Heute in den Feuilletons

Daherscheppernder Dorfdiscoquark

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2012. Business Week erklärt, mit welchen Mitteln Neal Stephenson die wahre Kunst des Schwertkampfs propagieren will. In der SZ verteidigt Navid Kermani den "hochheiligen" Akt der Beschneidung und Martin Mosebachs Kokettieren mit den Morddrohungen islamischer Fanatiker. Die Abenzeitung sagt für heute Abend eine starke Senkung des Saturday Night Fevers an: Diskotheken protestieren gegen die Gema. In der Welt schreibt Michael Kleeberg eine Hommage auf William Faulkner. In der taz ist Georg Seeßlen ganz ergriffen von Mario Balotellis "Geste des stolzen Sklaven".

Weitere Medien, 30.06.2012

(via @PhilippOtto) Die neuen Tarife der Gema werden heute Abend in München und anderswo das Saturday Night Fever senken, meldet die Abendzeitung: "Stiller Protest: Wegen der geplanten neuen Tarife der Gema (Gesellschaft für musikalische Aufführungsrechte) stellen Discos und Clubs in München und ganz Deutschland am Samstag um 23.55 Uhr für fünf Minuten die Musik aus." klassik.com meldet unterdes, dass Bernd Neumann, der treue Herold der Kulturindustrien im Kanzleramt, die Richard-Strauss-Medaille der Gema erhalten hat: "Mit dieser Medaille zeichnet die Gema seit 1953 Persönlichkeiten aus, die sich besondere Verdienste um das Urheberrecht erworben haben."

Der große Neal Stephenson ist ein Fan des Schwertkampfs, den er selbst mit Begeisterung praktiziert. Er ärgert sich sehr, dass in Filmen ständig falsche und fehlerhafte Posen und Figuren gezeigt werden. Nun gründet er ein Unternehmen, schreibt Brad Stone in Business Week. "Subutai, a startup he co-founded and named after Genghis Khan's chief military strategist, aims to create video games and other media that accurately depict sword fighting as it was practiced hundreds of years ago by skilled warriors in battle-and these days by geeks in parking lots."

Salon.eu.sk übersetzt einen empörten offenen Brief Pawel Huelles an den Ökonomen Leszek Balcerowicz, der die Privilegien des polnischen Lehrerstands angegriffen hatte: "This is scandalous: you economists are never taken to account for the impact of your erroneous predictions, the millions in bank surcharges, the squandered funds, the failed investments. Just like the aristocracy in the First Polish Republic of old, you are above the law. You form the elite. Fine, form away, but why do you, as a representative of this elite, insist on criticising teachers, of all people?"

Verleger wussten nie mehr über ihre Leser als im Zeitalter des Ebooks, schreibt Alexandra Alter im Wall Street Journal in einem Artikel über Datensammeln als neuer Branche im Bücherwesen: "It takes the average reader just seven hours to read the final book in Suzanne Collins's 'Hunger Games' trilogy on the Kobo e-reader-about 57 pages an hour. Nearly 18,000 Kindle readers have highlighted the same line from the second book in the series: 'Because sometimes things happen to people and they're not equipped to deal with them.' And on Barnes & Noble's Nook, the first thing that most readers do upon finishing the first 'Hunger Games' book is to download the next one."

Welt, 30.06.2012

In der Literarischen Welt erklärt Michael Kleeberg, warum er den Südstaatenschriftsteller William Faulkner bewundert, dessen Roman "Als ich im Sterben lag" Maria Carlsson gerade neu ins Deutsche übersetzt hat: "In einem Essay erklärte Faulkner, er habe den Rhythmus und die Kadenzen seiner Texte dem Gesprächsfluss der schwarzen Arbeiter abgelauscht, ihrem Klang und ihren Geschichten. Der heimische Boden also - im praktischen wie im mythischen Sinne - ist der Nährboden von Faulkners Romanen und Erzählungen. Plantagenbesitzergeschlechter und armer White Trash, Schwarze, die sozialen wie sexuellen Verhältnisse und Konflikte, Land, Klima, der christliche Glaube. Ich war beim Lesen auf Anhieb an Jean Giono erinnert, der Ähnliches mit der südfranzösischen Provence gemacht ..."

Außerdem: Hannes Stein, Gerhard Gnauck und Thomas Kielinger berichten, was in New York, London und Warschau diskutiert wird. Vorabgedruckt ist ein Text über Istanbul aus Annett Gröschners neuem Buch "Mit der Linie 4 um die Welt" (erscheint aber erst im Oktober).

