Heute in den Feuilletons

Und die Ukrainer lächeln selten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2012. Die Welt stellt ein Videospiel vor, das seine Teilnehmer dazu bringt, sich für ihre Gräueltaten zu schämen. In der FR warnt Micha Brumlik: Wenn der deutsche Staat nicht einen rechtlichen Rahmen für die Beschneidung schafft, muss er zur Strafe laizistisch werden. In der SZ lehnt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer Beschneidung dagegen ab. Die taz freut sich über die Wiederentdeckung Jean Gremillons. Und die FAZ zweifelt: Wie fest ist Martin Mosebachs Glaube?

NZZ, 03.07.2012

Kathrin Zeiske hat die Polizeireporter des Diario de Juárez bei ihrer Arbeit begleitet, die in Ciudad Juarez Tag für Tag mit den Opfern des Drogenkriegs konfrontiert sind und auf Äquidistanz zu den Drogenkartellen und der Regierung gegangen sind: "Vor einem Jahr hatte sich der Diario de Juárez als einer von wenigen Pressetiteln im Land geweigert, ein Regierungsabkommen über eine 'loyale Berichterstattung' zu unterzeichnen. Für die Regierung Calderón wird es immer wichtiger, die kriegsgebeutelte Bevölkerung von der Effektivität ihrer Militäreinsätze zu überzeugen. Drogenbosse werden zwar gefasst, doch die Kartelle sind in unkontrollierbare Splittergruppen zerfallen."

Stolz und Freude sieht Gerhard Gnauck in Polen und der Ukraine über die geglückte EM herrschen, die Polen ertrugen "Deutsch-land" skandierende Fans und die Ukrainer die ungewohnten Ausländer: "Krystyna Berdynskich vom Kiewer Wochenmagazin Korrespondent: 'Die Ausländer haben uns sehr gefallen, weil sie so oft lächeln, und die Ukrainer lächeln selten.'"

Weiteres: Uwe Justus Wenzel stellt klar, dass Martin Mosebach nicht als christlicher Fundamentalist den Schulterschluss mit den muslimischen Fundamentalisten sucht: "Mosebach redet in Wahrheit einem christlichen Gottesstaat das Wort." In Großbritannien stehen in diesem Sommer auch etliche kulturelle Großereignisse an, kann Marion Löhndorf versichern und gibt einen Ausblick auf den Veranstaltungskalender. Besprochen werden das Open Air Festival St. Gallen, Hermann Ungars Roman "Die Klasse" und Nedim Gürsels Roman "Allahs Töchter" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 03.07.2012

Siegt am Ende doch das freie Netz? Moritz Tremmel berichtet auf netzpolitik.org, dass alternative Suchmaschinen immer größere Erfolge feiern: "Spekuliert wird, dass dies mit den Datenschutzskandalen in letzter Zeit zusammenhängt, aber auch mit den Änderungen von Google an ihrer Suchmaschine. Die Suchergebnisse von Google werden zunehmend personalisiert, unter anderem basierend auf Aktivitäten in anderen Google Diensten, zum Beispiel Gmail oder Google+. Bei Ixquick, StartPage und DuckDuckGo gingen die Suchanfragen steil nach oben."

Außerdem auf netzpolitik.org: eine "Erklärung der Internetfreiheit".

Und hier, im freien Internet, kann man Wassily Kandinsky beim Malen zusehen. Der Film wurde laut Open Cultures Mike Springer 1926 von Hans Cürlis in der Berliner Galerie Neumann-Nierendorf aufgenommen:



New Look 2012! Bei Gawker zeigt Jenna Sauers erste Bilder von Raf Simons erster Kollektion für Christian Dior.

TAZ, 03.07.2012

Als wunderschöne Wiederentdeckung feiert Lukas Foerster die Filme des französischen Regisseurs Jean Gremillon, die beim Fetsival Il Cinema Ritrovato in Bologna gezeigt wurden: "'Gardiens de phare' aus dem Jahr 1928, ein später Stummfilm des französischen Meisterregisseurs Jean Grémillon, ist ein ekstatischer Film über das Licht und die Psychose; und also auch ein Film über das Kino."

