Heute in den Feuilletons

Schamanen der Wirbellosen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2012. Die FR interviewt den Affenforscher Volker Sommer, der gleichzeitig Theologe ist. GQ macht sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage des Guardian. In Le Monde nimmt Thomas Ostermeier die Generation aufs Korn, die ihr Herz links und ihr Portemonnaie rechts trägt. Die FAZ schildert, wie das Putin-Regime die Opposition mit Blasphemievorwürfen unterdrückt.

FR/Berliner, 20.07.2012

Volker Sommer, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Reinhardwald "mit seinen mächtigen Eichen, in dem die Märchen der Brüder Grimm spielen", erklärt Arno Widmann im Interview, wie er Affenforscher und Theologe wurde: "Wenn meine Eltern auf dem Feld arbeiteten, habe ich deshalb im Wald gespielt. Wo die wilden Tiere sind: Schnecken, Ameisen, Schmetterlinge, Käfer. In den Grimmschen Märchen können die Menschen ja mit Tieren sprechen. Das war in meinem Kopf auch so und wuchs sich zu einer Naturreligion aus. Die Tiere und ich waren eine verschworene Gemeinschaft. Ich war der Schamane der Wirbellosen."

Besprochen werden die Uraufführung von Detlev Glanerts Oper "Solaris" bei den Bregenzer Festspiele und Bücher, darunter Norbert Scheuers Roman "Peehs Liebe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 20.07.2012

Thomas Ostermeier hat gerade in Avignon Ibsens "Volksfeind" inszeniert. Nicolas Truong interviewt ihn in der Sommerlochserie von Le Monde zur Frage, wie die Kunst auf die Krise reagieren soll. Ostermeier sagt, er wolle die "Fragen unserer Generation stellen. Die Fragen der jungen Leute von 30 bis 40 in den großen europäischen Städten. Jene Generation, die ihr Herz links und ihr Portemonnaie rechts trägt, die die Welt verändern will, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, ohne die Konfrontation mit der Macht zu suchen, zum Beispiel."

Welt, 20.07.2012

Andreas Rosenfelder sieht mit der Scheidung Tom Cruises und Katie Holmes' das Ende der Liaison von Hollywood und Scientology gekommen. In der Leitglosse konstatiert Marko Martin, dass Berlin bei jungen Israelis zwar in Mode ist, dass sie sich von Berlinern dafür aber nicht selten Vorträge über den bösen Zionismus anhören müssen. In seiner Feuilletonkolumne denkt Marc Reichwein anlässlich der Beschneidungsdebatte über das Wesen der Feuilletondebatte an sich nach. Besprochen werden ein Album der Punkband Gaslight Anthem, Detlev Glanerts Oper "Solaris" bei den Bregenzer Festspielen und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" in Avignon.

Aus den Blogs, 20.07.2012

(via Jezebel) Am Mittwoch wurde die erste Kollektion aus Nelson Mandelas Modelinie 466/64 in New York vorgestellt. 466 war Mandelas Nummer auf Robben Island, (19)64 das Jahr seiner Inhaftierung, meldet Jada Wong auf Styleite: "Mandela wasn't present at the unveiling of the line at the South African Consul General in New York, but licensor Brand ID pulled off a great event. South African vocalist Lira and international model Sam Sarong are the two faces of the brand, which was founded in 2011, and the pair werked it on the runway. The ladies, dudes, and kids lines include tops, bottoms, and outerwear in bold hues and prints."

(via open culture) In den letzten dreißig Jahren seines Lebens litt Auguste Renoir an rheumatischer Arthritis, die seine Finger verkrümmte und ihn in den Rollstuhl zwang. Aber gemalt hat er dennoch, wie man in diesem Film von 1915 über den damals 74-jährigen Maler sehen kann. Der junge Mann hinter ihm, der ihm Pinsel und Palette reicht, ist sein Sohn Claude (14):



Es gibt noch eine ganze Reihe wahrscheinlich wunderbarer Videos bei Open Culture, zum Beispiel einen Film über den Besuch Frieda Kahlos und Diego Riveras bei Trotzki in Mexiko 1938 oder ein Film über Claude Monet, der 1915 in seinem berühmten Garten in Givenchy arbeitet, doch leider sind diese Videos, die Musik von ... beinhalten, "in Deutschland nicht verfügbar, da die Gema die Verlagsrechte hieran nicht eingeräumt hat". Besten Dank, ihr Kulturbewahrer!

Weitere Medien, 20.07.2012

Verdient man mit Qualitätsjournalismus Geld? Wenn ja, müsste der Guardian die reichste Zeitung der Welt sein. Tatsächlich macht er riesige Verluste. In der britischen Ausgabe von GQ beschreibt Nicky Woolf die wirtschaftliche Situation des Guardian, die - wie sich im letzten Drittel des Artikels entpuppt - dann doch nicht ganz so dramatisch ist, wie Überschrift und Unterzeile nahe legen. Andere Sachen nerven mehr. David Leigh, Teamleiter für Investigatives beim Guardian, beschreibt die Lage nach der Aufdeckung des Abhörskandals bei der News of the World so: "'Wir sind im Augenblick alle etwas genervt, denn wenn man sich die Verbrecher in dieser Sache ansieht, stellt man fest, dass ihnen nichts passiert ist. Colin Myler, der den Abhörskandal vier Jahre lang vertuscht hat, ist jetzt Redakteur bei der New York Daily News. Die zwei Polizisten, Stephenson und Yates, die wegen ihres Fehlverhaltens den Dienst quittieren mussten, haben laut der Daily Mail dafür eine halbe Million Pfund Entschädigung kassiert, Yates ist für einen großen Geldbetrag als Berater nach Bahrain gegangen. Die Aktien von News Corp stehen höher als je zuvor, und Rebekah Brooks scheint allen Informationen nach mehrere Millionen Pfund für ihren Rücktritt erhalten zu haben.'"

