Heute in den Feuilletons

Durch Verkunstung entschärft

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2012. In der FAZ rufen Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nida-Rümelin dazu auf, die Parallelwelten des Finanzkapitalismus wieder in die Demokratie zu integrieren. David Grossman stellt sich zudem gegen einen israelischen Angriff auf Irans Atomanlagen. Die Welt trauert mit Jonathan Littell um die syrische Freiheitsbewegung, die auch vom Westen im Stich gelassen wurde. In der taz erinnert sich Ex-Mossadchef Zvi Samir an das Olympia-Attentat in München vor vierzig Jahren und die dilettantische Arbeit der Polizei. Die NZZ erzählt, wie die Chinesen über Tirana nach Paris kamen. Und in der FR träumt Arno Widmann noch einmal von Marilyn Monroe.

Welt, 04.08.2012

Auch wenn sich die Lage in Syrien bereits sehr verändert hat, preist Richard Herzinger in der Literarischen Welt Jonathan Littells Großreportage "Homs" nicht nur als sehr mutigen Journalismus, sondern auch als Liebeserklärung an die syrische Freiheitsbewegung: "Dieses geradezu elegisch anmutende Resümee lässt Littells Buch auch wie eine Manifestation der Trauer wirken - Trauer um einen flüchtigen Zustand originärer Selbstbestimmung, den sich die syrischen Aufständischen aus eigener Kraft erkämpft hatten, um einen offenen historischen Augenblick, in dem sie noch nicht wie heute in großem Stil aus Saudi-Arabien und Katar mit Waffen beliefert wurden, noch nicht in dem Maße zum Objekt interessierter äußerer Mächte und von Ideologien geworden waren. Littells Buch wirkt so auch wie eine Anklage an die freie Welt, diesen erhabenen Moment nicht erkannt und verpasst zu haben."

Wolf Lepenies freut sich über die Übersetzung von Antoine de Rivarols Schriften, den er für seine Sottisen ebenso schätzt wie als scharfsinnigen Psychologen und Kritiker der Revolution: "Er hasste die Revolutionäre und verachtete die Intellektuellen." Besprochen werden unter anderem auch Ben Brooks' Roman "Nachts werden wir erwachsen" und Tim Harfords Geschichte des Fortschritts "Trial and Error".

In der Kultur beklagt Dankwart Guratzsch den Verlust der Privatheit in den Städten, den er für viel gravierender hält als die allenthalben kritisierte Bedrohung des öffentlichen Raums. Andrea Backhaus geht mit der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun essen. Kai Luehrs-Kaiser schreibt zum plötzlichen Tod der Pianistin Mihaela Ursuleasa, die mit nur 33 Jahren an den Folgen einer Gehirnblutung starb.

TAZ, 04.08.2012

Ex-Mossadchef Zvi Samir erinnert sich im Gespräch mit Susanne Knaul an die Überforderung der deutschen Einsatzkräfte beim palästinensichen Olympia-Attentat vor vierzig Jahren in München. Insbesondere die Szenen beim schlampig geplanten Zugriff am Flughafen, bei denen er zur Untätigkeit gezwungen wurde, kann er bis heute nicht fassen: "Keiner hat sie verhaftet. Keiner hat geschossen. ... Warum hatten sie für die Scharfschützen keine Scheinwerfer aufgebaut, damit sie sehen können, wohin sie schießen!? Man konnte nichts sehen! Es war nichts vorbereitet. Wir saßen dort und durften uns nicht einmischen. Das war mir so fremd. Ich verstehe die deutsche Verfassung. Aber hier reden wir über Menschenleben. Ist das nicht wichtiger?"

Weitere Artikel: An den Entwürfen der Architekten scheinen die Finanzkrise und die daraus zu ziehenden Konsequenzen völlig abzuperlen, bemerkt Jörn Köppler, selbst Architekt, der sich mit dem ausweichenden und gesellschaftskonformistischen Charakter der zeitgenössischen Architektur nicht mehr zufrieden geben will. Andreas Behn besucht im brasilianischen Petrópolis die frischeröffnete Gedenkstätte "Casa Stefan Zweig", in der der Autor seine "Schachnovelle" schrieb. Regisseur Lars Kraume hält die Ku-Klux-Klan-Verwicklung deutscher Polizisten nicht für "Tatort"-würdig, verrät er Ines Kappert. Sarah Khan erinnert sich, wie St. Pauli war, als sie dorthin zog und wie es heute immer weniger ist. "Vegane Peitschen" aus dem "öko-feministischen Sexshop" hält der grillende Helmut Höge kaum für zumutbar.

