Heute in den Feuilletons

In der Hand der Mehrheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2012. In der FR erklärt Martha Nussbaum, warum sie Blasphemiegesetze ablehnt. Zeitungen sind oft auch deshalb wenig innovationsfreudig, weil ihre Chefs der Rente entgegendämmern, meint Raju Narisetti vom Wall Street Journal in themediabriefing.com. Die Deutschen werden die Griechen als Faulenzer am Strand beschimpfen, und die Griechen werden den Deutschen ihre Wirtschaftskrise vorwerfen - schrieb Arnulf Baring im Jahre 1997. Auch der Regisseur Charlie Kaufman finanziert seinen nächsten Film per Kickstarter, meldet Engadget. In NZZ und SZ wird weiter über das Kölner Beschneidungsurteil gestritten.

Aus den Blogs, 13.07.2012

Arnulf Baring schrieb im Jahre 1997 in einem Buch über die kommende Währungsunion (und wird im kath.net dazu interviewt): "Es wird heißen, wir finanzieren Faulenzer, die an südlichen Stränden in Cafes sitzen." Und: "Die Währungsunion wird am Ende auf ein gigantisches Erpressungsmanöver hinauslaufen... Wenn wir Deutschen Währungsdisziplin einfordern, werden andere Länder für ihre finanziellen Schwierigkeiten eben diese Disziplin und damit uns verantwortlich machen. Überdies werden sie, selbst wenn sie zunächst zugestimmt haben, uns als eine Art Wirtschaftspolizisten empfinden. Wir riskieren auf diese Weise, wieder das bestgehasste Volk Europas zu werden." Nachdem er diese These seinerzeit in einem FAZ-Interview verbreitet hatte, so Baring, schickte Helmut Kohl einen wütenden Brief an die fünf Herausgeber dieser Zeitung.

(Via Philipp Otto) Einen überraschenden Grund nennt der Wall Street Journal-Onlinechef Raju Narisetti in themediabriefing.com für mangelnde Innovationsbereitschaft von Zeitungen trotz des digitalen Sturms: "A lot of decisions tend to be made by publishing execs who have a much shorter personal horizon - so as a result have a lot at stake over the next five or ten years, because of their retirement or profit share. That's had a significant impact on media business models and it's still happening. I don't see anyone who's making 10 or 15 year bets and taking short-term hits to make them happen."

Der Autor und Regisseur Charlie Kaufman, bekannt für "Being John Malkovich", lässt sich seinen nächsten Film von der Crowdsourcing-Plattform Kickstarter finanzieren, berichtet Terrence O'Brien in Engagdet: "The roughly 40 minute feature will follow a motivational speaker whose life has become 'hollow and meaningless.' Sounds like a right, fun romp! There's little doubt that the movie will get made -- it's more than half way to its $200,000 goal and there's still more than 50 days left to the funding period. Kaufman is hardly the first big name in Holywood to turn to crowd-sourcing, but he's part of a growing trend of artists bucking the traditional system and sustaining themselves and their craft with direct support from fans."

Das großartige Rotterdamer Architekturbüro MVRDV hat in Dijon einen Sechziger-Jahre-Kasten renoviert, Dezeen bringt Fotos.

FR/Berliner, 13.07.2012

Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum erklärt im Interview, warum sie Blasphemiegesetze ablehnt: "Warum? Weil sie - entgegen dem, was von den Gesetzgebern behauptet wird - am Ende nicht Minderheiten und deren Bekenntnis schützen, sondern zu einem Machtinstrument in der Hand der Mehrheit werden."

Weitere Artikel: Robert Misik stellt das "Occupy Handbook" vor, erleichtert, dass es in Amerika "in der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft heute eine Pluralität und eine Bereitschaft [gibt], Thesen zu verfechten, die dem Big Business nicht gefallen, von der man in unseren Breiten nur träumen kann". Thomas Klein sieht Hollywood schon in China aufgehen. Daniel Kothenschulte gratuliert Harrison Ford zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Minimal-Art-Ausstellung im Museum Wiesbaden, ein Konzert des Pianisten Kirill Gerstein beim Rheingau-Festival und Anne Chaplets Krimi "Erleuchtung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 13.07.2012

Christian Stöcker beschreibt die "zwei Gesichter des Copyright-Kriegs": "Peter Sunde fleht um Gnade, Kim Dotcom verhöhnt die US-Justiz. Sunde, verurteilt wegen Beteiligung an The Pirate Bay, wird wohl ins Gefängnis gehen. Dotcom, Multimillionär dank Megaupload, lebt auf einem Anwesen in Neuseeland. Beide sehen sich als Kämpfer für Internetfreiheit. Zu Recht?"

