Heute in den Feuilletons

Aus den Wutnetzen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2012. In der NZZ sucht Alfred Brendel den historischen Kompromiss zwischen Carl Philipp Emmanuel Bach und Denis Diderot. Die taz ist sich sicher: Dass die Muslime ihre Knaben weiter beschneiden dürfen, haben sie den Juden zu verdanken. Die New York Times bereitet die Meldung um syrische Massaker mit Hilfe sozialer Medien auf. Der ehemalige FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp ist entsetzt über die geplante Schleifung der Berliner Gemäldegalerie. Aber schließlich ist die neue Pinakothek ja auch marode.

Aus den Blogs, 14.07.2012

Die amerikanische Regierung macht sich Sorgen, dass Syrien seine chemische Waffen aus dem Arsenal holen könnte, berichtet Thomas Osten-Sacken im wadinet: "In der Region Nahost verfügt Syrien über das größte Potenzial an chemischen Waffen. Ein Großteil dessen machen dabei die Nervenkampfstoffe Sarin und Senfgas aus. Giftgas und arabische Welt, war da nicht etwas? Das irakische und libysche Gas jedenfalls konnte nur mit tätiger deutscher Hilfe produziert werden. Und wie sieht's mit Syrien aus?"

FR/Berliner, 14.07.2012

Nach ihrem Interview mit der Gema im Juni hat Birgit Walter nun auch einen freundlichen Anruf von Google mit einigen richtigstellenden Hinweisen erhalten, die Walter dazu veranlassen, auch im Hinblick auf die von zahlreichen Clubs als existenzgefährdend eingeschätzte Abgabereform ihre Kritik an der Gema nochmals zu bekräftigen: "Das kann sich nur ein Monopolist erlauben. Da wird ein Staatsferne-Prediger schnell zum Rufer nach dem Staat, damit sich nicht ein einzelner Verein als Behörde aufspielen und in das gesellschaftliche Leben eingreifen kann, unkontrolliert. "

Außerdem: Im Gespräch mit Nikolaus Bernau und Christian Thomas weist Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Kritik (etwa hier und hier) an den Umzugsplänen für die Alten Meister aus der Gemäldegalerie in ein Zwischen-Provisorium weit von sich. Thomas Guthmann erfährt in den Workshops des Filmfestivals in Sansibar viel über die Probleme, mit denen sich die lokalen Filmemacher konfrontiert sehen. Besprochen wird die Ed-Ruscha-Retrospektive im Kunsthaus Bregenz.

NZZ, 14.07.2012

Vorabgedruckt wird aus einem Pianisten-Alphabet Alfred Brendels, der in punkto "Rührung" einen historischen Kompromiss schließt: "Carl Philipp Emanuel Bach sagte, dass nur ein Musiker, der selbst gerührt sei, andere rühren könne. Dagegen steht Diderots und Busonis Position, ein Schauspieler oder Musiker, der andere rühren wolle, dürfe nicht selbst gerührt sein, denn er verlöre die Kontrolle über seine künstlerischen Mittel. Seien wir beides zugleich."

Weitere Artikel: Lisette Gebhardt beobachtet die japanische Anti-Atom-Bewegung, in der Künstler eine wichtige Rolle spielen. Wissenschaftsphilosoph und -historiker Ulrich Kühne ist irgendwie enttäuscht über die Entdeckung des Higgs-Bosons. Besprochen werden eine Ausstellung über niederländisches Design im Vitra Design Museum und Bücher, darunter Hanna Kralls neues Buch "Rosa Straußenfedern" (Leseprobe bei "Vorgeblättert")

In Literatur und Kunst legt der Berliner Sinologe Hans Kühner in einem längeren Essay dar, warum die radikale Abwendung von der alten Kultur in China schon vor Mao begann. Einige Artikel sind der Architektur gewidmet: Oliver G. Hamm porträtiert den spanischen Architekten Francisco Mangado. Besprochen werden Architekturausstellung über Aldo Rossi in Venedig, über Sou Fujimoto in der Kunsthalle Bielefeld und über Städtebau im Württembergischen Kunstverein.

TAZ, 14.07.2012

Ulrike Winkelmann ist froh, dass Jungen bald legal beschnitten werden dürfen, wenn die Bundesregierung die Sache gesetzlich geregelt hat. Gut, dass auch jüdische Religionsvertreter protestiert haben, meint sie: "Es ist Unsinn, wenn jüdische Glaubens- und Verbandsvertreter einen zweiten Holocaust kommen sehen, nur weil drei Kölner Richter die Praxis der Beschneidung unter areligiösen Aspekten bewertet haben. Wirksam waren die entsprechenden Einlassungen allemal - wer weiß, wie schnell die Bundesregierung sich bewegt hätte, wenn nur Muslime protestiert hätten."

