Heute in den Feuilletons

Amor, amor, amor

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2012. Die Welt erinnert die Kritiker des Umbaus der Gemäldegalerie an ihre Lobeshymnen für eben diesen Plan vor 13 Jahren. In der NZZ versteht der Biochemiker Gottfried Schatz nicht mehr, was im Cern passiert. Die SZ bewundert das neue Traumpaar der Oper, das sich in der Salzburger "Boheme" zusammenfand. In der FAZ wirft Gertrud Höhler Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre "Ego-Karriere" vor.

Welt, 03.08.2012

"Verlogen" findet Cornelius Tittel die fast schon hysterische Kritik (etwa hier und hier) am Umbau der Berliner Gemäldegalerie in ein Museum für Moderne Kunst und den geplanten Umzug der Alten Meister auf die Museumsinsel. Denn dieselben Kritiker, die das heute für Teufelszeug halten, stimmten den Umzugsplänen 1999, als sie erstmals vorgestellt wurden, begeistert zu: "Eduard Beaucamp, der Grandseigneur der deutschen Kunstkritik, feiert in der FAZ 'die neuen, verlockenden, für Berlin geradezu befreienden Pläne'. In der Berliner Zeitung sieht Nikolaus Bernau 'die Chance noch einmal und gründlicher zu planen als 1991'. Und im Tagesspiegel schreibt Nicola Kuhn, es bestehe kein Zweifel, dass die sich nun 'unerwartet bietende Chance zur behutsamen Revidierung falscher Entscheidungen ergriffen werden muss'. Die Pläne seien ein: 'Befreiungsschlag.'"

Da kann Damiano Michieletto seine Salzburger "Boheme" noch so kaurismäkimäßig unterkühlt servieren, spätestens im dritten Akt schmilzt Manuel Brug dahin: "Es ist noch mehr der Moment der Netrebko, die eigentlich nichts macht, nur ist, Klang wird. Sie brennt dieser verlorene Seele Mimì vor einer riesenhaft vergrößerten Nummer der Pariser Notrufzentrale eine vokale DNA ein, wie man sie vielleicht seit den großen Tagen Mirella Frenis nicht mehr so einfach und richtig zugleich, so edel und doch zurückgenommen gesungen erlebt hat. Das lässt sich dann auch im Finale nicht mehr intensivieren. In der zur Zwangsräumung bereiten Absteige, wo alle zynisch die Früchte ihrer brotlosen Kunst zerstören, kippt Mimi einfach auf den dreckigen Boden, verlässt uns ohne Herzschmerz-Allüre."

Weitere Artikel: Jan Küveler amüsiert sich in der Leitglosse über den Fall des New-Yorker-Autors Jonah Lehrer, der sein Buch "Imagine" mit erfundenen Zitaten von Bob Dylan garniert hat, wobei auch Dylan es mit der kreativen Wahrheit nicht immer allzu genau nahm. Etwa bei seinem Gedicht "Little Buddy": "Er hatte es Zeile für Zeile beim Countrysänger Hank Snow abgekupfert. Dessen ungeachtet setzte er stolz seine Signatur darunter: Bobby Zimmerman. Später klaute er behutsamer..." Ulf Poschardt war dabei, als Rainald Goetz in Berlin froh und stolz seinen Wirtschaftsroman "Johann Holtrop" der Presse vorstellte. Und Marc Reichwein widmet sich in seiner Feuilletonkolumne dem K wie Krisenländer.

TAZ, 03.08.2012

Ingo Arend fragt sich beim Besuch der Ausstellungen "Malerei der ungewissen Gegenden" im Frankfurter Kunstverein und "Malerei in Fotografie" im Städel Museum, "warum das Gestische der Malerei so unter Ideologieverdacht steht". Aram Lintzel berichtet, Rainald Goetz habe bei der Presse-Präsentation seines neuen Romans "Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft" eine "mitreißende Hymne auf die Materialität des Buches an sich" gehalten. Besprochen werden außerdem Sylvain Estibals Komödie "Das Schwein von Gaza" ("ein irrwitziger Film, der einen ausweglosen Konflikt auf die Essenz einkocht", urteilt Susanne Messmer) sowie neue Alben von Lucrecia Dalt, Sebastien Tellier, Sun Araw & M. Geddes Gengras meet the Congos und Nite Jewel, die gemeinsam haben, "dass die Künstler retro als künstlerisches Mittel gegen die Aktualitätsfixierung und Authentizitätsfixierung des Mainstream einsetzen", wie Julian Weber feststellt. Nancy Waldmann spricht mit Jurek Owsiak, dem Gründer des Open-Air-Festivals "Haltestelle Woodstock".

Und Tom.

NZZ, 03.08.2012

Die Naturwissenschaften stecken in der Krise, beklagt der emeritierte Biochemiker Gottfried Schatz: Ihre Sprache wird immer unverständlicher, während ihre Entdeckungen immer abstrakter werden. Selbst Spezialisten können naturwissenschaftliche Fortschritte inzwischen kaum noch nachvollziehen: "Schon längst verstehen nur wenige Eingeweihte, was die unterirdischen Riesenmaschinen am Cern uns verkünden sollen oder was kurz vor dem Urknall geschah... Immer häufiger beantwortet die Natur unsere Fragen mit mathematischen Formeln, die den meisten von uns ebenso unverständlich und unvorstellbar sind wie ein vierdimensionaler Würfel oder die Heilige Dreifaltigkeit."