Weitere Medien, 13.07.2012

(via longform) Vanity Fair hat David Kemps schöne Reportage von 2004 über die Zusammenarbeit von Johnny Cash und Rick Rubin online gestellt. Die beiden wurden so vertraut miteinander, dass sie täglich am Telefon gemeinsam die Heilige Kommunion feierten. "From the moment their collaboration was announced, it caused a stir - at first, just for the odd-couple novelty of their pairing: the Man in Black, confirmed citizen of Nashville, and the inscrutable ZZ Top-lookin' dude who founded the hip-hop label Def Jam records in his New York University dorm room with Russell Simmons and later made a name for himself as a producer of hard-rock acts such as AC/DC, Slayer, and Danzig. But no one was less fazed by the seeming incongruity of the new alliance than Cash - 'I'd dealt with the long-haired element before and it didn't bother me at all,' he commented, drolly adding that he found 'great beauty in men with perfectly trained beards'."

Das kam dabei raus:


Welt, 13.07.2012

Eva Munz erzählt in einem sehr persönlichen Artikel von der Begegnung mit einem traumatisierten Afghanistan-Veteranen in der New Yorker U-Bahn und ahnt, dass der Krieg zu einem der Wahlkampfthemen wird. Tim Ackermann fragt, wer für 120 Millionen Dollar Munchs "Schrei" ersteigert hat und an welches New Yorker Museum er das Gemälde wohl stiften wird - das im übrigen in den dreißiger Jahren womöglich einem jüdischem Sammler billig abgeknöpft wurde. In seiner Feuilleton-Kolumne fragt Marc Reichwein nach der Herkunft des Begriffs Feuilleton selbst.

Besprochen werden einer der letzten Konzertauftritte der großen Edita Gruberova und ein Berliner Konzert der ebenfalls "in Würde gealterten" Patti Smith.

NZZ, 13.07.2012

Joachim Güntner fasst die Debatte um das Kölner Beschneidungsurteil zusammen und tendiert zur Seite der Urteilsbefürworter. Schließlich spiele, so seine originelle Auslegung der betreffenden Bibelstelle, die religiöse Funktion der Beschneidung für die im Bezirk des betreffenden Landgerichts (wo das Urteil gilt) lebenden Juden eigentlich keine Rolle: "Der Bund, den die Beschneidung bekräftigt, besteht darin, dass die Israeliten Gott anerkennen und dass Gott ihnen das Land Kanaan, worin Abraham noch 'als Fremdling weilt', zum Eigentum gibt. Im Zentrum stehen also, hält man sich an die biblische Überlieferung, Gottesverehrung auf der einen, eine Landnahme auf der anderen Seite. Dieser Bund hat viel zu tun mit dem Palästinakonflikt, jedoch noch nichts mit der Stiftung einer moralischen Grundordnung."

Weiteres: Hans-Jörg Neuschäfer schildert den Fall des vor einem Jahr verschwundenen und jetzt wieder aufgetauchten "Codex Calixtinus". Susanne Ostwald schenkt Harrison Ford zum 70. Geburtstag ein Porträt. Ronald D. Gerste hat sich die Ausstellung "1812: A Nation Emerges" in der National Portrait Gallery in Washington DC angesehen. Urs Hafner berichtet aus Lindau, wo Nobelpreisträger mit jungen Forschern diskutieren und, wie er hofft, "manchem Lebensweg eine entscheidende, leuchtende Wende geben". Auf Pop & Jazz werden das das Münchner Musik-Label Trikont und eine neue CD-Reihe zur Geschichte des Doo Wop vorgestellt.

TAZ, 13.07.2012

Frauen wollen in der Arbeitswelt Anerkennung und Wertschätzung. Geld ist nicht so wichtig, behauptet Gisela A. Erler, Firmengründerin und Ministerin der grün-roten Regierung in Stuttgart, in einem Gespräch über ihr gerade erschienenes Buch "Schluss mit der Umerziehung": "Hören Männer das Wort Belohnung, so denken die meisten von ihnen sofort an eine Gehaltserhöhung. Wer jedoch glaubt, er könnte Frauen allein mit Geld motivieren, ist auf dem Holzweg. Ihnen ist das Arbeitsklima oft wichtiger." (Aber nur, wenn sie einen gut verdienenden Ehemann haben!)