Weitere Artikel: Emilia Smechowski lauscht in Hamburg Esther Bejarano, die Auschwitz überlebt hat und heute in der HipHop-Band Microphone Mafia singt. Im Gespräch verrät der Klimatologe Michael E. Mann Ingo Arzt, mit welchen Einschüchterungsversuchen er seit seinem Engagement für eine bessere Klimapolitik zu kämpfen hat und dass Atomenergie auf dem Weg zur flächendeckenden Energieversorgung durch erneuerbare Ressourcen zumindest eine Übergangslösung sein könnte. Ilka Kreuzträger und Steffen Grimberg beobachten den Prozess gegen die ehemalige NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze, die sich für den Ankauf selbstverfasster Drehbücher verantworten muss. Ulrike Fokken besucht die Fotografin Vera Lentz in Lima. Andreas Busche erlebt beim Berliner Konzert des Voodoomusikers Dr. John eine "überfällige, hitzige Lektion in New-Orleans-Musikgeschichte". Rosemarie Nünning lässt die Grillen Sommerfest feiern.

Besprochen werden Bücher, darunter der ägyptische Comic "Metro Kairo Underground" von Magdy El-Shafee und eine Biografie über Mark Twain von Thomas Fuchs (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 14.07.2012

Ulrich Clauss rümpft die Nase: "Die Querelen um das Meldegesetz zeigen: Das Internet macht aus Politikern Vollstrecker des 'Shitstorm'. Es geht nicht mehr um Argumente, sondern nur noch um die Besänftigung von gesteuertem Furor." Und mehr noch: "Die Ausflüsse dieser liquid democracy, die aus den Wutnetzen in die Politik sickern, riechen gar nicht gut", so Clauss in dieser Qualitätszeitung des Springer-Konzerns, die sich aus Erträgen des Gossen-Blatt nährt.

In der Literarischen Welt erzählt Hanns-Josef Ortheil, wie bei ihm einem mühe- und lustvollen Prozess aus einem Haufen Notizen ein Roman wird. Peter Stefan Jungk zeichnet französische Diskussionen um Halal-Schlachtungen nach, deren Produkte in Frankreich inzwischen ganze Supermarktregale füllen. Jacques Schuster annonciert zwei vielbändige Weltgeschichten, die bei Fischer und C.H. Beck vorbereitet werden. Otfried Höffe bespricht Ronald Dworkins "Gerechtigkeit für Igel". Besprochen werden außerdem Philipp Grimberts Roman "Ein besonderer Junge", zwei Basel-Krimis von Hanjörg Schneider, Yfaat Weiss' Buch "Verdrängte Nachbarn" über Haifa und John Vaillants Buch "Aus der Wildnis" über die gefährdeten Urwälder Nordamerikas.

Im Feuilleton erklärt Alan Posener, "warum die Entdeckung des Higgs-Teilchens nicht nur Nerds angeht". Sascha Lehnartz bedauert mitteilen zu müssen, dass das Pariser Ritz für zwei Jahre schließt. Hans-Georg Rodek unterhält sich mit dem Fantasy-Film-Experten Rolf Giesen, der in der chinesischen Stadt Changchun ein Kinomuseum leitet Und Elmar Krekeler geht mit der Hanser Berlin-Verlegerin Elisabeth Ruge ins Sale & Tabacchi.

Weitere Medien, 14.07.2012

(Via Wolfgang Blau) Interessant, wie die New York Times online mit Hilfe der Auswertung sozialer Medien und mit einem Aufruf, weiteres Material zu twittern und zu posten, die neuesten Meldungen um Massaker in Syrien aufbereitet: "Watching Syria's War."

14. Juli. Noch so ein Shitstorm.


FAZ, 14.07.2012

"Bilderstürmer als Kuratoren", ein "trostloser Kulturbeauftragter", ein ignoranter Chef der Preußen-Stiftung, ein "brachiales Planungsdesaster". Eduard Beaucamp, der ehemalige Kunstkritiker der FAZ, ist entsetzt von der geplanten Schleifung der Gemäldegalerie in Berlin: "Einen solchen Handstreich gab es bislang noch nicht. Er wirkt wie ein Nachspiel aus dem West-Berliner Subventionstreibhaus der Nachkriegszeit: Man gibt ein sehr schönes, passgenaues Haus, eine weiträumige, lichtvolle Museumskathedrale mit Kapellenkranz nach wenigen Jahren wieder auf, verwirft den erreichten Idealzustand und zieht ihm die Verschlechterung und den Abstieg vor."

