Heute in den Feuilletons

Ohne Zustimmung des Zensurapparats

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2012. In der NZZ wünscht sich die ägyptische Autorin Mansura Eseddin echte revolutionäre Kunst: kühn, voranstürmend und überraschend. Das hätten sich auch die Beobachter des Bachmann-Wettbewerbs gewünscht. Der erste Preis für Olga Martynova ging aber okay. Die internationale Kunstszene in China lernt gerade die Bedeutung des Spruchs "Schlachte das Huhn, dann kreischen die Affen", informiert die Welt. Die FAZ porträtiert den Danziger Lyriker und Informatiker Piotr Czerski, der illegale Kopien als kulturelles Erbe des Samizdat versteht.

NZZ, 09.07.2012

Die ägyptische Autorin Mansura Eseddin warnt vor einer oberflächlichen Indienstnahme der Revolution durch die Literatur und wünscht sich echte revolutionäre Kunst: "Wie erfinden wir eine Sprache, die dem Erfahrenen gerecht wird? Die Kunst ist eine schlechte Lügnerin, sie bietet weder Platz für laue Gefühle noch für Übertreibung und wohlfeiles Lob. Sentimentalität und der Druck auf die Tränendrüse passen nicht zur Revolution; sie braucht eine Kunst, die ihr ähnelt: kühn, voranstürmend und überraschend; eine Kunst, die nicht bei der Revolution um Ruhm und Glanz für ihren Schöpfer bettelt."

Etwas mehr Feuer hätte sich auch Roman Bucheli in Klagenfurt gewünscht. Zwar lobt er die Erzählung "Ich werde sagen: 'Hi'", mit der Olga Martynova den Bachmann-Wettbewerb gewann, als "leuchtenden, poetisch klugen und minuziös gewobenen Text". Ansonsten aber habe sich die Klagenfurter Prosa durchgesetzt: "Unterkühlte Temperaturen sind angesagt, alles Leidenschaftliche ist auf gemäßigte Zonen heruntergedimmt, jede Wendung genau bemessen: Als kämen die Autoren aus klimatisierten, staubfreien Studios, wo sie an Reißbrettern von neun bis fünf an ihren Versuchsanordnungen zeichneten." Hier der Text, hier Lesung und Diskussion zu Martynova.

In einem weiteren sehr interessanten Text gibt Franz Haas Einblick in die vatikanischen Intrigen und kündigt mit weitere Enthüllungen durch den Journalisten Gianluigi Nuzzi darüber an, wie der Vatikan vresucht, die EU auszutricksen, um auch künftig keine Steuern auf seine Geschäfte zahlen zu müssen.

Welt, 09.07.2012

China-Korrespondent Johnny Erling erzählt, wie die chinesische KP mithilfe des Zolls und von Steuereintreibern die außer Kontrolle geratende Kunstszene unter Druck setzt. In ihre Fänge geriet auch der wahrscheinlich nichts ahnende deutsche Logistikfachmann Nils Jennrich, der seit hundert Tagen in einer überfüllten Zelle in Untersuchungshaft sitzt: Die Ausländergemeinde in Peking schüttelt entsetzt den Kopf. Bei den Galerien, in Auktionshäusern und unter Kunstinvestoren geht der Spruch um: 'Shaji geihoukan - schlachte das Huhn, dann kreischen die Affen."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings kommt nach dem starken Vorjahr reichlich abgetörnt aus dem Bachmann-Wettbewerb, und auch Olga Martynovas siegreiche Erzählung "Ich werde sagen: 'Hi'" "war sympathisch und komisch, hintergründig und klug durch Auslassung, wäre aber in stärkeren Jahren keinen Bachmannpreis wert gewesen. Es war schlicht der souveränste Text in eine Reihe von interessanten Talentproben". In der Leitglosse erinnert Manual Brug an den Bruckner-Auswalzer Celibidache, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Und im Forum gibt Marko Martin mit Blick auf die haltlose Twitter- und Facebook-Generation den kulturkritischen Onkel.

Besprochen werden eine CD mit Schostakowitschs Fragment gebliebener Farce "Orango "(hätte er sie vollendet, so Manuel Brug, "wäre der Gulag wahrscheinlich noch die sanfteste Option gewesen") und ein Münchner Auftritt der nach Jan Küveler "rätselhaftesten, faszinierendsten Band der Stunde" Polica.


TAZ, 09.07.2012

Laut dem neuen Meldegesetz dürfen Behörden die Meldedaten künftig an Unternehmen verkaufen. Svenja Bergt macht in einem Kommentar darauf aufmerksam, dass diese Praxis, wenn sie von Facebook gepflegt wird, bei deutschen Politikern höchste Empörung auslöst. Zu Unrecht: "Denn während bei einem sozialen Netzwerk jeder selbst entscheidet, welche Daten er - korrekt - angibt und welche er der Werbewirtschaft nicht zur Verfügung stellt, gibt es bei den Meldedaten keine Wahl. Jeder muss, etwa nach einem Umzug, die neuen Daten mitteilen. Sonst riskiert er ein Bußgeld."

Auf der Medienseite fordern die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Oliver Passek die Zeitungsverlage auf, die Öffentlich-Rechtlichen friedlich im Internet expandieren zu lassen. Auf der Meinungsseite versucht Rene Martens zu erklären, warum das geplante Leistungsschutzrecht den Verlegern eher schadet.

Im Kulturteil resümiert Dirk Knipphals ohne große Begeisterung den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und meint zur Preisträgerin Olga Martynova: Ihre Collage ist "ein Text, der niemandem wehtut. Zumindest passt er aber in den diesjährigen Coming-of-Age-Trend." Stefan Reinicke berichtet von der kulturwissenschaftlichen Tagung "Lost in Translation? Europabilder und ihre Übersetzungen" in Berlin.