Besprochen werden das neue Album von Micachu & the Shapes und Bücher, darunter Kevin Vennemanns Essay über den "Sunset Boulevard" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 04.08.2012

Zum 50. Todestag von Marilyn Monroe denkt Arno Widmann auf zwei Seiten über die Fotos und Körperbilder der größten Hollywood-Diva nach: "Aus Marilyn Monroe hätte keine Mae West werden können. Deren freche Klappe, deren Überlegenheit war nur erträglich, weil man ihren Körper nicht begehrte. Der von Marilyn Monroe entsprach - ganz gleich, wie wir heute darüber denken - so sehr den Männerträumen jener Jahre, dass er in Konventionen eingeschlossen, durch Verkunstung entschärft werden musste, um gesellschaftsfähig zu werden. Das wurde er dann freilich in einem einmaligen Ausmaß." Dazu ein verkunstet-begehrliches Video aus Monroes "Niagara" von 1953:



Anke Westphal lüftet für Times Mager Johnny Depps Erfolgsgeheimnis: "Je mehr Make-Up Johnny Depp nämlich trägt in seinen Filmen, desto erfolgreicher sind die an der Kasse." Sabine Vogel liest David van Reybroucks Geschichte des "Kongo". Auf der Medienseite berichtet Torsten Wahl von den Vorzügen der Olympia-Livestreams von ARD und ZDF gegenüber der arg gestutzten Berichterstattung in beider Sender regulärem Fernsehprogramm.

NZZ, 04.08.2012

Im Zusammenhang mit dem Kölner Beschneidungsurteil überlegt Jürgen Habermas, wie sich religiöse Anschauungen in den liberalen Diskurs säkularer Gesellschaften einbeziehen lassen: "Der liberale Staat (muss) den säkularen Bürgern nicht nur zumuten, religiöse Mitbürger, die ihnen in der politischen Öffentlichkeit begegnen, als Personen ernst zu nehmen. Er darf von ihnen sogar erwarten, dass sie nicht ausschließen, in den artikulierten Inhalten religiöser Stellungnahmen und Äußerungen gegebenenfalls eigene verdrängte Intuitionen wiederzuerkennen - also potenzielle Wahrheitsgehalte, die sich in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation einbringen lassen."

Wei Zhang vollzieht das sich wandelnde Europabild in China nach: "In den siebziger Jahren wuchs noch eine indoktrinierte Generation heran, die nicht im Geringsten daran zweifelte, dass das albanische Tirana die Hauptstadt Europas sei. Rumänische Spionagefilme galten damals als Inbegriff von europäischer Kultur. In den achtziger Jahren glaubte man noch, dass die Schätze des Louvre die bezeichnende gegenwärtige europäische Kunst und die Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts die zeitgenössische Literatur Europas repräsentierten."

Weiteres: Ronald D. Gerste sieht in der vor fünfzig Jahren gestorbenen Marilyn Monroe ein "erstes Opfer einer neuen Epoche des Umsturzes, der Gewalt und der Desillusionierung". Der Baseler Schriftsteller Alain Claude Sulzer betrachtet Rembrandts "Raub der Proserpina". Der Philosoph Ralf Konersmann fragt sich, weshalb sich der Westen mit dem Kulturbegriff so schwer tut, und kommt zum Ergebnis: weil uns das "Provisorium der Kultur" nicht "vollkommenheitstauglich" erscheint.

Marion Löhndorf berichtet von einer Shakespeare-Ausstellung im British Museum und einem internationalen Festival der Royal Shakespeare Company, die die Zeitgenossenschaft des Dichters erkunden. Comics "fordern eine zusätzliche Arbeit, die der Leser leisten muss, um dann aber auch doppelten Genuss zu haben", formuliert der Züricher Zeichner und Autor Hannes Binder in einer "kleinen Poetik der Graphic Novel". Besprochen werden Bücher, darunter Nina Bußmanns Romandebüt "Große Ferien" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 04.08.2012

Bei der vor ein paar Tagen vom BFI veröffentlichten Kritikerumfrage der besten Filme aller Zeiten ist ein kleiner Fehler unterlaufen. Sie haben die Frauen vergessen. Indiewire reicht die besten Filme aller Zeiten nach, die von Frauen gedreht wurden. An der Spitze steht Jane Campion mit "The Piano".

Douglas Coupland gibt sachdienliche Hinweise für angehende Autoren: "Most people never finish the books they start. I'm guessing 97 percent. So if you can just finish the damn thing, you're thousands of miles ahead of most other writers. So just finish it."
Stichwörter: Campion, Jane, Piano