Und auch dies ist nicht schön: Im Juli 2011, als der Skandal um die News of the World auf dem Höhepunkt war, sanken laut Bloomberg im Netz die Besucherzahlen des Guardian um 2,5 Prozent, während die Zahlen der Klatschmedien Daily Mail und Sun um 5,2 bzw. 15 Prozent stiegen.

TAZ, 20.07.2012

Wie viel Marketing verträgt eigentlich ein Film, fragt Oliver Kaever anlässlich der seelenlosen Kinderbuchverfilmung "Der Lorax". Besprochen werden das Debütalbum "Channel Orange" des kalifornischen Sängers Frank Ocean, und das Album "I Can See The Future" der kalifornischen Singer-Songwriterin Eleni Mandell.

Und Tom.
Stichwörter: Can, Ocean, Frank, Oceane

NZZ, 20.07.2012

Marion Löhndorf spricht mit dem Designer Tom Dixon über britisches Design. Marc Zitzmann zieht eine ernüchterte Bilanz vom 66. Festival d'Avignon. Besprochen werden die Uraufführung von Detlev Glanerts Oper "Solaris" bei den Bregenzer Festspielen, das Album "A Curva da Cintura", das die Brasilianer Arnaldo Antunes und Edgard Scandurra mit Toumani Diabaté in Mali aufgenommen haben, sowie die Graphic Novel "Niemandsland" des französischen Comic-Zeichners Blexbolex (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 20.07.2012

Gustabv Seibt dekliniert den Vorschlag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung für eine Vermögensabgabe durch und bleibt höchst skeptisch - in Griechenland werde übrigens gerade ein entsprechender Versuch gemacht, der im Begriff sei, zu scheitern. Im Streit um den für die Alten Meister in Berlin vorgesehenen Umzug plädiert Jens Bisky für eine klärende Tagung, "auf der Kritiker, Kuratoren, Restauratoren zu Wort kommen, auf der Argumente zählen und nicht haushaltspolitische Zufälle." Eine ganze Reihe von Literaturtipps hat Wolfgang Schmidbauer für Albrecht Schilling parat, der Schmidbauers Darlegungen, wie problematisch und gefährlich die Beschneidung sei, vergangene Woche als "Polemik und Unsinn" hingestellt hat. Thomas Steinfeld ist sehr skeptisch, was die Pläne des dänischen Theaterchefs Christian Lollike betrifft, Anders Behring Breiviks "Manifest" auf die Bühne zu bringen. Die Schriftsteller müssen "Beobachter der Zeit" sein, fordert die Autorin Anna-Katharina Hahn in ihrer (gekürzt dokumentierten) Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis. Reinhard Brembeck porträtiert Alexander Pereira, den neuen Chef der heute beginnenden Salzburger Festspiele. Max Scharnigg genießt beim Konzert von Santigold deren Reibeisenstimme, "wenn sie nicht nur treibt und shoutet, sondern auch Zartheit kennt".

Besprochen werden ein vom Steidl Verlag auf den Markt gebrachtes Parfüm, das Christopher Schmidt zufolge kaum "nach einem druckfrischen Buch riecht", eine Ausstellung über die Götter des antiken Griechenland in der Münchner Glyptothek, Thomas Ostermeiers Ibsen-Inszenierung "Ein Volksfeind" beim Festival in Avignon und John Freelys wissenschaftshistorisches Buch "Platon in Bagdad" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 20.07.2012

Im Sommer rüsten sich die russischen Staatsorgane zum repressiven Backlash gegen die diversen Anti-Putin-Protestbewegungen, beobachtet Kerstin Holm, die eine ganze Reihe von Übergriffen und Strategien vorstellt. Bemerkenswert ist dabei auch die Anklageschrift gegen die feministische Punkband Pussy Riot, deren harmloses Herumhüpfen in einer Kirche nun anhand von sieben Bände umfassendem Belastungsmaterial vor Gericht diskutiert wird. In der Schrift ist "vom 'beträchtlichen Verlust heiliger christlicher Werte' und der 'blasphemischen Herabwürdigung jahrhundertealter Grundlagen der Russischen Orthodoxen Kirche' die Rede, also von Dingen, die kein Gesetzbuch kennt. Rechtsgelehrte sind entsetzt." Martin Mosebach dürfte dem wahrscheinlich weit wohlwollender gegenüber stehen.

Weitere Artikel: Constanze Kurz freut sich, dass es der Öffentlichkeit doch noch gelungen ist, in der Diskussion um die Meldegesetzreform "ein wenig Sand ins gut geölte Getriebe der Lobbyrepublik zu streuen". Frank Lübberding relativiert Rainer Meyers Polemik gegen die Berliner Digitalbohème, deren Forderungen nach sozialer Absicherung durchaus berechtigt sei, wünscht sich aber auch ein Engagement für bessere Arbeitsbedingungen jenseits ihres Milieus. Lena Bopp trifft sich mit dem französischen Autor David Foenkinos. Andreas Platthaus schreibt den Nachruf auf den Bassisten Bob Babbitt.

Besprochen werden Stephen Frears' neuer Film "Lady Vegas", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" beim Festival in Avignon, eine Ausstellung über den Architekt Sou Fujimoto in der Kunsthalle Bielefeld und Bücher, darunter Ann-Maerle Hennings und Tina Bremer-Olszewskis Aufklärungsbuch "Make Love" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).