Weitere Artikel: Jürgen Dollase besucht für seine Gastro-Kolumne das Restaurant Enzo von Jean-Claude Bourgueil in Kaiserswerth, der besser italienisch koche, als es Italiener je vermöchten. Johanna Roth verfolgte die Bamberger Poetikdozentur Thomas Glavinic'. Auf der Medienseite empfiehlt Thomas Thiel eine Dokumentation über die Salafisten in Deutschland am Montag im Ersten. Auf der letzten Seite fragt Sebastian Balzer, wie das Attentat von Utoya vor einem Jahr und der nachfolgende Prozess gegen den Täter die norwegische Gesellschaft veränderten. Und auf Seite 1 der Zeitung singt Alfons Kaiser eine Loblied auf die Modestadt Berlin.

Besprochen werden Bücher, darunter Gedichte der frischgebackenen Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova und Tanzereignisse in Avignon.

In Bilder und Zeiten zieht Dimitrios Kisoudis mit Hilfe astrologischer Begriffe allen Ernstes eine Linie zwischen dem 20. Juli 1944 und anderen Ereignissen der deutschen Geschichte, die ebenfalls auf diesen Kalendertag fielen. Hubert Spiegel besucht das wieder hergerichtete Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Aus einem Buch des FAZ-Kritikers Gehard Stadelmaier über Schauspieler wird das Vorwort abgedruckt. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite werden Rachmaninow-Aufnahmen mit Swjatoslaw Richter und eine Woody-Guthrie-Hommage Billy Braggs vorgestellt. Für die letzte Seite interviewte Marli Feldvoß den Filmemacher Todd Haynes, der sich gerade in München aufhielt.

Für die Frankfurter Anthologie liest Insa Wilke ein Gedicht Rolf Dieter Brinkmanns "Stille Post:

Die kleinen
Dinge, sie liebte sie so,
verwachsen damit, wie sie war (…)"

SZ, 14.07.2012

Weder Architekten, noch Statiker oder der angeblich minderwertige Baustoff Stahlbeton sind, Gottfried Knapp zufolge, für den blamablen Sanierungsbedarf der Pinakothek der Moderne in München nach gerade mal zehnjährigem Bestehen verantwortlich zu machen: "Die Misere des öffentlichen Bauens in Deutschland - zumal bei Kulturbauten, die von einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit für verzichtbar gehalten werden - erwächst in peinlich vielen Fällen aus dem Sparzwang, dem Neubauten der öffentlichen Hand immer entschiedener unterworfen sind; aber auch aus den bewusst nach unten gedrückten falschen Zahlen, mit denen bei Planungen von Kulturhäusern gerne operiert wird."

Außerdem: Tim Neshitov streift durch die Ausstellungsräume der Kabuler Dependance der Documenta. Deren Kurator Aman Mojadidi gibt Neshitov unterdessen im Gespräch Auskunft über die (nicht sonderlich rosigen) Bedingungen, unter denen afghanische Künstler arbeiten. Jens-Christian Rabe spricht mit dem Münchner Musiklabelbetreiber Jay Rutledge, der bei der Produktion des neuen Albums (Hörprobe) von Bassekou Kouyaté in Mali von politischen Unruhen überrascht wurde. Alexander Menden bewundert bei der Londoner Pressekonferenz zum fünfzigjährigen Bestehen der Rolling Stones Keith Richards' auch im Alter konsequente Haltung zum Lidstrich. Die Berufung des Designers Dieter Rams zum Ehrenprofessor der TU München findet Laura Weissmüller begrüßenswert. Claus Biegert rühmt Woody Guthrie, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Dazu sein berühmtester Song (und sein berühmtester Gitarrenaufkleber):



Besprochen werden eine Ausstellung über Raum und Wissen antiker Kulturen im Pergamonmuseum in Berlin, die Stephan Speicher als "große Kiste" sehr unterhaltsam findet, und Bücher, darunter eine Reihe "kluger Bücher" über neuere Fernsehserien, deren Lektüre Jan Füchtjohann von Herzen empfiehlt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Für die SZ am Wochenende liest sich Alex Rühle einmal quer durch die Inserat-Beschreibungen von abgeschotteten Nobelimmobilien in den Großstädten, die mit blumiger Rhetorik den Begriff gated communities umschiffen. Zum französischen Nationalfeiertag legt Johannes Willms dar, warum die Nation in Frankreich einen ungebrocheneren Stellenwert genießt als in Deutschland. Und Claudia Tieschky plauscht mit Wolfram Siebeck.