Besprochen werden unter adnerem Robert Gottliebs Biografie der göttlichen Sarah Bernhardt, Robert Services Trotzki-Biografie ("Auch wenn es viele Bewunderer bis heute nicht wahrhaben wollen, die politischen Differenzen zwischen Trotzki und Stalin waren nicht der Rede wert", lernt Simon Sebag Montefiore), Yang Jishengs Bericht über die große Hungerkatastrophe unter Mao, Tana Frenchs Psychothriller "Schattenstill" (von Cora Stephan wärmstens empfohlen), Sam Hawkens Krimi "Die toten Frauen von Juarez" und Robert Knapps Buch über "Römer im Schatten der Geschichte: Gladiatoren, Prostituierte, Soldaten".

Im Feuilleton erklärt Hugh Grant im Interview, warum er ein Jahr lang mitgeholfen hat, den Abhörskandal der News of the World aufzuklären: "Ich habe schon seit Jahren die Ansicht vertreten, dass Presse, Regierung und Behörden unter einer Decke stecken, aber alle erklärten mich für verrückt. Jetzt erweist sich dies als wahr, und es gibt eine öffentliche Untersuchung."

Weitere Artikel: Henryk M. Broder findet die Debatte um die Beschneidung pornografisch. Jaques Schuster bittet Corinna Kirchhoff zu Tisch. Gabriela Walde wünscht Planungssicherheit für die Berliner Gemäldegalerie.

Besprochen werden das Konzert von Madonna ("zeigt direkt vor den Fans, wie gut sie in Schuss ist", schreibt ein bewundernder Manuel Brug) und Veranstaltungen im Vorfeld von Andreas Kriegenburgers Inszenierung der "Götterdämmerung", die heute abend in München Premiere hat.

TAZ, 30.06.2012

Im EM-Teil jubiliert Georg Seeßlen über das "schöne Bild von Unbeugsamkeit", das Mario Balotelli nach dem 2:0 im Halbfinalspiel gegen Deutschland bot: "Diese Geste mit den zum eigenen Körper gerichteten Armen und den geballten Fäusten (...) ist die Geste des stolzen Sklaven, der seinen Körper, nicht aber seinen Geist unterwerfen hat lassen. (...) Dieser Mann hat keine Tore für Italien geschossen, sondern für sich selbst. Er hat das Trikot von sich geworfen, das ihn zur Nummer machte und ihn für eine Nation vereinnahmt, in der es eine große Anzahl von Menschen gibt, die einen Menschen schwarzer Hautfarbe verachten." (Da schießt ein Schwarzer ein Tor - und schon sieht Seeßlen in ihm den Sklaven?)

Weiteres: Tarik Ahmia erzählt die Geschichte seines Vaters, der im algerischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat. "Verdammt gut" war das, was Madonna da beim Berliner Konzert hingelegt hat, findet Adam Zapert. Hans Korfmann porträtiert die zwei Berlin-Kreuzberger Rapper Challa und Kane. Am Vorabend der Wahlen in Mexikto trifft Frederick Caselitz dort die Sängerin Amandititita. Ulrich Gutmair verdreht im ICE genervt die Augen über die Gespräche smarter Postfeministinnen und deren "stockkonservativen Affirmation des Gegebenen, die sich der eigenen Blindheit gegenüber den herrschenden Strukturen noch nicht mal bewusst ist."

Besprochen werden David Cronenbergs Adaption von Don DeLillos gleichnamigem Roman "Cosmopolis", bei der Cristina Nord zufolge "die Aporien des gegenwärtigen Finanzsystems in eine komplexe Fiktion verwandelt" werden, und Bücher, darunter Davide Longos Roman "Der aufrechte Mann" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 30.06.2012

Nichts online in der NZZ. Der russische Autor Andrei Bitow schickt für Literatur und Kunst eine Prosaminiatur: "Swatch". Eva Dietrich besucht den Rattentempel im indischen Deshnok. Peter Bürger schreibt über Andrea del Sarto und die Anfänge der manieristischen Malerei in Florenz. Navid Kermani betrachtet die Pietà in der Kirche St. Kunibert in Köln.

FR/Berliner, 30.06.2012

Jens Balzer staunt bei Madonnas Berlin-Konzert Bauklötze: "So destruktiv, deprimierend und rundum aussichtslos nihilistisch habe ich lange kein Blockbuster-Konzert mehr erlebt."

