Heute in den Feuilletons

Skrupel haben sie keine

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15.08.2012. Nur Dichter interessieren sich nicht für Copyright, seufzt Tim Parks in der New York Review of Books. Deutsche Verlage lassen ihre Bestseller am liebsten vom eigenen Personal oder befreundeten Journalisten schreiben, notiert die Welt anlässlich der Affäre Steinfeld/Schirrmacher. In The Awl erklärt Marina Abramovic, warum Besucher in ihrem neuen Performance-Institut sechs Stunden in einen Rollstuhl geschnallt werden. In der FAZ erklärt Hubertus Knabe, warum Folteropfer in Tunesien keine Chance auf ein Ermittlungsverfahren haben. Laut Meedia und Stefan Niggemeier knickt das Bundesjustizministierum in Sachen Leistungsschutz gegenüber den Verlagen nun doch wieder ein.

Aus den Blogs, 15.08.2012

Man kann einiges gegen ein Copyright sagen, meint ein melancholisch gestimmter Tim Parks im Blog der New York Review of Books. Zum Beispiel, dass es "bei Autoren eine bourgeoise Lebenseinstellung fördert, wo Schreiben ein Job mit Einkommen ist ... Copyright hält den Autor in der Polis, und es ist doch wirklich bemerkenswert, wie selten kreatives Schreiben heute wahrhaft revolutionär ist". Und genau deshalb wird das Copyright wohl auch im digitalen Zeitalter überleben, meint Parks: Weil wir am liebsten Bücher lesen, die ohne Copyright nicht geschrieben würden, Harry Potter oder die Millenium-Trilogie. "Die Forderung nach einem Copyright folgt nicht notwendig aus Überlegungen zu Gerechtigkeit oder Theorien über Eigentum, sondern aus der Vorliebe einer Kultur für bestimmte literarische Formen. Wenn die Menschen nur Gedichte lesen würden - an deren Produktion man Dichter nie hindern kann, selbst wenn man ihnen nichts bezahlt - dann würden die Copyrightgesetze im Nu verschwinden."

Meedia meldet, dass das Bundesjustiziministerium einen dritten Entwurf für ein Leistungsschutzrecht vorbereitet und damit den Presseverlegern wieder entgegenkommt, indem es News-Aggregatoren wieder mit als Gebührenzahler aufnimmt. "News-Aggregatoren, die sie namentlich nicht nannten, müssten ausdrücklich in dem Gesetzestext erfasst werden."

Stefan Niggemeier sieht in seinem Blog, die Art und Weise, wie die deutschen Zeitungsverlage politischen Druck machen, um sich durch ein Leistungsschutzrecht unbillige Vorteile zu verschaffen als ein "Lehrstück: Dafür, wie die führenden deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage ein politisches Klima herstellten, in dem ein solches Gesetz notwendig erschien, und wie sie ihre publizistische Macht dazu benutzten, ihre politische Lobbyarbeit zu unterstützen." Niggemeier verweist auf Christopher Buschows Studie "Strategische Institutionalisierung durch Medienorganisationen", in der die Geschichte des Versagens der Öffentlichkeit im Namen der Verlegerinteressen ausführlich beleuchtet wird, und erstellt hieraus eine höchst nützliche Chronik unablässiger Lobbyarbeit.

FR/Berliner, 15.08.2012

"Heulen und brechen zugleich" möchte Jens Balzer angesichts der eingestampften Pläne des Berliner Großveranstaltungsortes Berghain, den anliegenden, noch leerstehenden Kubus zu einer neuen subkulturellen Spielstätte auszubauen. Verantwortlich dafür macht Balzer zum einen die drastischen Gema-Abgabenerhöhungen ab Januar, zum anderen eine willkürliche Steuerpolitik: "Kein Steuerzahler muss für das Berghain aufkommen - aber sind die Betreiber im Unrecht, wenn sie sich wünschen, dass sich nicht alle paar Wochen irgendwer neue Steuern und Abgaben für sie ausdenkt? Man muss ihnen für die Kultur, die sie stiften, nicht danken. Es wäre viel wert, wenn man sie einfach in Ruhe arbeiten lässt."

"Fast lückenlos" konnte Richard Kämmerlings gestern in der Welt nachweisen, dass der Autor Per Johansson ein Pseudonym für Thomas Steinfeld ist, meint Harald Jähner. "Per Johansson" lässt in seinem Krimi "Stormen" einen Journalisten ermorden, der unverkennbar Ähnlichkeit mit Frank Schirrmacher hat. Georg Seeßlen jedenfalls hatte Recht, meint Jähner: Der "hat kürzlich den Zustand des deutschen Feuilletons beklagt. Es achte weniger darauf, was in der Welt los ist, als darauf, was die Konkurrenz mache. In einem hat er scheinbar Recht: 'Was im Feuilleton landet, ist so gut wie tot.'"