Besprochen werden ein Konzert von CocoRosie und Rajasthan Roots in Berlin und Caitlin Morans Buch "Wie ich lernte, eine Frau zu sein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 09.07.2012

Judith von Sternburg freut sich über den Bachmann-Preis für Olga Martynovas Sommergeschichte: "Ein abgeklärter und auch ausgebuffter Text, dem im Laufe des Wettbewerbs zudem kaum ein ernsthafter Konkurrent erwuchs." Die Grünen-Politiker Renate Künast und Volker Beck erklären in einem etwas lang geratenen Text, dass sie eine Debatte im Bundestag lancieren wollen, die Rechtssicherheit bei der Beschneidung von Jungen bringen soll.

Eine Meldung informiert uns über den Tod von Ernest Borgnine, den Mann, der noch vor Brigitte Bardot die Zahnlücke im amerikanischen Film populär machte. Hier legt er sich mit Burt Lancaster an:


SZ, 09.07.2012

Christopher Schmidt resümiert den Lesewettbewerb in Klagenfurt, wo es allenfalls vereinzelte Kontroversen gab: "Zum Keulenschwingen gab es schon deshalb ansonsten wenig Anlass, als über den meisten Texten das Verdikt der Harmlosigkeit schwebte." Wenig überrascht ist Schmidt, dass Olga Martynova am Ende ausgezeichnet wurde: "Ihre Lesung hatte am zweiten Tag für einhellige Begeisterung gesorgt. Die Autorin selbst und ihr Text 'Ich werde sagen: Hi!' waren allerdings schon eine Riesen-Überraschung. Denn dieses humoristische Textgespinst auf den Spuren von Daniil Charms lässt sich zunächst so gar nicht greifen." Hier im übrigen alle Wettbewerbsbeiträge zum Nachlesen, hier alle Videoaufnahmen.

Weitere Artikel: Helmut Schödel schließt sich mit recht ätzenden Worten den Schauspielstudenten am Wiener Max-Reinhardt-Seminar an, die gegen die Berufung von Anna-Maria Krassnigg protestieren. Egbert Tholl berichtet vom Mini-Theaterfestival Marstallplan am Residenztheater in München, wo ihm David Gieselmanns Stück "Container Paris" und Robert Niemanns Performance in Heiner Müllers "Hamletmaschine" besonders gut gefallen haben. Philip Kovce blättert bei den großen Namen der Geistesgeschichte die Konzeptgenese der "Uraufführung" nach. Felix Stephan berichtet von einer Konferenz zum Thema Remix und Plagiat im Berliner Literaturhaus. Michael Moorstedt schaut sich auf der Youtube-Konferenz VidCon um.

Besprochen werden neue DVDs, ein Dokumentarfilm über Woody Allen, eine Ausstellung über das Pixar-Studio in der Bundeskunsthalle in Bonn, eine Ausstellung über den Architekten Sou Fujimoto in der Kunsthalle Bielefeld und Bücher, darunter Andreas Urs Sommers "Lexikon der imaginären philosophischen Werke" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 09.07.2012

Wie Versuchanordnungen muteten Jan Wiele viele Texte beim Bachmann-Wettbewerb an, und die Juroren-Frage, ob ein Text "funktioniere" scheint ihm für diese Lage symptomatisch: "Sollen literarische Texte denn wirklich nur Experimente oder schnurrende Maschinchen sein, die das Dechiffrier-Syndikat auf Funktionalität prüft? ". Der Siegerin, der bekannten Journalistin Olga Martynova, gratuliert er für ihre Erzählung "Ich werde sagen: Hi" dennoch - immerhin manifestiere sie als eine der wenigen auch etwas Humor. Hier der Text, hier Lesung und Diskussion.

Stefanie Peter schreibt ein interessantes Porträt des Danziger Lyrikers und Informatikers Piotr Czerski, dessen Artikel "Wir, die Netzkinder" die polnische Anti-Acta-Bewegung inspirierte. In Polen, so Peter, stellt sich diese Bewegung selbstbewusst in den nationalen Zusammenhang: "In Polen haben Raubkopien eine besondere Tradition. Dort gab es einen 'Zweiten' und 'Dritten Umlauf' -, so nannte man Publikationen, die ohne Zustimmung des Zensurapparates gedruckt und inoffiziell verbreitet wurden - und man fragt sich, ob diese Erfahrungen zeitgenössische Praktiken des Kopierens oder die Diskussion um Fragen des Urheberrechts in Polen beeinflussen."

Weiter Artikel: Rose-Maria Gropp feiert die Wiederentdeckung des finnischen Fin-de-siècle-Malers Akseli Gallen-Kallela, dem im Düsseldorfer Museum Kunstpalast eine große Ausstellung gewidmet wird. Dieter Bartetzko mokiert sich über die Caravggio-Ente, die in den letzten Tagen zirkulierte und bald aufflog. Regina Mönch erzählt die Geschichte der Sammlung Goldschmidt mit Almanachen aus der Goethe-Zeit, die der Sammler in der Nazizeit für ein Taschengeld an die Anna-Amalia-Bibliothek verkaufte und die nun von dieser bei den Erben neu angekauft wurde. Klaus Englert stellt das Architektenbüro Nieto und Sobejano (dysfunktionale Architektenwebsite in Flashtechnologie) vor, das mit einigen Museen in Spanien Aufsehen erregt.

Besprochen werden ein Boulez-Konzert in Berlin und Bücher, darunter Sybille Steinbachers Studie "Wie der Sex nach Deutschland kam" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).