Heute in den Feuilletons

Kritik und Selbstkritik an Krücken

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2012. Die FAZ liest kurz vor Bayreuth aktuelle Auseinandersetzungen zum Thema Wagner. Die SZ fürchtet die Entortung Bayreuths durch die Kinoübertragungen - und mehr noch leere Sitze in Bayreuth selbst. In Libération erzählt Friedenspreisträger Boualem Sansal, wie ihm in Algerien zugesetzt wird, seitdem er eine Einladung nach Israel angenommen hat. LA Times und Wall Street Journal streiten über die Frage, wer das Internet erfand. In der taz beschreibt der Männerforscher Matthias Franz den eigentlichen Sinn der Beschneidung.

Welt, 25.07.2012

In der Beschneidungsdebatte empfiehlt Thomas Lindemann Riad Sattoufs Comic "Meine Beschneidung", der schon vor einem Jahr erschienen ist und in Syrien spielt: "Dem Buch des Zeichners Rattouf geht es nicht um die Abwägungen, von denen plötzlich alle sprechen, nicht um Religiosität oder Säkularität. Sondern eher um Angst. Um einen autoritären, brutalen Vater. Um gnadenlosen Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe von Schulfreunden. Die Beschneidung ist also auch hier ein Symbol. Allerdings das einer streng hierarchischen Gesellschaft in Vorderasien."

Bayreuth-Regisseur Jan Philipp Gloger möchte jetzt eigentlich nicht mehr über Nazi-Tattoos reden, von denen er auch gar keine Ahnung hatte, sondern lieber, und leicht banal, über seine Inszenierung des "Fliegenden Holländers": "Das hat viel mit unserer heutigen Welt zu tun, die den Menschen immer mehr Mobilität und Flexibilität abverlangt. Der Holländer ist denkbar als Figur innerhalb unserer heutigen, hyperbeschleunigten Arbeitswelt, die unter dieser Welt leidet."

Weitere Artikel: Tilman Krause findet es ja doch ein bisschen traurig, dass gewandelte Außenseiter in Bayreuth keine Chance mehr haben. In der Glosse mokiert sich Jan Küveler über einen unverständlichen Gema-Nachlass. Alan Posener verlangt mit Blick auf das eine Prozent mehr Konkurrenz. Besprochen wird eine Ausstellung zur Muse und Mäzenatin Misia Sert im Pariser Musée d'Orsay.

TAZ, 25.07.2012

Im Interview mit Heide Oestreich erklärt der Psychotherapeut Matthias Franz noch einmal, wie traumatisierend die Beschneidung für Jungen ist: "Wenn Jungen mit fünf oder sechs Jahren beschnitten werden, befinden sie sich in der Konsolidierungsphase ihrer sexuellen Identität. Das Genital ist narzisstisch und libidinös hoch besetzt. Genau in diese Phase fällt die rituelle Kastrationsandrohung der Beschneidung. Kulturgeschichtlich unterstellt dieses Ritual Sexualität dem Primat des Patriarchats. Die Drohung heißt im Erleben vieler Jungen: Wenn du nicht tust, was Gott und deinem Vater gefällt, könntest du wieder beschnitten werden. Der Junge kann seine Eltern dafür nicht offen kritisieren."

Die Kunstkritikerin und Mitherausgeberin der Kulturzeitschrift Idea, Raluca Voinea, erklärt im Interview mit Bert Rebhandl, wie sie die Lage in Rumänien sieht: "Ich bin keine Ökonomin, deswegen kann ich das schwer einschätzen. Das mag zutreffen, wenn man der Meinung ist, dass die EU unserem Land die richtige Richtung vorgibt. Aber mehr und mehr Menschen haben daran Zweifel. Rumänien ist stark ländlich geprägt, und viele der Regulierungen der EU dienen vor allem der Sicherung der Marktmacht der großen Länder."

Besprochen werden Christopher Nolans Batman-Blockbuster "The Dark Knight Rises" und Téa Obrehts Roman "Die Tigerfrau".

Und Tom.

FR/Berliner, 25.07.2012

Dirk Pilz kritisiert in der Beschneidungsdebatte die Kritiker der Religion: "Religionen scheinen die säkulare Moderne besonders zu ärgern, weil sich eine ihrer zentralen Selbsterzählungen bislang nicht bewahrheitet hat: Die Religion ist in der Moderne keineswegs verschwunden, sie macht auch keine entsprechenden Anstalten."

Außerdem erklärt Robert Kaltenbrunner, "was es braucht, um Stadt und Architektur zukunftsfest zu machen".