Weitere Artikel: Mathias Schnitzler fragt sich, ob Philipp Gesslers Enthüllungen in der taz über den dubiosen Ursprung des sich in der BRD stets linksliberal gebenden Luchterhand Verlags (hier dessen Reaktion darauf), der in der NS-Zeit von der Enteignung einer Druckerei profitierte, "so überraschend kam". Der Historiker Hannes Heer erläutert im Gespräch mit Irmgard Berner seine Forschungsarbeit in den Wagner-Archiven in Bayreuth. In den USA werden "bei der Authentifizierung von Kunstwerken immer häufiger die Exerten von den Juristen überstimmt", bemerkt Sebastian Moll mit sorgenvollem Blick.

Welt, 15.08.2012

Elmar Krekeler sieht die Affäre um den Schlüsselroman "Der Sturm" als Symptom für eine Tendenz im Verlags- und Medienwesen: Lektoren schreiben ihre Bestseller am liebsten gleich selbst - oder sie bitten befreundete Journalisten, die im übrigen über ihre Netzwerke auch für gute Besprechungen sorgen können: "Man spart sich die Reisen, spart sich die Übersetzer, spart sich die Zeit fürs Scouten und Lektorieren und ruft seine Kumpels in den Zeitungen und den Verlagen an. Die können leidlich bis brillant, vor allem aber zielgruppen- und marktorientiert und schnell schreiben. Und pflegeleicht sind sie, Skrupel haben sie keine, sie arbeiten ja schließlich nicht unter Klarnamen. " Nebenbei wird berichtet, dass Frank Schirrmacher auf Nachfrage nur bemerkte, er lese keine Schweden-Krimis, womit er schon mal einen besseren Geschmack beweist als Thomas Steinfeld.

In der Glosse schreibt Ekkehard Kern über das Zerwürfnis zwischen dem bekannten Sportjournalisten Jens Weinreich und dem Deutschlandfunk. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem Regissuer Fernando Meirelles über seinen Film "360". Alan Poseners Kolumne handelt vom Schulanfang. Und Manuel Brug wirft einen Blick auf den beginnenden "Tanz im August" in Berlin.

Spiegel Online, 15.08.2012

Eine Sprecherin des Südwestdeutschen Medienholding wollte sich gegenüber Sebastian Hammelehle von Spiegel Online nicht zu der Frage äußern, ob SZ-Redakteur Thomas Steinfeld unter Pseudonym einen Schlüsselroman über Frank Schirrmacher geschrieben hat. Dies sei "keine Angelegenheit der Süddeutschen Zeitung. "Diese Einschätzung könnte sich allerdings dann als falsch erweisen", kommentiert Hammelehle, "wenn aus dem Fall 'Sturm' tatsächlich ein Fall Steinfeld würde und somit eine Angelegenheit seines Arbeitgebers. Könnte es sich die Süddeutsche Zeitung erlauben, dass einer ihrer leitenden Redakteure einen FAZ-Herausgeber in derartiger Form angreift? Oder wird hier ein völlig Unschuldiger zu Unrecht verdächtigt?"

Weitere Medien, 15.08.2012

In The Awl beschreibt Mark Allen die erste Besichtigung eines Gebäudes in Hudson bei New York, das 2014 Marina Abramovics Institute for the Preservation of Performance Art beherbergen soll. Die Künstlerin hat es satt, das Publikum in zehn Minuten durch Galerien rennen zu sehen. Die Leute sollen gefälligst Zeit mitbringen, und Abramovic wird dafür sorgen, dass sie es in ihrem Institut tun: "'First, you will sign a contract that says you must stay for six hours, regardless if there are events scheduled for the entire time or not,' she began. 'Then you will surrender your Blackberry, your iPhone, your watch, your computer… anything that reminds you of time. Then you will be given a white lab coat, because you have become an experimenter. You will also be given sound-cancelling headphones which you can wear when you like.' But that wasn't all. 'You will have an attendant that will move you from room to room. You will be sitting inside a futuristic wheelchair that I'm creating specifically for the institute with designers and architects. It will be designed to have hot food contained in one arm, cold food inside another, and a place for liquids to drink. You will never have to get out of the chair unless you need to. The attendant will take you where you want. Even if you fall asleep - which people might after a 6- or 24-hour performance - you will dream of the performance because you will have in a sense not left it. This is all designed for long-duration experience.'" Tito wäre so stolz auf sie!