Weiteres: Hans-Christoph Zimmermann berichtet von der Gründung einer "Akademie der Künste der Welt" in Köln, zu deren Mitgliedern unter anderem der Friedenspreisträger Liao Yiwu, die indische Dokumentarfilmerin Madhusree Dutta, der samoanische Choreograf Lemi Ponifasio, die deutsche Künstlerin Rosemarie Trockel und die israelische Kuratorin Galit Eilat gehören. Micha Brumlik widmet sich in seiner Kolumne einigen Versuchen, radikal zu denken. Besprochen wird eine Retrospektive des Malers Christopher Wool im Pariser Musée de l'art moderne.

Und Tom.

FR/Berliner, 03.07.2012

Micha Brumlik sieht den deutschen Staat nach dem Kölner Beschneidungsurteil vor der Entscheidung und fordert einen rechtlichen Rahmen für diese Praxis. Sonst wären die Konsequenzen unabsehbar, warnt er: "Sollte sich das liberale individualistische Prinzip als höherwertig erweisen, wird freilich aus Gründen der Rechtsgleichheit aller betroffenen Bürger nichts anderes übrig bleiben, als das religionsbezogene Elternrecht insgesamt zu streichen. Das aber hieße nichts anderes, als dass auch Deutschland - wie die USA und Frankreich - zu einem rein säkularen, laizistischen Staat, auch im Bereich von Bildung und Steuern wird."

Außerdem berichtet Ralf Schenk, dass der renommierte ungarische Regisseur Béla Tarr seine Produktionsfirma schließt, um gegen die Kulturpolitik der Regierung zu protestieren von der er ohnehin keine Förderung mehr erwarten kann. Und Steven Geyer und Jörg Schindler unterhalten sich mit Evegeny Morozov über die dunkle Seite des Netzes.

Welt, 03.07.2012

Thomas Lindemann stellt das deutsche Videokriegsspiel "Spec Ops" vor, dass Teilnehmer dazu bringt, sich für ihre Gräueltaten zu schämen. Erstaunlicherweise ist es ein Erfolg. "Die fünf Firmengründer lernten sich Anfang 1986 im 'Haus der jungen Talente' in Ostberlin kennen. Dort wurde damals der erste Computerklub der DDR gegründet... Was nun am Schlesischen Tor in Berlin-Kreuzberg fünf Jahre lang produziert wurde, von zeitweise 100 Menschen, ist eines der aufwendigsten deutschen Kulturprodukte dieses Jahres überhaupt. Es soll um die Welt gehen - und wird es wohl auch: Fachmagazine in den USA sind schon jetzt begeistert."

Weitere Artikel: In der Leitglosse beobachtet Thomas Kielinger fassungslos das Treiben britischer Banken: "... so sehen wir heute nackte Korruption vor uns, betrügerische Intentionen, deren als Erste in dieser Woche Barclays Bank überführt worden ist, die von den amerikanischen und englischen Aufsichtsbehörden zu einer Strafe von 290 Millionen Pfund (circa 330 Millionen Euro) verurteilt worden ist." Sarah Elsing begutachtet das von Ben van Berkel gebaute "Büro der Zukunft" für das Fraunhofer-Institut in Stuttgart. Up. hofft, dass für den von der FAZ gestifteten Michael-Althen-Preis "Texte eingereicht werden, über die sich Althen herzlich gefreut hätte".

Besprochen werden die Ur-Lesung von Elfriede Jelineks "Rein Gold" in München und eine Ausstellung über Napoleons Niederlage bei Waterloo im Museum der Ehrenlegion in Paris.