Weiteres: Ursula Seibold-Bultmann hat eine Ausstellung mit Fotografien von Landscape-Artist Andy Goldsworthy in den Opel-Villen in Rüsselsheim besucht. Sven Ahnert berichtet von Wolfgang Tschökes Arbeit an der Neuübersetzung von "Gargantua et Pantagruel", dem Opus magnum des französischen Renaissance-Dichters François Rabelais. Sieglinde Geisel porträtiert das vor 25 Jahren gegründete Übersetzerkollektiv Druck-Reif. Im Phono-Spektrum gratuliert Max Nyffeler dem deutschen Label Wergo zum 50. Geburtstag und Marco Frei stellt neue Aufnahmen mit Kompositionen von Friedrich Cerha vor.

Weitere Medien, 03.08.2012

Auf der 25 Titel umfassenden ebook-Bestseller-Liste der New York Times finden sich diese Woche gleich sieben im Eigenverlag veröffentlichte Werke, berichtet Alison Flood im Guardian: "'We knew this day was coming. Self-published ebook authors are landing on the New York Times bestseller list in a big way [and] lightning struck multiple times this week,' said Mark Coker, founder of Smashwords - which worked with all four of the authors to publish or distribute their ebooks - on his blog."
Stichwörter: Ebooks, New York, New York Times

SZ, 03.08.2012

Auch Wolfgang Schreiber erliegt dem Glanz der Stimmen in der Salzburger "Boheme": "Wenn Netrebko leise 'Mi chiamano Mimi' intoniert und mit dem Partner am ersten Aktschluss musikalisch zum höhensicheren Aufschrei 'Amor, amor, amor' zusammenfindet, verkörpert sie eine Künstlerkraft, die überzeugt. Ihr Sopran ist jetzt in ein dunkleres Timbre gehüllt, rund ausgeleuchtet, flexibel in der Stimmführung, flammend ohne Schärfe in strahlender Höhe. Sie und der schlank-metallene Tenor des Polen Piotr Beczala, der sein Jugendfeuer heldisch-elegant vertritt, sind das, was der Boulevard jetzt als das 'neue Traumpaar' der Oper zu feiern hat." (Wieso nur der Boulevard???)

In der Beschneidungsdebatte wirft Heiner Bielefeldt der religionskritischen Seite diverse rhetorische Grenzüberschreitungen vor: "Die Selbstinszenierung heroischer Tabubrecher, die ihre Unerschrockenheit durch kulturkämpferische Verbalradikalismen unter Beweis stellen, läuft (...) auf eine Karikatur von Aufklärung hinaus."

Weitere Artikel: Gustav Seibt erinnert daran, dass sich auch in der Vergangenheit Völker davor gefürchtet haben, für andere zahlen zu müssen. Diedrich Diederichsen feiert Anthony Hagerty, die "bislang wichtigste Stimme des 21. Jahrhunderts". Laura Weissmüller begutachtet das von David Chipperfield sanierte Gesellschaftshaus Palmengarten in Frankfurt. Astrid Mania berichtet von der dritten Biennale für junge Kunst in Moskau. Lothar Müller besucht die feierliche Übergabe der Leseexemplare von Rainald Goetz' neuem Roman "Johann Holtrop" an die Presse. Stephan Speicher meldet, dass sich im Berliner Streit um den Umzug der Gemäldegalerie nun auch frühere Direktoren der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu dem Vorhaben skeptisch zu Wort gemeldet haben.

Besprochen werden der französische Kriminalfilm "Who killed Marilyn?" und Bücher, darunter Henning Mankells Roman "Erinnerungen an einen schmutzigen Engel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 03.08.2012

Nur harte Worte findet Gertrud Höhler in einer ganzseitigen Abrechnung mit dem von "ethischem Relativismus" geprägten Politikstil Angela Merkels, in der Höhler einen neuen, wachsweichen und zugleich autoritären "Typus des Ego-Politikers" an der Macht sieht: "Keiner ihrer Kollegen und Vorgänger hat das Tableau seiner Themen so entschieden unter eine einzige Prämisse gestellt - den persönlichen Machtzuwachs - wie Angela Merkel. ... Die Ego-Karriere rangiert in jedem Fall vor dem Wohl des Landes und vor Europa. Noch kein deutscher Staatschef hat so kompromisslos die Rangfolge seiner politischen Ziele immer wieder umgeworfen und neu sortiert - um den einen Mittelpunkt: das eigene Ich. Ein so egomanischer Politikstil lässt sich nur durchhalten, wenn er schwer lesbar bleibt."

Weitere Artikel: Constanze Kurz trauert den guten alten Hacker-Zeiten nach, als man - anders als heute - Geheimdiensten und Militärs gegenüber noch skeptisch war und sie nicht als potenzielle Arbeitgeber umschmeichelte. Oliver Tolmein liest den aktuellen Gesetzesentwurf zur Sterbehilfe, der allerdings vieles im Unklaren lasse. Nachdem chinesische Olympiasportler schon wegen Silbermedaillen ins Büßerkleid schlüpfen, ist in China eine Online-Debatte über "überzüchteten Leistungsehrgeiz" entflammt, berichtet Mark Siemons. Am Ende von Mike Tysons zweistündigem Theatermonolog am Broadway fühlt sich Jordan Mejias vom Boxer "k.o. geschwätzt". Andreas Rossmann schreibt den Nachruf auf den Übersetzer Hanns Grössel.

Besprochen werden die "La Bohème"-Aufführung bei den Salzburger Festspielen und Bücher, darunter Juli Zehs neuer Roman "Nullzeit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).