Heute in den Feuilletons

Unterernährt, gegängelt, gelangweilt und unglücklich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2012. In der FR erklärt der Kunsthistoriker Jeffrey Hamburger, warum er eine Petition gegen die Schleifung der Berliner Gemäldegalerie lancierte. Die Welt hat nichts dagegen, die alten Meister ins Depot wandern zu lassen: Denn Berlin ist eine Stadt der Moderne. The American Scholar hat mitgeschrieben, was Jorge Luis Borges in seinen späten Jahren über das Lesen sagte. Der Guardian besucht die Buchmesse in Hargeisa, Somaliland. In der FAZ schafft Thilo Sarrazin den Euro ab.

FR/Berliner, 17.07.2012

Als eines der "Fernsehereignisse des Jahres" annonciert Götz Aly in seiner FR/Berliner Zeitungs-Kolumne Georg M. Hafners Dokumentation über die antisemitischen Anschläge von München 1970. Vor allem geht es um den Anschlag auf ein jüdisches Altenheim am 13. Februar des Jahres. Die Dokumentation geht unter anderem der Frage nach, ob der Anschlag, wie das misslungene Attentat auf das jüdische Gemeindehaus im Jahr zuvor, im Kreis um Rainer Kunzelmann ersonnen wurde. Aly zitiert die entsetzte Reaktion des Frankfurter SDS auf diesen linksantisemitischen Anschlag: "Eine geplante Demonstration gegen den Besuch des israelischen Außenministers sagte der SDS sofort ab. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die Frankfurter Spitzen der Neuen Linken befürchteten (wussten?), dass Gesinnungsgenossen den siebenfachen Mord in München begangen hätten. Heute zwingt ein solches Dokument zu einer weiteren Frage. Wann endlich werden Verfassungsschutz, BND, Innenministerium und Bundeskanzleramt alle ihre Geheimakten aus dieser Zeit freigeben?"

Die geplante Schleifung der Berliner Gemäldegalerie, die zu einem Museum des 20. Jahrhunderts umfunktioniert werden soll, während die alten Meister in Erwartung eines Neubaus meistenteils ins Depot wandern sollen, hat Widerstand von unerwarterer Seite gezeitigt. Der Kunsthistoriker Jeffrey Hamburger von der Harvard University hat auf change.org eine Petition gegen den Plan lanciert, der bereits von 10.000 Personen unterzeichnet wurde. Heute antwortet Hamburger auf die Verteidigung der Idee durch Hermann Parzinger von der Preußen-Stiftung in der FR vom Samstag. Vor allem will Hamburger Parzingers Zeitangaben nicht trauen: "Die Erfahrung mit den Planungen der Stiftung - siehe Pergamonmuseum, Neues Museum, Staatsbibliothek - lehrt, dass ihre Umsetzung leicht mehr als zehn Jahre dauern kann. Währenddessen auch nur ein Viertel oder gar die Hälfte der Sammlung der Gemälde ins Bodemuseum zu pferchen, ist schlicht unannehmbar."

Welt, 17.07.2012

Es ist richtig, die Berliner Gemäldegalerie zu einem Museum für Moderne Kunst umzubauen, findet Tim Ackermann, auch wenn die Alten Meister ein paar Jahre darunter leiden müssen: "Berlin braucht ein Museum der Moderne, weil Berlin eine Stadt der Moderne ist. Vor 1700 hat sie auf der Weltbühne keine Rolle gespielt. Berlin fand erst im 19. Jahrhundert zu sich selbst. Vom 20. Jahrhundert dann ist die Metropole wie keine zweite geprägt worden. Man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass die Kunst der Alten Meister in dieser Stadt immer retrospektiv gesammelt wurde. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts haben dagegen auch in Berlin gewirkt. Nur zu sehen ist die dazugehörige Kunst so gut wie nicht."