Weitere Artikel: Vergessen kann auch heilsam sein, meint der Historiker Christian Meier über die NS-Vergangenheit. Die antike Denkfigur des Kairos, des flüchtigen, rasch verstreichenden Moments, von dem Erfolg oder Scheitern abhängt, ist auch für den Fußball unmittelbar von Belang, erinnert Hans-Martin Lohmann.

Aus den Blogs, 30.06.2012

Jezebel zitiert aus einem Porträt des Leichenbeschauers Thomas Noguchi, der einst auch die Leiche Marilyn Monroes in Augenschein nahm: "When he's asked how Marilyn Monroe looked in death, Noguchi, who has a fondness for poetry, quotes the Latin poet, Petrarch: 'It's folly to shrink in fear, if this is dying. For death looked lovely in her lovely face.'"
Stichwörter: Monroe, Marilyn

FAZ, 30.06.2012

"Die Weltuntergangs- wie die Finanzkrisenlage [scheint], theatermäßig betrachtet, zwar ziemlich hoffnungslos, aber nicht ernst", notiert Gerhard Stadelmaier nach einer Vorschau auf die kommende Theatersaison. Nils Minkmar bemängelt die Kommunikationsform der Kanzlerin. Jürgen Dollase isst in Kobe Desramaults Restaurant "In de Wulf". Arnold Bartetzky berichtet über eine Tagung der Bundesstiftung Kultur in Hamburg zur Drosselung des Autoverkehrs. Der Oberste Gerichtshof der USA hat Obamas Gesundheitsreform abgesegnet, meldet Jordan Mejias. Und sieben Redakteure schicken sieben kurze Berichte von ihrem Urlaub mit Kindern, gähn.

Online lesen darf man zwei interessante Texte von gestern: Abdelwahab Meddebs Beschreibung der Bedrohung von Künstlern in Tunesien. Und Gil Yarons Bericht über Israelis, die sich der Tradition der Beschneidung entziehen.

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten erinnert sich Alice Schwarzer an ihre vor zwei Wochen verstorbene Freundin Margarete Mitscherlich. Hubert Spiegel besucht den Schriftsteller Ror Wolf zum Achtzigsten. Andreas Kilb erinnert daran, wie Saladin 1187 die Kreuzfahrer schlug. Maria Frise unterhält sich mit dem Psychiater Klaus Dörner übers Alter.

Besprochen werden einige CDs, darunter "At the Gate of Sethu" der Death Metal Band Nile, und Bücher, darunter Karin Nohrs Roman "Herr Merse bricht auf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Georg Wöhrle ein Gedicht von Günter Kunert vor:

"Heimkehr

Wiedererkannt hat ihn nur
sein alter Hund. Gewisse Geschöpfe
erwittern unbeirrt ihresgleichen.
..."

SZ, 30.06.2012

In der Kritik an Mosebachs Blasphemieverbotssehnsüchten und dem Beschneidungsurteil des LG Köln triumphiere ein "Vulgärrationalismus" über einen "hochheiligen Akt", findet Navid Kermani: "Wenn ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss, wird die Anmaßung eines deutschen Landgerichts erklärbar, mal eben so im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären. In einer solchen Logik ist auch die Blasphemie etwa so schlimm wie die Beschimpfung einer Wand."

Weiteres: "Billig daherscheppernden Dorfdiscoquark" hört Peter Richter beim Berliner Konzert von Madonna. Adrienne Braun besucht das Staatstheater in Stuttgart, in dem nach einem kostenintensiven Sanierungsdebakel vieles nicht funktioniert und allerorten geknickte Stimmung herrscht. Zum Start des Münchner Filmfests gibt es eine Seite mit Anekdoten aus der Geschichte des Festivals, dessen traditionelle Independents-Reihe Susan Vahabzadeh ausführlicher würdigt. Peter Burghardt spricht mit dem mexikanischen Autor Juan Villoro über die alltägliche Gewalt von Drogenbanden in seiner Heimat. "Ein Dirigent natürlicher Bewegungslust", staunt Wolfgang Schreiber über Pablo Heras-Casado.

Besprochen werden die Diane-Arbus-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin und Bücher, darunter Ulrike Landfesters Studie zur Kulturgeschichte der Tätowierung in Europa (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Die SZ am Wochenende widmet sich dem Thema "Die Waffenrepublik". Im Gespräch erinnert sich Günter Lamprecht an den Amoklauf im Jahr 1999 in Bad Reichenhall, den der Schauspieler schwer verletzt überlebte.