Besprochen werden das in einem alten Steinbruch uraufgeführte Stück "PUZ/ZLE" des flämischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui beim Theaterfestival Avignon und ein Kölner Konzert von US-Soul-Sänger D'Angelo.

Und Tom.

SZ, 13.07.2012

Ralf Bönt will die Dominanz der Religion, wie sie von Martin Mosebach (hier) und Navid Kermani (hier) gefordert wird, nicht akzeptieren: Bei der Beschneidung "handelt es sich um eine irreversible körperliche und seelische, nämlich sexuelle Enteignung allerersten Ranges, nach der man sich in Mosebachs Logik des verbliebenen Restes von Persönlichkeit umso mehr erfreuen sollte. Und sie geschieht voller Kalkül: Kulturübergreifend ist der Eingriff die Initiation eines Männerlebens, in dem das Individuum stört. Mit der Vorhaut schneidet man schließlich die männliche Empfindlichkeit und deren Schutz ab: Man kehrt den Mann nach außen, ins Ungeschützte." Glücklicherweise hat Bönt den Text auf seiner Website dokumentiert.

Von dem Versprechen, die digitalen Medien böten Frauen ganz neue Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die bei der DLD-Women-Konferenz in München begeistert in den Raum gerufen wurden, hält Alexandra Borchardt nicht allzu viel: "Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, dass Frauen das perfektionieren, worin sie schon immer großartig waren: Sie werden die Arbeitsbienen der digitalen Welt."

Weitere Artikel: Michael Stallknecht attestiert dem West-Eastern Divan Orchestra nach einem von Daniel Barenboim dirigierten Beethoven-Konzert, "dass dieses Orchester inzwischen auf Weltniveau mitspielt." Philip Kovce berichtet von der Tagung "Menschbilder und Ökonomie" an der Universität Witten. Helmut Mauró würdigt den Komponisten Enjott Schneider. Tobias Kniebe gratuliert Harrison Ford und Jens-Christian Rabe Roger McGuinn von den Byrds zum je 70. Geburtstag. Auf der Medienseite beschreibt Benjamin Zeeb in einem sehr detaillierten und kenntnisreichen Artikel neue Werbeformen im Netz.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Faber-Castell-Preisträgern im Neuen Museum in Nürnberg, eine Ausstellung über jüdische Migranten aus der Sowjetunion im Jüdischen Museum in München und Bücher, darunter eine neue Biografie über Friedrich Engels von Tristram Hunt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.07.2012

Jürg Altwegg beleuchtet die französische Kontroverse um Michel Onfrays Plädoyer in Le Point für den wenig bekannten Philosophen Jean Soler, der den Juden vorwirft, mit dem lieben Gott auch gleich den Genozid miterfunden zu haben. Altwegg fragt, ob Onfray sich bewusst war, "wie sehr sein Plädoyer für Jean Soler an das Lob der neofaschistischen nouvelle droite auf den griechischen und germanischen Polytheismus erinnert. ... [Er] führt seinen 'totalen Krieg gegen den Monotheismus' als Historikerstreit, bei dem es nicht mehr um den Vergleich von Stalinismus und Nationalsozialismus geht, sondern um die Kausalität des Völkermords von der Bibel zu Auschwitz." (Mehr zu der Debatte in unserer Magazinrundschau.)

Weitere Artikel: In China stößt das Plädoyer des Kurators Hans-Ulrich Obrist für mehr Entschleunigung ("Post-Hastimus") nicht nur auf positive Reaktionen, berichtet Mark Siemons, der zahlreiche kritische Stimmen von chinesischen Künstlern und Intellektuellen aus dem Netz sammelt. Skandalös findet es Dieter Bartetzko, dass die Pinakothek in München bereits zehn Jahre nach ihrer Eröffnung saniert werden muss. Christian Geyer berichtet von einem Beethoven-Konzert des West-Eastern Divan Orchestra für den Papst. Dirk Schümer besichtigt den wiederhergerichteten "Kaiserflügel", Sissis Gemächer im Prokurazienpalast. Kristof Schreuf beobachtet beim Berliner Konzert von Patti Smith, wie die Künstlerin "in der Rockgeschichte Platz nimmt wie auf einem Sofa". Im Video steht sie allerdings:



Besprochen werden Bogdan George Apetris Film "Periferic" und Bücher, darunter ein neuer Gedichtband von Derek Walcott (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).