Weiteres: In der Glosse berichtet Hanns-Georg Rodek über einen Streit um ein "Raging Bull"-Sequel. Jan Küveler erinnert an den vor 25 Jahren tödlich verunglückten Autor Jörg Fauser. Richard Herzinger empfiehlt eine "atemberaubende" ARD-Dokumentation der Terror-Vorgeschichte von München 1972. Besprochen wird eine Ausstellung des Malers Vilhelm Hammershoi in der Münchner Hypo-Kunsthalle.

TAZ, 17.07.2012

Meike Laaf stellt das Buch "Inside Anonymous" der Forbes-Journalistin Parmy Olson vor, die vehement dem Bild der großen Schwarmmacht ("Wir sind Legion") widerspricht, das Anonymous gern von sich zeichne. Tatsächlich gebe eine kleine Kerntruppe einer etwas größeren Fußtruppe die Richtung vor: "'Die wohl größte Manipulation gelang der Gruppe wohl damit, die Menschen an die Macht der kollektiven Intelligenz glauben zu lassen', schreibt Parmy Olson im Fazit."

Weiteres: Aktivist und Autor Raul Zelik eruiert die Vorteile der Liquid Democracy gegenüber der Räterepublik. Stefanie Grimm schickt Eindrücke vom Melt!-Festival. Julia Grosse schnappt in der Londoner U-Bahn Verschwörungstheorien rund um Olympa 2012 auf. Katrin Bettina Müller besichtigt die Retrospektive zu Diane Arbus in Berlin.

Und Tom.

Weitere Medien, 17.07.2012

(via 3 quarks daily) George Watson, Fellow am St. John's College in Cambridge, hat in The American Scholar notiert, was Jorge Luis Borges bei seinem letzten Aufenthalt zwei Jahre vor seinem Tod in Cambridge sagte. Zum Beispiel dies: "Sprachen lernen ist ein physisches Vergnügen. Worte sind irgendwie persönlich und verblüffend. Meine beste Geschichte ist 'The Book of Sand', die keinen Anfang und kein Ende hat. Wir lesen nicht, um das Ende zu erfahren. Schließlich lesen die Leute Geschichten mehrmals, darum kann man unmöglich glauben, sie läsen, um zu erfahren, wie die Geschichte endet."

(via BoingBoing) In New York waren sich Reich und Arm einig: Der Versuch des Bürgermeisters Bloomberg, Maxi-Softdrinks zu verbieten, ist genau die Art von Kindermädchenstaat, die wirklich niemand braucht. Hinter dem Verbot, schreibt die Literaturwissenschaftlerin und Spezialistin für "plebejische Kochkünste" Christine Baumgarthuber in Dissent, steht die Überzeugung, dass die Armen (die Reichen werden nur selten dick), wenn sie eine Wahl haben, immer das Falsche wählen. Aber das stimmt so nicht, so Baumgarthuber mit Verweis auf die Viktorianer. Heute essen die Armen schlecht, weil sie arm sind und die Nahrungsmittelindustrie billige, schmackhafte Nahrung bereitstellt, schreibt sie und zitiert Orwell: "'Ein Millionär mag ein Frühstück aus Orangensaft und Haferkeksen genießen. Der Arbeitslose nicht', so Orwell. 'Wenn man arbeitslos ist, das heißt, unterernährt, gegängelt, gelangweilt und unglücklich, dann will man kein flaues gesundes Essen. Man will etwas mit Geschmack...'."