SZ, 03.07.2012

In einem sehr instruktiven Text zur Beschneidung bei Neugeborenen und älteren Kindern erklärt der Psychoanalytiker und Autor Wolfgang Schmidbauer die medizinischen und psychologischen Folgen: "Kein nachdenklicher und einfühlender Mensch wird es billigen, dass Säuglingen ein Teil ihres Körpers weggeschnitten wird und sie später womöglich in ihren sexuellen Funktionen beeinträchtigt leben müssen. Dass manche dieser Opfer die Beschneidung als sexuelle Bereicherung und hygienische Notwendigkeit propagieren, steht für die Identifikation mit dem Angreifer, die sich bei vielen Traumatisierten beobachten lässt."

Tim Neshitov besucht Bundeswehr-Seminare zur Optimierung der interkulturellen Kompetenz der Soldaten. Fritz Göttler portätiert den "Drive"-Regisseur Nicolas Windig Refn, dem das Filmfest in München aktuell eine Hommage widmet. Florian Welle berichtet von der Münchner Tagung "Migration und künstlerische Produktion". Michael Stallknecht hätte sich bei einer Konferenz auf dem Schloss Elmau über Säkularisierung und Gesellschaft "konkretere Positionen und schärfere Diskussionen" gewünscht. Reinhard Brembeck feiert die Sopranistin Marlis Petersen, die in Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" am Theater an der Wien alle vier Frauenrollen singt. Auch Goethe war der Blasphemie nicht abgeneigt, stellt Gustav Seibt beim Nachblättern fest. Die Beschneidung sei keineswegs so harmlos wie von ihren Verteidigern behauptet, hält der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer diesen entgegen. Sven Brömsel stattet dem Verleger Karl Heinz Henssel zu dessen 95. Geburtstag einen Besuch ab.

Besprochen werden Nicole Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks "Rein Gold" am Prinzregententheater in München und Arne Jyschs Comic "Wave and Smile" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 03.07.2012

Nun nimmt die FAZ doch noch Stellung zu Martin Mosebachs Plädoyer für eine Zensur von Blasphemie und sein Kokettieren mit den Methoden der Islamisten. Dietmar Dath liest es als "Indiz einer nihilistischen Versuchung", die Mosebach "mit autoritären Gesten" abwehre, ja als Unfug: "Martin Mosebach hält sich für gläubig und will, dass man ihn dafür hält. Aber der antike Grieche, der das Zerstören von Zeusstatuen unter weltliche Strafandrohung stellen will, glaubt schon nicht mehr an den Blitz, sondern an den Staat."

Weitere Artikel: Wiebke Huester macht sich Sorgen um das Ballett des ihrer Auskunft nach besten Choreografen Deutschlands, Martin Schläpfer, in Duisburg. Paul Ingendaay wünscht sich ein wenig von der Bescheidenheit, Disziplin und Inspiration der spanischen Nationalmannschaft für das krisengeschüttelte Land selbst. Stefan Schulz verfolgte ine Münchner Diskussion über das Copyright an Filmen, in der sich Helmut Dietl in deutlichen Worten gegen das Netz aussprach. Aus Slate übernimmt das Feuilleton eine Kolumne Evgeny Morozovs über eine Kooperation der amerikanische Regierung mit Amazon. Auf der Medienseite berichtet Oliver Kühn über den Streit zwischen den in der AG Dok organisierten Dokumentarfilmern und den öffentlich-rechtlichen Sendern, die diese Filmer nach Strich und Faden ausnehmen und ihre Werke nicht mal gerne senden. Gemeldet wird, dass Frankreich eine Zwangsgebühr für seine Staatssender nach deutschem Vorbild einführen will.

Besprochen werden ein erstes Stockhausen-Konzert der New Yorker Philharmoniker nach dem 11. September und den Äußerungen des Komponisten zu diesem Ereignis, ein Textmassiv Elfriede Jelineks zu Wagner am Münchner Prinzregententheater, eine Ausstellung der Künstlers Michael Riedel in der Schirn, Jean-Philippe Rameaus Ballett "Platée" in der Regie von Calixto Bieito in Stuttgart, eine Ausstellung über engagierte Architektur in München und Bücher, darunter Philipp Theisohns Essay "Literarisches Eigentum - Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).