NZZ, 25.07.2012

Ronald Gerste rekonstruiert die Anfänge des amerikanischen Waffenrechts, das zum großen Fluch der USA wurde, aber von Gründervater James Madison als eminentes Freiheitsgut verfasst wurde: "Es seien Tyranneien - gemeint waren damit europäische Monarchien -, die sich vor einem waffentragenden Volk fürchteten, nicht Republiken wie die noch beinahe experimentelle Staatsform der dreizehn ehemaligen britischen Kolonien in Nordamerika. Sein Nachbar und Freund Thomas Jefferson stimmte zu. Um sich fit zu halten, empfehle er das Gewehr: 'Dem Körper gibt es zwar nur leichte Ertüchtigung, doch dem Geist gibt es Kühnheit, Unternehmungslust, Unabhängigkeit.'"

Besprochen werden die Ausstellungen zu Friedrich II. in Potsdam und Berlin, Volker Reinhardts Studie über Niccolò Machiavelli, Christos Tsiolkas' Roman "Nur eine Ohrfeige" und Udo Bermbachs Studie zur Wagner-Rezeption in Deutschland (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 25.07.2012

(via Open Culture) 1988 gab die französische Zeitung Le Figaro fünf Kurzfilme in Auftrag, die von außen einen Blick auf Frankreich werfen sollten. Beauftragt wurden David Lynch, Werner Herzog, Andrzej Wadjda, Luigi Comencini und Jean-Luc Godard. Auf Youtube kann man jetzt Lynchs halbstündigen Slapstick "The Cowboy and the Frenchman" sehen. Harry Dean Stanton spielt den äußerst schwerhörigen Cowboy Slim, Jack Nance ("Eraserhead") den Franzosen. Musik und Tanz lösen traumartig alle Missverständnisse auf:



(via 3 quark daily) Richard Wall porträtiert eine der großen Kurtisanen des 20. Jahrhunderts: den Amerikaner Denham Fouts. "Denny Fouts (1914-1948) was handsome, charming, witty, entertaining and moody. He didn't have money himself, but lived luxuriously off the wealth and infatuation of others. He played a starring role in the pre-war aristocratic bohemian scene in Europe, where the fun was extravagant and being gay was just fine. Denny amazed and inspired such literary greats as Truman Capote, Gore Vidal, Christopher Isherwood, Somerset Maugham and Gavin Lambert, and his personality sparks the fiction, memoirs, diaries and letters of the most noted authors and artists of his day."

Weitere Medien, 25.07.2012

Bereits vor einer Woche erschien in Libération ein Interview mit Boualem Sansal, dem Friedenspreisträger des letzten Jahres, der heftigen Ärger bekommen hat, nachdem er vor einigen Wochen Israel besuchte. Ein mit 15.000 Euro dotierter Literaturpreis der arabischen Botschaften wurde ihm aberkannt. Und über die Situation in Algerien sagt er: "Meine Situation ist seitdem noch schlimmer geworden. Bei einigen politischen Führern und Intellektuellen hat die Reise eine Art primitiven und sehr beunruhigenden Hass ausgelöst. Als wäre es die Erbsünde, nach Israel zu reisen. In der Kabylei dagegen, der einzigen Region, die Widerstand leistet, bin ich quasi ein Nationalheld. Sie betrachten mich als Rebellen und Résistant."

(Via Matthias Rascher) Was Schönes zum Hören: eine Radioreportage von BBC 4 über die "erstaunliche Liebe der Finnen zum Tango": "This is Tangokatu, or Tango Street, in Seinajoki - a small town three hours' train ride north of Helsinki. Seinajoki's main street has been renamed especially for the tango festival, which is the highlight of the Finnish tango calendar."

Wer hat das Internet erfunden? Hat die amerikanische Regierung einen Anteil daran? Darüber tobt eine Kontroverse in amerikanischen Zeitungen. Nein, meint Gordon Crovitz im Wall Street Journal, Ja, und zwar gewaltig, meint Michael Hiltzik in der LA Times: "I know Bob Taylor, Bob Taylor is a friend of mine, and I think I can say without fear of contradiction that he fully endorses the idea as a point of personal pride that the government-funded ARPANet was very much the precursor of the Internet as we know it today. Nor was ARPA's support 'modest,' as Crovitz contends. It was full-throated and total."

Aus Angst vor urheberrechtlichen Streitigkeiten hat die Deutsche Nationalbibliothek ihr Portal mit deutsch-jüdischen Periodika aus der NS-Zeit abgeschaltet, berichtet David Pachali bei irights.info. "So bleiben Exilpresse und die Periodika-Sammlung bis auf weiteres offline. Forscher und Mitarbeiter von Museen und Bibliotheken sind verärgert. 'Das war ein tolles Portal', sagt Annette Haller, Geschäftsführerin der Kölner Bibliothek Germania Judaica. Für die Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte bedeute es 'einen herben Verlust'. Sie ist vor allem verwundert, dass die Seite mehr oder weniger sang- und klanglos abgeschaltet wurde, obwohl es über Jahre keine Probleme gab."