NZZ, 17.07.2012

Andrea Köhler stellt eine Studie zu kulturellen Großprojekten in den USA vor, derzufolge 80 Prozent der Neu- und Erweiterungsbauten aus den Jahren 1994 bis 2008 das Produkt "grandioser Fehlkalkulationen" waren. Wie sie - auch selbstkritisch - einräumt, blieb der berühmte erhoffte Bilbao-Effekt eigentlich überall aus: "Insgesamt wurden in den Jahren zwischen 1994 und 2008 über 16 Milliarden Dollar verbaut; dabei überschritt die Anzahl der Neubauten im kulturellen Sektor bei weitem jene von Krankenhäusern oder von Ausbildungsstätten. Es wird unmissverständlich deutlich, dass die meisten kulturellen Organisationen ihre prestigeträchtigen Pläne nur deshalb ausführten, weil andere es vorgemacht haben. 'Keeping up with the Joneses', zu Deutsch: 'Unbedingt mit den Nachbarn mithalten müssen', spottete die New York Times. Insofern liefert diese aufschlussreiche Recherche auch das psychologische Porträt einer Zeit, deren Folgen wir heute ausbaden müssen."

Weiteres: Gabriele Detterer berichtet vom Fall des Hochstaplers Antonino Cardillo, der seine virtuellen Architekturentwürfe als echte Bauten ausgab, damit die Hochglanzmagazine füllte und dies heute als intellektuelle Wette gegen die Manipulationstechniken der Medien ausgibt. Joachim Güntner erinnert daran, dass vor hundert Jahren mit Rilkes "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" die Insel-Bücherei begonnen wurde. Marcus Stäbler war auf dem Kammermusikfest Lockenhaus. Besprochen werden Janet Frames Familienporträt "Wenn Eulen schrein" und Beryl Bainbridges nachgelassener Roman "Die Frau im gepunkteten Kleid" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Krankenhaus, New York, USA

Weitere Medien, 17.07.2012

In Hargeisa, Somaliland, findet gerade zum fünften Mal eine inzwischen sehr erfolgreiche Buchmesse statt, erzählt Mark Tran im Guardian. Aufgebaut hat sie Jama Musse Jama, ein in Italien lebender Computerwissenschaftler: "Jama started the book fair not only to ensure the survival of Somaliland's rich oral tradition, but to fill what he saw as a cultural void. 'It is unacceptable that in this city there is no national theatre and no cinema. There is nothing for young people to do,' he said. Somaliland has about 3 million inhabitants with up to 70% aged under 30. Jama wants the arts to provide a healthy alternative for the young to chewing khat - the ubiquitous drug in the region - or worse, following the siren call of al-Shabaab, the Islamist militants in Somalia."

Ebenfalls im Guardian versucht Charlotte Higgins, mit dem Künstler Tino Sehgal über dessen neues Projekt zu sprechen, das in einem der Tanks der Tate Modern gezeigt werden soll: "In London's great temple to precious objects and talismanic artefacts, Sehgal will create something that has no physical, material form. 'Attention is the material I work with,' he says. In a previous piece, This Progress, seen at the ICA in London in 2006 and at the Guggenheim in New York four years later, visitors were met at the entrance by a small child, who asked them what they understood by the idea of progress. They were then handed over to a teenager and then, step by step, to other interpreters of increasing age - until you reached the top of the building, all the while in conversation."

Aus den Blogs, 17.07.2012

Auf achgut.de erzählt Hannes Stein die Geschichte eines "Antisemitismus der Vernunft", die für ihn in der aktuellen Debatte um Beschneidung gipfelt: "Die atheistischen-oder agnostischen-Kämpfer gegen den 'finsteren mittelalterlichen Aberglauben' werden von den meisten Leuten immer noch als Lichtgestalten betrachtet." (Die "Fundamentalisten der Aufklärung", da sind sie wieder - und diesmal werden sie ausgerechnet von der Achse des Guten abgeschossen!)

Für Jörg Lau zeigt der Beschneidungsfall noch etwas ganz anderes. Er glaubt in seinem Blog, dass sich die Kölner Oberstaatsanwältin nicht getraut hätte, gegen einen jüdischen Mohel vorzugehen: "Es fällt in Deutschland einfach leichter, Muslime über ihr 'Barbarentum' zu belehren als Juden", meint Lau: "Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche."