SZ, 04.08.2012

Die Einschnitte in Griechenland gefährden nicht nur die Museen, sondern auch die archäologische Forschung im Land, berichtet Christiane Schlötzer. Tim Neshitov behauptet, Evgeny Nikitin hätte der New York Times bei seiner Beteuerung, kein Hakenkreuz-Tattoo mehr zu tragen, "dummerweise" die linke statt der inkriminierten rechten Brust vorgezeigt ("dummerweise" gibt es aber ein ganz schönes Durcheinander auf Nikitins Oberkörper, wie hier zu sehen). Beim Verbier Festival beobachtet Helmut Mauró wie ältere Künstler der Nachwuchsgeneration auf die Füße helfen. Niklas Hofmann schaut in Berlin Hobby- und Privat-Gentechnikern beim "Biofrickeln" über die Schulter. Harald Eggebrecht schreibt den Nachruf auf die Pianistin Mihaela Ursuleasa, Stephan Speicher den auf den Historiker John Keegan. Dokumentiert werden Auszüge aus Ina Hartwigs Laudatio auf Patrick Modiano, der vor einer Woche in Salzburg mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Century of the Child" im MoMA in New York, Paul McCarthys "The Box" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, eine Ausstellung im Musée d'Orsay in Paris über Misia, die in der Belle Epoque zahlreichen Künstlern den Kopf verdreht hat, Marc-Antoine Mathieus experimenteller Comic "3 Sekunden" und eine Zusammenstellung von Michael Althens FAZ-Kolumnen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende schildert Marc Beise seine Katerstimmung nach einstiger Euro-Euphorie. Rudolph Chimelli referiert die lange Geschichte der syrischen Stadt Aleppo, die über den Schatz einer "kaum veränderten altorientalischen Innenstadt" verfügt und bei den derzeitigen kämpferischen Auseinandersetzungen zerstört zu werden droht. Harald Hordych begibt sich in Neuengland auf Spurensuche nach der Shaker-Sekte, die im 19. Jahrhundert "eine soziale Utopie gelebt hat" und einen heute sehr begehrten, spezifischen Möbelstil hinterlassen hat. Kerstin Holzer plaudert mit dem Schriftsteller Andreas Altmann, der sein Leben ohne "profilneurosenverpickelten Chef" und Bausparvertrag sichtlich genießt. Abgedruckt sind zudem Auszüge aus Charles d'Ambrosios Geschichte "Drummond & Sohn".

FAZ, 04.08.2012

Unter dem Titel "Einspruch gegen die Fassadendemokratie" ist ein programmatischer Aufsatz abgedruckt, in dem Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin die SPD beraten, wie das "Unwesen des gespenstischen Paralleluniversums" der Finanzwirtschaft in den Griff zu kriegen ist. Sie empfehlen eine stärkeren Beteiligung der Bürger: "Das weit verbreitete Gefühl verletzter Gerechtigkeit erklärt sich daraus, dass anonyme Marktprozesse in der Wahrnehmung der Bürger eine unmittelbar politische Dimension angenommen haben. Dieses Gefühl verbindet sich mit der verhaltenen oder offenen Wut über die eigene Ohnmacht. Dem sollte eine auf Selbstermächtigung abzielende Politik entgegentreten."

Der israelische Schriftsteller David Grossman artikuliert die Angst vieler Israelis vor einem Angriff auf Iran und ruft sie dazu auf, sich offen gegen einen Angriffskrieg auszusprechen: "Es gibt Leute, (…) die der Überzeugung sind, dass ein israelischer Angriff Iran auf dem Weg zur Nuklearmacht nur um ein kleines Stück zurückwerfen wird. Sie fürchten die schwerwiegenden Konsequenzen, die solch ein Angriff für Israels Lage haben wird, für sein schieres Überleben. Warum stehen sie nicht gerade jetzt auf, wo es noch möglich ist, und sagen: Wir teilen diese megalomanische Vision, diese messianisch-katastrophische Weltsicht nicht?"

Weiteres: Jürgen Dollase denkt über den Interpretationsspielraum beim Essen nach. Thomas Hunter berichtet von einem Junggesellenabschied in Prag. Andreas Kilb schreibt einen Nachruf auf den englischen Militärhistoriker John Keegan. Besprochen werden eine Hörspielversion von Edlef Köppens Kriegsroman "Heeresbericht" und Bücher, darunter Norbert Zähringers neuer Roman "Bis zum Ende der Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten ist eine gekürzte Fassung des Nachworts abgedruckt, das die Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe zu Alexander Nitzbergs demnächst im Galiani Verlag erscheinender Neuübersetzung von Michail Bulgakows Roman "Meister und Margarita" verfasst hat. Renate Klett stellt die südafrikanische Handspring Puppet Company und ihre Gründer Adrian Kohler und Basil Jones vor, "vermutlich die einzigen Puppenspieler der Welt, denen für ihre Arbeit ein Ehrendoktor der Philosophie verliehen wurde." Bernd Noack informiert, dass der "Goldene Saal" in Albert Speers monumentaler Prachtanlage auf dem Nürnberger Zeppelinfeld wieder besichtigt werden kann. Besprochen wird das Album "Election Special", mit dem sich der amerikanische Gitarrist Ry Cooder in den Wahlkampf einschaltet (und beweist, dass er "im kleinen Finger, der die Bottleneck so geläufig und gefühlvoll auf und ab bewegt, mehr Wut hat als Michael Moore und alle anderen Krakeeler zusammen", wie Edo Reents konstatiert). Im Interview, für das Hannes Hintermeier die Autorin und Übersetzerin Eva Hesse in ihrem Münchner Altenheim besucht, spricht sie über ihren Briefwechsel mit Ezra Pound.

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty vor:

"Die Maynacht

Wenn der silberne Mond durch die Gesträuche blickt,
Und sein schlummerndes Licht über den Rasen geußt,
Und die Nachtigall flötet,
Wandl' ich traurig von Busch zu Busch.
..."