SZ, 25.07.2012

Die erste Seite ist dem Grünen Hügel in Bayreuth gewidmet: Egbert Tholl trifft beim Termin mit Jan Philipp Gloger einen "ungemein ernsthaft und vorsichtig" wirkenden, zuweilen ins Stocken geratenden "Holländer"-Regisseur. Michael Stallknechts Freude über Kinoübertragungen und DVD-Editionen aus dem Spielhaus wird von der Sorge getrübt, ob diese "Ent-Ortung" nicht doch am Mythos der einst elitär abgeschotteten Bayreuth-Aufführungen kratze. Reinhard Brembeck skizziert die Krise des Spielhauses unter der Führung der Geschwister Eva und Katharina Wagner und mutmaßt, ob mit ihnen die Wagner-Dynastie an ihr Ende kommt. Olaf Przybilla präzisiert die Sache: Nicht aktuelle Nazi-Tattoo-Skandale mindern den Glanz, sondern abflauendes Interesse, wie er im vergangenen Jahr bei der "Meistersinger"-Inszenierung beobachtete: "Man muss sich das vorstellen: Da inszeniert die Chefin des Hauses, Katharina Wagner, das historisch wohl heikelste Werk ihres Urgroßvaters, der Grüne Hügel müsste nun bersten. Am Ende aber bleiben die Sitze leer."

Weitere Artikel: In Afghanistan besucht Tim Neshitov Shakespeare-Aufführungen, die wegen ihrer Seltenheit geradezu großgesellschaftliche Ereignisse darstellen. Jürgen Berger übermittelt einen Zwischenbericht vom Theaterfestival in Avignon. Ira Mazzoni begrüßt es sehr, dass sich eine Konferenz über partizipative Kunstvermittlung wieder "explizit den stofflichen Qualitäten der Objekte" zugewendet hat. Unausgegoren und wirr kommen Henning Klüver die Sparpläne der italienischen Kulturpolitik vor.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Allein die Wüste", in dem Jan Füchtjohann viel Sand sieht, Tino Sehgals Performance "These Associations" in der Tate Modern in London und Bücher, darunter Rainer Becks Hexenprozess-Roman "Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 25.07.2012

Eleonore Büning wendet sich dem ewigen Thema "Richard Wagner und die Juden" zu, guckt eine Ehrenrettung des Komponisten durch Stephen Fry auf der BBC, liest eine Rehabilitation Wagners durch Alain Badiou (der ja vor einigen Jahren auch schon die Judenfrage erledigt hatte), findet es Quatsch, den Sänger Evgeny Nikitin aus Bayreuth zu verbannen, weil er eine gar nicht mehr sichtbare Jugendsünde auf der Brust trägt, und kommt mit Blick auf Bayreuth, trotz inszenatorischer Versuche der Vergangenheitsbewältigung zu dem Ergebnis: "Bayreuth ist, bis heute, ein Ort der Identifikation geblieben, es ist kein Ort der Reflexion. Hier gehen Kritik und Selbstkritik an Krücken, und die Verhältnisse pflegen sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchzusetzen. So kommt es, dass die entscheidenden Argumente zum Fall Wagner seit Jahrzehnten anderswo ausgetauscht werden."

Hier Frys Wagner, eine Stunde lang:



Weitere Artikel: Oliver Tolmein fordert nach dem Göttinger Skandal eine Reform des Transplantationswesens in Deutschland. Der Historiker Hans-Christof Kraus bezieht den überlegenen Standpunkt geostrategischen Denkens, um zu erklären, worum es im Syrien-Konflikt wirklich geht (nämlich um Russland gegen Amerika). Hannes Hintermeier kommentiert den Trend zum "Selfpublishing" auf dem Büchermarkt, der zu den wenigen expansiven Tendenzen in der Branche zählt. Joachim Lottmann erklärt, warum es Schriftstellern schwerfällt, in den Urlaub zu fahren. Auf der Medienseite äußert sich Nina Rehfeld einigermaßen enttäuscht über die plumpen Dialoge in der Serie "Political Animals" mit Sigourney Weaver als Hillary Clinton.

Besprochen werden Joseph Vilsmaiers "Bavaria"-Bilderbogen und Bücher, darunter zwei Neuerscheinungen zu den den Olympischen Spielen 1972 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).