SZ, 17.07.2012

Johan Schloemann hat noch immer viel am Kölner Beschneidungsurteil zu bemäkeln: So verkenne "eine extreme Fixierung auf die individuellen Rechte kleiner Kinder (...) vollkommen, dass Kinder auch in Gemeinschaften, in religiöse und kulturelle Traditionszusammenhänge hineingeboren werden". Und deren Rechte wiegen in Einzelfällen, Schloemann zufolge, offenbar mehr als die des Kindes. Ansonsten "müsste auch die christliche Kindstaufe unter Druck geraten". Warum auch nicht?

Weitere Artikel: Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja sieht im Gespräch mit Frank Nienhuysen den russischen Protest gegen Putin trotz deutlicher Erschlaffungsanzeichen noch nicht an sein Ende gekommen. Alexander Menden besucht die Eröffnungsveranstaltung der Tanks, der Erweiterungsbauten der Tate Modern in London. Jens Bisky besucht in Potsdam die Konferenz "Stadt der Ströme", auf der Kulturwissenschaftler über öffentlich-urbanen Raum diskutierten. Gottfried Knapp beklagt den Schwund detaillierter Stadtpläne zugunsten rein funktionaler Orientierungshilfen für die rasche Durchfahrt. Kristina Maidt-Zinke berichtet von einer Weimarer Initiative, die auf dem Parkplatz, an dessen Stelle einst Bachs Komponistenstube stand, einen Gedenkbau errichten will. Joseph Hanimann berichtet vom Festival in Avignon, wo er zuweilen "ins Leere einer elektronischen Installation" applaudierte. Heiner Lünstedt berichtet von der Comic-Con in San Diego, die sich von einer Comicfan-Messe längst zur Promobühne für Hollywood-Blockbuster verwandelt hat. Sybil Gräfin Schönfeldt fühlt sich vor den Riesenmöbeln der "Alice im Wunderland"-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle selbst ein wenig wie Alice. Bei Youtube finden wir einen frühen, vom Kinderbuch inspirierten Disney-Cartoon, der in Hamburg ebenfalls zu sehen ist:



Besprochen werden Bücher, darunter Theodor W. Adornos Vorlesung über "Philosophie und Soziologie" aus dem Jahr 1960 (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Online meldet die SZ, dass Jon Lord von Deep Purple seinem Krebsleiden erlegen ist. In seinem offiziellen Youtube-Kanal finden wir eine Aufnahme, in der er "Child in Time" am Piano begleitet:

FAZ, 17.07.2012

Thilo Sarrazin fasst auf einer Seite nochmal die Thesen seines letzten Buchs zusammen: Europa braucht den Euro nicht, eine Abschaffung der gemeinsamen Währung wäre für alle Partner das beste: "Der Übergang zu einer gemeinsamen europäischen Währung war im Wesentlichen der Eitelkeit Frankreichs geschuldet. Frankreich war die starke D-Mark ein Dorn im Auge. Aber es scheute zurück vor einer Politik, die den Franc ebenso stark gemacht hätte wie die D-Mark. Das allein und das unerklärliche Agieren Helmut Kohls 1990 bis 1992, der die Wirkungen einer gemeinsamen Währung überhaupt nicht überblickte, haben uns den Euro beschert."

Weitere Artikel: Winfried Klein berichtet, dass in der Pforzheimer Fürstengruft des Hauses Baden, nach der Feststellung, dass sie dem Land gehört und damit zugänglich ist, ausgerechnet die Särge fehlen, die Aufschluss über die Geschichte Kaspar Hausers geben könnten. Hans-Christian Rössler berichtet vom Jerusalemer Filmfestival, das den letztjährigen Sommer der Proteste aufarbeitet. Auf der Medienseite empfiehlt Jochen Hieber eindringlich eine Dokumentation Georg M. Hafners über den Terroranschlag auf ein Altersheim in München 1970.

Besprochen werden Konzerte des Kissinger Sommers, eine Ausstellungsreihe mit karibischer Kunst in New York und Bücher, darunter Helon Habilas Nigeria-Roman "Öl auf Wasser" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).