons-Lizenz. Man darf sie herunterladen und ist doch kein Pirat.

Nachdem die christlich-fundamentalistische Lobby den Lehrplan der Naturwissenschaften an amerikanischen Schulen durcheinandergebracht hat, ist als nächstes der Geschichtsunterricht an der Reihe, berichtet Katherine Stewart bei alternet.org: "Es wird darauf bestanden, die USA nicht als 'Demokratie', sondern als 'konstitutionelle Republik' zu bezeichnen - damit die Schüler sich ihr Land als republikanisch, nicht demokratisch vorstellen. Das Wort 'Sklaverei' wird durch den positiver klingenden Begriff 'Atlantisches Handelsdreieck' ersetzt."

SZ, 30.05.2012

Georg Imdahl stöbert sich in den documenta-Archiven durch zahlreiche Regalmeter voller Korrespondenzdokumente aus der Geschichte der Kunstausstellung. Stephan Speicher widerspricht der Auffassung, dass bei den griechischen Wahlen die demokratischen Kräfte mit der Macht der Märkte kollidieren: Vielmehr zeigen sich ihm darin die Probleme der Demokratie in der Internationalisierung. Alexander Menden berichtet von lautstarken Störungen der Aufführungen des israelischen Habima Nationaltheaters beim "Globe to Globe"-Festival in London. Egbert Tholl sieht bei den Ruhrfestspielen neues russisches Theater.

Besprochen werden ein Dokumentarfilm über die Geschichte des LSD, das neue Album von F.S.K., eine Ausstellung mit Videokunst von Chantal Akerman im Museum für zeitgenössische Kunst in Antwerpen, eine Ausstellung mit provokativen Fotografien von Larry Clark im C/O Berlin, eine Aufführung von Händels Oper "Julius Caesar in Ägypten" im Kleinen Festspielhaus in Salzburg (davon hier eine Aufnahme in kompletter Länge) und Bücher, darunter "Monster" von Benjamin Maack (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 30.05.2012

Die Sixtinische Madonna wird in Dresden neu präsentiert inklusive Ausstellung über ihre Rezeption. Sie selbst sieht frischer und hübscher aus als noch vor einem Jahr, als sie zusammen mit der Madonna di Foligno aus dem Vatikan gezeigt wurde, konstatiert Wilfried Wiegand: "Doch es wurde nicht restauriert, die Verjüngung kam ganz natürlich zustande, sie verdankt sich dem Geschenk, das man ihr zum fünfhundertsten Geburtstag machte: dem neuen Rahmen samt neuer Verglasung; der letzte Rahmen enthielt auch grünlich-graue Töne, selbst in der Verglasung, heißt es, sei ein grünlicher Ton gewesen. "

Weitere Artikel: Marcus Jauer glossiert das Problem der Stadt Riesa mit der letzte verbliebenen Lenin-Statue in den Neuen Ländern. Joseph Croitoru schildert einen Streit in Israel um den Nachlass von Max Brod. Auf der Medienseite macht Christina Hucklenbroich einen neuen Trend in hippen Eltern-Zeitschriften aus: Man gibt zu, dass Kinder Nervensägen sind.

Besprochen werden Der Film "Leb wohl meine Königin" (mehr hier) von Benoit Jacquot, der die letzten Tage des Ancien Régime imaginiert, die neue Hängung des Weltkulturenmuseums Frankfurt, eine Ausstellung des Fotografen Lewis Baltz in Bonn, der Münchner "Siegfried" unter Andreas Kriegenburg und Kent Nagano, eine Ausstellung über John Cage als Künstler in Berlin und Bücher, darunter Christoph Bartmanns Essay "Leben im Büro"(mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).