NZZ, 15.08.2012

In einer ganzen Reihe von Musikwettbewerben haben koreanische Musiker die Preise unter sich aufgeteilt. Wie Ho Nam Seelmann erzählt, hat der "koreanische Erdrutsch" nicht nur für die westliche Klassikszene Folgen: "Sowohl die Politik als auch private Institutionen in Südkorea haben erst vor kurzem Bemühungen verstärkt, das eigene musikalische Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln. Eine große Bereicherung des kulturellen Lebens bedeutet es dennoch, dass in Korea heute beide Musiktraditionen auf hohem Niveau gepflegt werden. Lange bestanden sie bloß nebeneinander, ohne sich viel zu vermischen, wie die strikte Trennung der Fachbereiche innerhalb der universitären Ausbildung zeigt."

Weiteres: Hans-Christoph Zimmermann blickt auf die Ruhrtriennale voraus, die Heiner Goebbels mit einem Schwerpunkt auf Tanz und Performance leiten wird. Besprochen werden Rolf Hosfelds Tucholsky-Biografie und Fritz Trümpis Studie über die Philharmoniker im Nationalsozialismus "Politisierte Orchester" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 15.08.2012

Andreas Busche erlebt im mit "erzählerischer Umsicht" gestalteten "We need to talk about Kevin", dem neuen Film mit Tilda Swinton, wie die "Metapyhsik des Horrorfilms [am Ende] doch über den Biologismus des Familiendramas zu triumphieren" scheint. Christian Werthschulte ist ganz beglückt von den wiederaufgelegten ersten drei Soloalben von Van Dyke Parks. In Norwegen diskutiert man über eine Studie, derzufolge Breiviks Doppelanschlag vor einem Jahr verhindert hätte werden können, berichtet Reinhard Wolff. Steffen Grimberg porträtiert Friede Springer zu deren 70. Geburtstag.

Und Tom.

SZ, 15.08.2012

Die Bayern feiern heute Mariä Himmelfahrt, wozu wir herzlich gratulieren.

Im Gespräch mit Matthias Kolb, nur auf SZ-Online, wartet Hans-Ulrich Gumbrecht mit ein paar Paradoxa über Amerika auf, die in Deutschland schwer zu verstehen sind. Zum Beispiel war Condoleezza Rice Republikanerin, weil das die Partei Abraham Lincolns war: "Einer ihrer Vorfahren ist unter Lincoln aus der Sklaverei entlassen worden und deswegen war ihr Vater bei der Grand Old Party. Condis Vater war zugleich ein Duzfreund von Stokely Carmichael, dem Anführer der schwarzen Protestbewegung. Was beide vereint hat: Sie waren gegen weapon control. Condis Vater wusste, dass er im Alabama der sechziger Jahre seine Frau und seine einzige Tochter nur mit einem Gewehr gegen Rassisten schützen kann."

FAZ, 15.08.2012

Hubertus Knabe von der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen besuchte eine Konferenz in Tunesien, in der Folteropfer über das gestürzte Unrechtsregime berichteten. Viele Islamisten der jetzt regierenden Ennahda-Partei gehörten zu den Drangsalierten. Nun gibt es Gerüchte, dass diese Partei die Opfer mit Geld entschädigen will, wovon sie also selbst profitieren würde, während eine moralisch-historische Aufarbeitung unterbleibt - auf die Knabe besteht: "Fast beschwörend nannten die Opfer auf der Tagung die Namen ihrer Peiniger und verlangten, dass Ermittlungen gegen sie eingeleitet werden. Doch die personell wenig veränderte Justiz hat, ob aus Angst vor Gegenreaktionen oder aus Loyalität zum alten Apparat, bislang niemanden vor Gericht gestellt, so dass bei den Verantwortlichen auch kein Unrechtsbewusstsein entstehen kann."

Weitere Artikel: Der britische Politologe Colin Crouch plädiert für Euro und Europa und scheint sogar die Hoffnung zu hegen, dass die Briten nicht nur in der EU bleiben, um sie von innen heraus zu boykottieren. Andreas Platthaus porträtiert die deutsch-polnische Autorin Sabrina Janesch, die über Danzig schreibt. Sabine Frommel bescheibt die Vorbereitungen der Stadt Marseille auf das kommende Kulturhaupstadtjahr.

Besprochen werden der Film "We Nee to Talk about Kevin" mit Tilda Swinton, Konzerte in Salzburg und Bücher, darunter Alfred Brendels "A bis Z eines Pianisten" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).